Folgenreicher Mangel

Sind unsere Kinder zu verwöhnt?

Pädagogen glauben, dass unsere Kinder heute auf breiter Front zu sehr verwöhnt werden. Dies mache sie in vielerlei Hinsicht lebensuntüchtig. Bei genauem Hinsehen verbirgt sich hinter Verwöhnung ein folgenreicher Mangel.

Autor: Petra Fleckenstein

Verwöhnte Kinder sind unbeliebt

Zwei Schwestern gelangweilt
Foto: © panthermedia.net/ Franck Camhi

75 Prozent der Deutschen glauben, dass wir auf dem Weg in eine Gesellschaft von Egoisten sind und dies vor allem dadurch, dass Eltern ihre Kinder zu sehr verwöhnen. So lautete das Ergebnis einer Umfrage, die das Magazin "Familie&Co" in Auftrag gegeben hatte. Auch zahlreiche Titel von Erziehungsratgebern wie "Die Verwöhnungsfalle" oder "Die Droge Verwöhnung" diagnostizieren einen Notstand, den es dringend zu beheben gilt. Dabei birgt der Begriff "Verwöhnen" sehr viele Facetten, die auch zu Verwirrung und Missverständnissen führen können. Häufig wird er durchaus positiv gebraucht, in der Werbung zum Beispiel: "Lassen Sie sich verwöhnen", lockt da vor allem der Anbieter von Wellness-Anwendungen, und wie man an der Häufigkeit dieser Art Werbeslogans ablesen kann, steckt dahinter offenbar ein tiefes Bedürfnis unserer Gesellschaft – sich mal wieder verwöhnen lassen, nicht ständig funkionieren müssen, mal nicht aktiv, initiativ und durchsetzungsfähig sein müssen, sondern einfach, ja, verwöhnt werden – wunderbar!

Als Charakterisierung eines Kindes gebraucht, weckt das Adjektiv "verwöhnt" allerdings vor allem Ablehnung, Antipathie und Aggression. Ein verwöhntes Kind ist selten beliebt, und das, obwohl hinter Verwöhnung doch ein guter Wille der Eltern vermutet wird, einfach ein Zuviel des Guten, vor allem im materiellen Bereich. Ein Zuviel von etwas Gutem ist Verwöhnung jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung. Sieht man sich einmal an, warum Eltern verwöhnen und in welchen Bereichen sie es tun, so zeigt sich, dass Verwöhnung eher einen Mangel aufzeigt: "Verwöhnung ist eine Form der Vernachlässigung", sagt Jürgen F. Detering, Pädagoge, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche und Psychoanalytiker, "es ist ein Zuwenig an Auseinandersetzung, an Anleitung, an Förderung, Forderung und ein Zuwenig an kritischem Hinterfragen."

Was verwöhnten Kindern fehlt

Wenn einem Kind jeder materielle Wunsch erfüllt wird, so verbirgt sich dahinter ein Zuwenig an kritischer Auseinandersetzung der Mutter oder des Vaters mit Konsum, ein Zuwenig an Schutz vor der Überbewertung von Dingen, ein Zuwenig an Mut, Nein zu sagen und den Protest des Kindes auszuhalten. Wenn einem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden und es keine Pflichten übernehmen muss, so steckt dahinter auf der Elternseite ein Zuwenig an Bereitschaft, Konflikte (zum Beispiel ums Aufräumen) auszutragen, ein Mangel an Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes, und ein Mangel an Anleitung und Zeit, die es kostet, einem Kind dabei zu helfen, Aufgaben des Alltags selbst zu bewältigen.

Besonders der aus Wien stammende Psychiater und Therapeut Rudolf Dreikurs, einer der Autoren des Erziehungsklassikers "Kinder fordern uns heraus", hat auf die Entmutigung hingewiesen, die es bedeutet, Kindern Dinge abzunehmen, die sie bereits – bei etwas Anleitung durch die Eltern – selbst tun könnten, da sie auf diese Weise der Gelegenheit beraubt werden, ihre eigene Stärke zu erleben. Dreikurs war es auch, der wie sein Lehrer Alfred Adler den tiefen Wunsch eines jeden Kindes betonte, in der Familie seinen Platz zu finden, dazuzugehören und daher auch Aufgaben zu übernehmen, die im Familienalltag von Bedeutung sind. Kinder müssen also nach Dreikurs nicht gegen ihren Willen gezwungen werden, nützliche Aufgaben zu übernehmen, sie sehnen sich in Wahrheit danach, ein vollwertiges und ernst zu nehmendes Familienmitglied zu werden.

