Wie mit Schulverweigerung umgehen?

Hallo,

mein Sohn ist 8,5 Jahre alt, hat ADS und Depressionen und verweigert nun auf der 3. (4. Schule, wenn man die Klinikschule mitzählt) Schule wieder.

Erste Klasse Regelschule, Klinik, danach Montessorischule. Dort nicht mitgemacht und nur Streit mit Klassenkameraden. Jetzt wiederholt er gerade die 2. Klasse auf der Förderschule.

Er kriegt nichts mit, gerät schnell in Streitigkeiten und ist außer beim Lesen schlecht in der Schule bei einem weit überdurchschnittlichen IQ.

Die Hälfte der Schulzeit hatte er Bauchweh und sich geweigert, zu gehen. Wenn ich ihn mit Gewalt hingebracht habe, hat er sich dort übergeben.

Nach 3 Wochen Förderschule, in denen es ihm eigentlich sehr gut gefallen hat, geht es schon wieder los mit Bauchweh, heute musste ich ihn das erste Mal wieder abholen.

Bin mit meinen Nerven echt am Ende. Er nimmt Ritalin LA, das er sehr schlecht verträgt, hat Sehstörungen und Orientierungsprobleme, leicht apathisch in der geringsten Dosierung.

Ich würde mich über Tipps freuen, vielen Dank!

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Hallo sumatrabarbin,

das hört sich nach einer schwierigen Situation an, die im Rahmen eines solchen Forums wohl kaum angemessen zu behandeln ist. Dennoch will ich einige allgemeine Faktoren nennen, die ein solches Verhalten begünstigen können, und andere, die eher weniger mit dem Problem zu tun haben. Bitte lesen Sie folgenden Ausführungen nicht als Kritik – zumal ich Ihre und die Geschichte Ihres Kindes nur aus den wenigen Angaben Ihrer Nachricht kenne –, sondern als allgemeinen Hinweis auf Faktoren der Schulverweigerung, die auch für andere Leser im Forum von Interesse sein können.

Lassen Sie mich mit Ihrem Hinweis auf die Begabung beginnen, da in diesem Bereich falsche laienpsychologische Annahmen sehr häufig sind. Eine weit überdurchschnittliche Begabung (Hochbegabung) stellt per se kein Problem für die „Betroffenen“ dar. Wie nicht zuletzt das weltweit beispielshafte Marburger Hochbegabtenprojekt (auch Rost-Studie genannt) ergeben hat, ist Intelligenz kein Risikofaktor, sondern schützt vielmehr vor Schulversagen und sozialem Scheitern. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass die intellektuelle Begabung einen Einfluss auf die Haltung eines Kindes zum Schulbesuch hat, zumal einen negativen Einfluss.

Psychologisch gesehen gibt es mehrere Gründe für Schulverweigerung, die meist in unterschiedlicher Gewichtung zusammenwirken:

Zum einen ist die individuelle Akzeptanz von Gruppen und sozialen Anforderungen eine erworbene Fertigkeit. Kinder müssen lernen, sich in die Gemeinschaft mit anderen einzufügen, ihr Verhalten an gesellschaftliche Vorgaben anzupassen und ein gutes Mittelmaß zwischen Forderung und Verzicht, Eigenwilligkeit und Einfühlungsvermögen, Anspruch und Anpassung zu finden. Früher lernten Kinder dies unter oft harten Bedingungen in Großfamilie und Schule. Die heute nicht selten exklusive Zuwendung in der Familie, offene Strukturen in Kindergarten und Schule, das bisweilen bedingungslos anmutende Eingehen auf die Eigentümlichkeit von Kindern im Kontext von Förderung und Therapie haben durchaus viele positive Aspekte. Sie verstellen manchmal jedoch den Blick von Eltern und Kindern auf die unbedingte Notwendigkeit einer frühen Anpassung an das Leben in der Gemeinschaft, in der Rechte und Pflichten aller sich die Waage halten müssen.