Die verschiedenen Verwöhnkonzepte – warum Eltern verwöhnen

Jürgen F. Detering unterscheidet folgende Formen von Verwöhnung:

Verwöhnen ist ...

  • Ausstattung mit zu vielen materiellen Gütern, Süßigkeiten etc.
  • Gewährung von Ausnahmen zu Regeln und Ordnungen, die "eigentlich" gelten sollten.
  • Gewährung von unnötigen Hilfen bei Handlungen, die das Kind bei eigener Bemühung selbst durchführen oder schon erlernen kann.
  • Befreiung des Kindes von Pflichten, Aufgaben, Mitarbeit, die "eigentlich" in der Familie vom Kind zu leisten wären.
  • Entlastung des Kindes von Mitverantwortung in seiner Familie.

Hinter all diesen Formen von Verwöhnung steckt, wie bereits erwähnt, ein Mangel an Anleitung, Zeit, an Auseinandersetzung mit dem Kind. Wie aber kommt es, dass Eltern, die guten Willens sind und das Beste für ihre Kinder wollen (und das wollen doch alle Eltern), ihre Kinder auf diese Art vernachlässigen? Aus Bequemlichkeit, aus Angst vor Konflikten, aus Überlastung, aus Angst, zu streng zu sein, aus schlechtem Gewissen?

"Die Verantwortung, die heute auf Eltern lastet, ist riesengroß", sagt Jürgen F. Detering. "Eine Gesellschaft, die große individuelle Freiheit gewährt, verlangt, dass man ständig prüft und auswählt." Dies gilt nicht nur für die Auswahl der Spielsachen und die Entscheidung, welchem der materiellen Wünsche des Kindes nachgegeben und welcher nicht erfüllt oder aufgeschoben wird, sondern auch für die Qual der Wahl bei der eigenen Erziehungsmethode. Wo autoritäre Konzepte von Zucht und Ordnung ausgedient haben, haben Eltern eine größere Freiheit und weniger Orientierung bei der Frage, wozu sie ihr Kind eigentlich erziehen möchten, was ihnen wichtig ist, welche Grenzen sie setzen und wo sie gewähren lassen.

Sicherlich sind die hohen Anforderungen, vor denen Eltern heute stehen, nicht zu vergessen, wenn man den Hintergrund ihrer Verwöhnhaltung betrachet. Es ist jedoch auch wichtig zu sehen, dass Verwöhnung zwar unter dem Deckmantel der Zuwendung zum Kind auftritt, in Wahrheit aber eher Bedürfnisse von Eltern befriedigt. Eltern räumen die Spielsachen ihrer Kinder auf, weil sie sich Harmonie wünschen und einen Konflikt ums Aufräumen vermeiden wollen. Sie binden schnell die Schnürsenkel ihres siebenjährigen Kindes, weil sie es eilig haben, zu einem Termin zu kommen und keine Zeit bleibt, die eigenen Versuche des Kindes zuzulassen. Sie fahren es auch noch mit acht Jahren zur Schule und zu jeder Verabredung, weil sie ein übergroßes Bedürfnis nach Sicherheit haben und Angst, ihrem Kind könnte etwas zustoßen. Sie decken den Tisch lieber selbst, weil sie es besser, ja perfekt machen möchten und die langsame und weniger perfekte Art des Kindes nicht ertragen können. Dies alles wirkt vordergründig entlastend und entschärfend, längerfristig jedoch warnen Pädagogen und Psychologen vor fatalen Folgen.

Verwöhnen entmutigt

Kinder, die nicht die Zeit und Anleitung erhalten, zu lernen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln, haben es schwerer, ein gesundes Selbstbewusstsein und ein realistisches Selbstbild auszubilden. Es gewohnt zu sein, dass die Eltern einem alle Steine aus dem Weg räumen, führt zu einer Anspruchshaltung, die im weiteren Leben bittere Enttäuschungen mit sich bringt: wenn nicht mehr alles für einen erledigt wird und man sich in der Gemeinschaft mit anderen zurecht finden und seinen Platz darin erkämpfen muss. "Die 'verwöhnte Brut' ist das Kind, das sich in dauerndem Zorn befindet, weil das Leben sich nicht nach seinen Wünschen richtet", schrieben Rudolf Dreikurs und Vicki Soltz in "Kinder fordern uns heraus". Das Selbstbewusstsein eines solchen Kindes steht auf wackeligen Füßen, da es sich nicht aus eigenen Fähigkeiten speist, sondern aus der Gewohnheit, alles zu bekommen und umsorgt zu werden. Müssen Herausforderungen bewältigt werden, erwecken diese Angst und Schrecken und führen zu einer Vermeidungs- und Fluchthaltung. Jürgen F. Detering beschreibt die Wirkung von Verwöhnung so:

Verwöhnung

  • ist entmutigend.
  • verhindert den Aufbau von Selbstwirksamkeitserleben.
  • enthält Entwicklungsanreize vor.
  • enthält Möglichkeiten zum Trainieren und Üben von Verhaltensweisen und von Arbeiten vor.
  • enthält Möglichkeiten zum Aufbau von Durchhaltevermögen, von Aufgabenübernahme vor.
  • ist ein Nicht-ernst-Nehmen des Kindes mit seinen Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten.
  • ist ein Sich-unentbehrlich-Machen als Erwachsener, indem ich das Kind "klein" und von mir abhängig halte.
  • ist ein Sich-Anbiedern an das Kind als Kumpel oder Freund(in) und damit ein Vorenthalten von Mutter und Vater.

Wie kommt man da heraus?

Eltern, die sich bereits auf dem Weg der "Verwöhnung" befinden, ärgern sich oft darüber, dass ihr Kind so wenig mithilft und kaum Aufgaben, die es in seinem Alter bereits bewältigen könnte, übernimmt. Der Ausstieg aus dieser Situation scheint ihnen jedoch zu schwierig, ja unmöglich. Pädagogen und Psychologen betonen jedoch, dass eine Änderung des Verhaltens jederzeit möglich ist. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Eltern sich entscheiden, es fortan wirklich anders zu machen. Jürgen F. Detering gibt solchen Eltern eine Goldene Regel mit auf den Weg: "Entwicklungsfördernd ist, wenn das Kind von Tag zu Tag mehr Handlungen selbst macht, die es jetzt schon lernen und üben kann. Dazu muss ich es gut beobachten, anleiten und: fordern und fördern." Dreikurs und Stoltz bringen dies auf die einfache Formel: "Niemals für ein Kind etwas tun, das es selbst tun kann".

Wer sich entscheidet, sein Verhalten zu ändern, sollte mit einem kleinen Schritt beginnen und dann nach und nach weitere folgen lassen. Theresia Maria de Jong und Michaela Köster beschreiben in ihrem Buch "Ist mein Kind denn zu verwöhnt" ein "Verwöhn-Stopp-Programm". Die erste Regel lautet "Anforderungen stellen":

"Überlegen Sie sich, welche Anforderungen Sie in Zukunft an Ihr Kind stellen wollen. Fangen Sie mit der Sache an, die Ihnen am Wichtigsten ist. Und fangen Sie nur mit einer Einzigen an. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn wenn wir mit zu vielen Dingen auf einmal beginnen, funktioniert das nicht. Deshalb also, entscheiden Sie sich, was zuerst verändert werden soll. Vielleicht ist es, das Zimmer aufzuräumen, oder nach dem Zähneputzen das Waschbecken zu säubern, oder was auch immer Sie im Moment an Ihren Kindern stört."