Schulverweigerung ist in diesem Zusammenhang nicht selten die späte Konsequenz eines Umgangs mit Kindern, der diesen bereits in frühen Kinderjahren den sich sukzessive verfestigenden Eindruck vermittelt, sie selbst könnten alleine darüber bestimmen, wann sie mit wem was tun oder lassen. So wichtig es ist, auf die Wünsche der Kinder zu hören, so entscheidend ist es für eine gelingende Erziehung in der Gemeinschaft (und die Schule gehört zu den unausweichlichen Momenten der Gemeinschaft in unserer Gesellschaft), Kindern klar zu machen, dass bestimmte Verhaltensweisen alternativlos sind. Daher müssen Kinder lernen, Vorgaben und Forderungen von Erwachsenen zu akzeptieren, nachgerade auch Vorgaben, welche das Verhalten in der Gruppe betreffen. Im Kleinkindalter ist das z.B. das gemeinsame Essen unter Einhaltung von Regeln; im Kindesalter sind es der Besuch eines Kindergartens, in Gemeinschaft mit anderen zu warten oder Rücksicht zu nehmen; im Schulalter ist es die Bereitschaft, sich mit den Erwartungen und Ansprüchen der Eltern und Lehrer auseinanderzusetzen und sich um deren Erfüllung zu bemühen.

Gelingt diese Anpassung in den entsprechenden Entwicklungsphasen nicht, müssen manche Kinder später schmerzhaft lernen, dass die Gemeinschaft allzu große Abweichungen von ihren Normen nicht akzeptiert. Daher macht es Sinn, den Zwang zu einem Mindestmaß an Anpassung nicht zu lange aufzuschieben, da sich die Verweigerungshaltung als eine Grundform der Selbstbehauptung ansonsten verfestigt. Ein Kind, das bei Tisch kommen und gehen kann, wann es will, das nur die selbstbestimmte Gemeinschaft mit anderen toleriert sowie mit Aggression und psychosomatischen Beschwerden seine Umgebung zu konditionieren gewohnt ist, lernt, dass Verweigerung funktioniert. Diese Haltung zu ändern, wenn es erst einmal zu emotionalen Durchbrüchen, Erbrechen oder später vielleicht selbstverletzendem Verhalten kommt, ist leider sehr schwer.

Im Zusammenhang mit der Gewöhnung der Kinder an die Macht der Verweigerung wächst fatalerweise die Neigung zur Vermeidung. Situationen, in denen man sich anstrengen muss, in welchen man den Erwartungen anderer sowie dem sozialen Vergleich ausgesetzt ist, die das Risiko der Kritik durch andere sowie des subjektiven Versagens erkennen lassen, werden gemieden. Da vor allem jüngere Kinder v.a. im Wettbewerb mit Gleichaltrigen sowie durch die Nachahmung von Erwachsenen lernen, wirkt sich eine erworbene Vermeidungshaltung negativ auf das Lern- und Leistungsvermögen aus. Hier beginnt eine fatale Spirale von „ich will nicht“ – „ich kann nicht“ – „man kann mich nicht zwingen“, die selbst sehr gut begabte Kinder innerhalb kurzer Zeit aus einem regelhaften Entwicklungsverlauf herausschleudert. Das aber wird von den Kindern meist als reales Versagen wahrgenommen, nährt wiederum die Versagensängste und begünstigt eine weitere Selbstausgrenzung und Vermeidung.

Zum anderen kann es in der konkreten Schulsituation freilich reale (allgemein gültige) wie auch für das einzelne Kind subjektiv bedeutsame Gründe geben, warum es nicht in die Schule gehen will. Dazu zählen angstmachende Umstände wie ein ungutes Klassen- und Lernklima, Ablehnung durch Lehrer und/oder Mitschüler, Überforderung und spezifische Befürchtungen sowie falsche Erwartungen von Lehrern, Eltern und des Kindes selbst. Solche nachvollziehbaren Gründe für eine Schulverweigerung müssen erkundet und nach Möglichkeit beseitigt werden. Psychopathologische Dispositionen wie autistische Wahrnehmungs- und Verhaltensstrukturen, Phobien, allgemeine Ängste oder klinisch bedeutsame Zwänge sind als Gründe für eine Schulverweigerung hingegen eher selten, sollten jedoch in schweren Fällen erwogen und eingehend geprüft werden.

Im Fall Ihres Sohnes würde ich, wenn ansonsten nichts anderes mehr hilft, zumal nach mehreren Schulwechseln einschließlich Klinikschule und anhaltenden psychosomatischen Beschwerden, erwägen, im Rahmen eines längeren stationären Klinikaufenthalts zum einen eine erneute umfassende medizinische und psychologische Abklärung vornehmen zu lassen, zum anderen einen regelmäßigen Schulbesuch im Klinikrahmen aufzubauen, in dem auch die Somatisierungstendenzen (Erbrechen o.ä.) angegangen werden können. Vor dem Hintergrund der von Ihnen beschriebenen Symptomatik wie auch der Medikamentenwirkung würde ich dabei in Kooperation mit diesbezüglich qualifizierten Ärzten die Bereiche von Autismus und Zwangsstörung berücksichtigen, was u.U. eine Änderung der Medikation in Richtung bestimmter Antidepressiva (SSRI) nahelegt. Da ich kein Arzt bin, schreibe ich dies als erfahrener Psychologe; die einschlägige Diagnostik und medikamentöse Behandlung müssen hingegen durch Fachärzte vorgenommen werden.

Wiewohl die Gestaltung des Schulalltags in eher freien Schulformen wie Montessori oder Waldorf sehr variiert, sind diese aufgrund des meist höheren Anspruchs an das Selbststeuerungsvermögen der Schüler im Fall von impulsivem, unaufmerksamem und vermeidendem Verhalten eher nicht geeignet, einen lern- und leistungsförderlichen verbindlichen Rahmen für „schwierige“ Schüler zu schaffen. Sinnvoller erscheinen da Schulen zur emotionalen und sozialen Förderung mit kleiner Schülerzahl und zweiter Lehrkraft.

Wirklich raten und helfen können in Ihrem Fall alleine Fachleute aus dem Bereich der Psychologie und Psychiatrie nach eingehender Anamnese und Untersuchung Ihres Kindes. Sofern Sie sich diesbezüglich nicht bereits gut beraten fühlen, wenden Sie sich an Selbsthilfegruppen für ADHS und/oder Autismus, um erfahrene Ärzte und Kliniken zu erfragen.

Ich hoffe, dass diese langen Ausführungen Ihnen ein bisschen weiterhelfen, das Problem Ihres Kindes besser einzuordnen und an geeigneter Stelle um Hilfe nachzusuchen. Viel Erfolg dabei und alles Gute für Sie und Ihr Kind!

Viele Grüße, Johannes Streif

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Hallo Herr Streif,

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort. Das Problem ist, dass wir ja schon sämtliche Hilfen und Therapien in Anspruch nehmen (seit Mai auch eine HPT) und trotzdem nicht so recht weiterkommen.

Die stationäre Therapie steht natürlich im Raum, wenn es jetzt so weitergeht, ich habe halt immer noch auf eine ambulante Lösung gehofft.

Mir ist klar, dass es durch Scheidung, schwerer Krankheit und Wiederverheiratung meinerseits die Erziehung nicht immer optimal gelaufen ist. Mein Sohn ist ausserdem ein Einzelkind, was ich für ihn auf jeden Fall nachteilig empfinde.

Von Krippe und Kindergarten habe ich aber keine negativen Rückmeldungen bekommen, er ist immer gerne hingegangen.

Ich habe ausserdem immer versucht, Prioritäten zu setzen. Er hat halt für alles immer so ewig gebraucht und konnte vieles einfach noch nicht, wie z. B. selber anziehen klappt erst seit diesem Jahr. Inzwischen isst er sogar alleine, das ist ein großer Fortschritt. Vorher hat er nur zwei Bissen gegessen und dann vergessen, weiterzuessen.

Mit dem Psychiater hatte ich schon mehrfach besprochen, dass Methylphenidat zwar gute Wirkungen hat, aber nicht optimal ist. Ich habe auch das Gefühl, dass die Schilddrüsenmedikamente dadurch nicht richtig wirken.

Leider bin ich kein Experte. Ich hätte mir auf Grund der Medikamentenschulung, die ich bei dem Arzt besucht habe, Strattera gewünscht, kennen Sie das?

Bei SSRIs bin ich auf Grund eigener Erfahrungen und der sehr heftigen Nebenwirkungen (bei mir) skeptisch, mit welchen Medikamenten werden denn bei Kindern gute Erfahrungen bei Depressionen gemacht?

Vielen Dank und viele Grüße,
sumatrabarbin.