Die innere und äußerlich sichtbare Haltung, mit der Eltern erfolgreich Anforderungen an ihr Kind stellen, haben Dreikurs und Soltz als "Festigkeit, ohne zu herrschen" beschrieben. Dazu gehört, die Anforderung zwar freundlich und ruhig, jedoch nicht als Bitte zu formulieren, da eine Bitte die Möglichkeit beinhaltet, dieser nicht nachzukommen. Ein nicht kooperierendes Kind sollte die Folgen seines Tuns spüren bekommen. "Wenn wir einem Kind erlauben, die Folgen seines Tuns zu erfahren, bieten wir eine ehrliche und wirkliche Lernsituation", so Dreikurs und Soltz. Dies bedeutet zum Beispiel, einem Kind, das häufig vergisst, sein Frühstücksbrot mit in den Kindergarten oder die Schule zu nehmen, dies nicht hinterher zu tragen, sondern es die Folgen spüren zu lassen - dass es ohne sein Brot Hunger hat. Oder ein Kind, das sich morgens nicht anziehen will, mit dem Schlafanzug zur Schule zu schicken. Oder einem Kind, das bei den Hauptmahlzeiten nicht essen mag, zwischendurch nichts zu geben, damit es spüren kann: "Wenn ich zu Mittag nicht richtig esse, werde ich nachmittags argen Hunger haben." Die Kette der Beispiele ließe sich unendlich fortsetzen. Wichtig ist, dass Eltern beginnen, sich zu weigern, unnötige Hilfe zu leisten, erklärt Jürg Frick, Autor des Buches "Die Droge Verwöhnung". Zugleich sei es aber entscheidend, das Kind so anzuleiten, dass es die Aufgabe übernehmen und bewältigen könne.

Wann Verwöhnung beginnt - Kann man schon Babys verwöhnen?

Wann aber beginnt das Verwöhnen, wie kann ich den Anfängen wehren, mögen sich Eltern, die nicht in die Verwöhnfalle tappen wollen, fragen. "Verwöhnen sieht in jedem Alter anders aus" und "wir sollten unser Erziehungsverhalten ständig der Entwicklungsstufe der Kinder anpassen", lautet das Resümee der Autorinnen de Jong und Köster. Sich der Entwicklungsstufe des Kindes anzupassen, heißt jedoch zunächst, bei einem Neugeborenen, rund um die Uhr für es dazusein und auf sein Schreien zu reagieren. "Ein Baby ist anfangs völlig abhängig von der Fürsorge der Erwachsenen. Wenn auf sein Schreien fast immer sofort reagiert wird, entstehen in seinem Gehirn wichtige Verknüpfungen: Es baut sich ein Ansatz von Bindung und Selbstwirksamkeitserleben auf", erklärt Jürgen F. Detering. Und Barbara Sichtermann plädiert in ihrem Bestseller "Leben mit einem Neugeborenen" dafür, das Baby nach Bedarf zu stillen, es zu tragen und ihm den Körperkontakt zu gewähren, den es braucht. Die Befürchtung, ein Baby, dessen Schreien jederzeit erhört wird, würde verwöhnt, gilt heute als überholt. Denn "während des ersten halben Jahres, kann ein Säugling nicht zu viel Körperkontakt haben", schreibt Barbara Sichtermann. Im Gegenteil: "Je mehr er jetzt erhält, desto weniger wird er später fordern."

Mit der Zeit jedoch wachsen die Fähigkeiten des neuen Erdenbürgers, zum Beispiel die Fähigkeit, eine kleine Verzögerung bis zur Stillung des Hungers auszuhalten oder die Fähigkeit, sich ein Weilchen auf einer Decke zu beschäftigen, bevor es wieder von der Mutter hochgenommen werden will/muss. Und so kann in ganz kleinen Schritten der Weg zur Selbständigkeit des Babys und Kleinkindes beginnen. Unabdingbare Voraussetzung sind eine Mutter und/oder ein Vater, die die ständig sich verändernden Bedürfnisse und Möglichkeiten ihres Kindes wahrnehmen und ihr Handeln danach ausrichten.

Noch Fragen oder Probleme? Hier geht es zur kostenlosen Internet-Beratung für Eltern der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Habt ihr als Eltern oder als Paar weiteren Beratungsbedarf? Jürgen F. Detering bietet eine professionelle (kostenpflichtige) Beratung für Paare und Eltern per Telefon auf seiner Seite www.detering-brv.de.