Verplante Kindheit

Kinder voll im Stress

Kinder haben heute viele Möglichkeiten, da fällt es Eltern oft schwer, Zurückhaltung zu üben. Denn alle Fähigkeiten sollen ja am besten möglichst früh gefördert werden. Die Folge: Kinder mit prallvollen Terminkalendern, Freizeit-Stress und kaum unverplanter Zeit.

Autor: Julia Rubin
Kind Hobby Foerderung
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Dienstags und donnerstags – an diesen Tagen geht Daniel nach der Schule nicht nach Hause. An diesen Tagen isst er sein Mittagsbrot in der Schulbetreuung, um 14 Uhr holt ihn seine Oma ab und bringt Daniel zum Fußballtraining der G-Jugend. Gegen kurz nach vier ist Daniel dann wieder zu Hause. Montags nachmittags fährt ihn seine Mutter zum Schlagzeugunterricht,  am Freitag ist Probe vom Jugendorchester des örtlichen Musikvereins. Daniel ist sechs Jahre alt, er geht seit ein paar Monaten in die Schule. Und seit Schulbeginn sind nicht nur seine Vormittage verplant, auch an den Nachmittagen hat Daniel immer was zu tun. An vier von fünf Nachmittagen ist Daniel für seine Hobbys unterwegs.

Kinder brauchen Hobbys

"Außerschulische Förderung" nennen Daniels Eltern die Hobbys ihres Sohnes. Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Claudia Quaiser-Pohl von der Universität Koblenz-Landau nennt das die "verplante Kindheit": "Außerschulische Sport- und Musikgruppen sind durchaus wichtig für die Entwicklung der Kinder. Musik fördert die emotionale und kognitive Entwicklung, Sport hat einen großen Einfluss auf die Motorik der Kinder." Zahlreiche Kinder bewegen sich heutzutage viel zu wenig, so die Wissenschaftlerin, stattdessen verbringen sie zu viel Zeit vor der Spielkonsole, dem Fernseher oder dem Computer. Das Fußballtraining am Nachmittag kann dem Kind also guttun, aber es sollte nicht jeder Nachmittag mit Hobbys verplant sein. "Maximal zwei Nachmittage sollte ein Grundschulkind mit seinem Hobby verbringen", empfiehlt Quaiser-Pohl, "die restlichen Nachmittage soll es frei gestalten können." Toben, draußen spielen, auf dem Spielplatz rennen, auch das hat - wenn auch unbewusst - einen großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Davon ist auch Thomas Berg überzeugt. Er ist Konrektor einer Grundschule in Mainz und stellt immer wieder fest, wie verplant bereits Grundschulkinder sind. Dabei ist für ein Kind freie Zeit zum Spielen mindestens genauso wichtig wie ein Hobby: "Beim Balancieren und Klettern werden Nervenzellen im Gehirn miteinander verbunden, die das mathematische Denken positiv beeinflussen können", erklärt Berg. Hobbys sind wichtig, freie Zeit aber auch – das Gleichgewicht muss stimmen.

Zu viele Hobbys stressen

Welche Auswirkungen zu viele Hobbys auf die Kinder haben, merkt Konrektor Berg auch in seiner Schule. Immer häufiger schieben die Lehrerkollegen Stilleübungen während des Unterrichts ein, damit die Kinder ruhiger werden. Fantasiereisen und Entspannungsübungen für das gestresste Grundschulkind. In seiner Klasse wechselt Thomas Berg zwischen Stilleübungen und Bewegungspausen. Und erst, wenn sich die Kids ausgetobt haben, geht es mit dem Unterricht weiter. Der Stress der Kinder wirkt sich aber nicht nur auf die Konzentration im Unterricht aus, sondern auch auf die Hausaufgaben. "Es kommt nicht selten vor, dass Kinder in die Schule kommen, ohne ihre Hausaufgaben gemacht zu haben. Weil sie ins Tennistraining oder zum Klavierunterricht mussten, fehlte dafür die Zeit", erzählt der Konrektor. Spätestens dann müssen die Eltern eingreifen und die Anzahl der Hobbys ihres Kindes verringern, rät er: "Für ein Kind fühlt es sich nicht gut an, ohne Hausaufgaben in die Schule zu kommen.  Es ist frustriert, unzufrieden und unmotiviert." Es sind aber nicht nur die vielen Hobbys außerhalb der Schule, die die Kinder stressen – auch die Erwartungen der Eltern setzen die Kinder zunehmend unter Druck: "Viele Kinder sollen schon in der Grundschule unbedingt gute Noten nach Hause bringen, damit sie in der 5. Klasse auf jeden Falls ins Gymnasium können. Also bekommen sie zusätzlich zu ihren Hobbys auch noch Nachhilfeunterricht, damit die Noten stimmen."

Auch mal alleine spielen

Einfach mal draußen spielen, sich spontan mit Freunden verabreden – dafür gibt es immer weniger Zeit. Die Folge: Viele Kinder leiden unter Schlafstörungen, Bauchschmerzen, Kopfweh. Das alles können Anzeichen sein für zu viel Stress und zu wenig Freizeit. Wissenschaftlerin Quaiser-Pohl und Konrektor Berg sind sich einig: Die unverplante, freie Zeit ist sehr wichtig für ein Kind, mindestens genauso wichtig wie Musikunterricht oder Sportverein. Freies Spielen unter Kindern fördert die Kreativität und die soziale Kompetenz. Vor allem im gemeinsamen Spiel mit anderen lernen Kinder, mit Konflikten umzugehen und auf die Bedürfnisse und Forderungen anderer Kinder einzugehen. Das sind Fähigkeiten, die für Kinder im späteren Leben unverzichtbar sind. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder an ihren freien Nachmittagen immer andere Kinder zum Spielen einladen sollen. Auch mal ganz alleine spielen ist aus Sicht der Wissenschaftlerin wichtig, wird den Kindern aber viel zu selten ermöglicht: "Selbst eine Beschäftigung finden, auch mal Langeweile haben – das sind wichtige Erfahrungen für ein Kind. Leider verplanen die meisten Eltern das Kind selbst in seiner freien Zeit und werden viel zu schnell zum Unterhalter für ihr Kind", kritisiert Quaiser-Pohl. "Das ist genau wie bei uns Erwachsenen: Die besten Ideen kommen, wenn man Zeit hat und mal gar nichts macht. Das ist bei Kindern genauso."

Die Wissenschaftlerin ist überzeugt davon, dass Kinder bereits im ersten Lebensjahr in kleinen Schritten lernen können, sich mit sich selbst zu beschäftigen – wenn es die Eltern nur lassen würden. Ihr Rat an die Eltern: "Nicht immer direkt rennen, wenn das Baby mal schreit. Ein Baby braucht auch keine Dauerbespaßung. Es kann durchaus mit sich selbst spielen – vorausgesetzt, man lässt es." Nur Kinder, die schon früh erfahren haben, sich eigene Beschäftigungen suchen zu müssen, können sich auch im Kindesalter besser alleine beschäftigen. Kinder haben verlernt, sich alleine zu beschäftigen. Woher das kommt? "Immer mehr Kinder wachsen als Einzelkinder auf", erklärt Thomas Berg, "klar, dass die Eltern sich sehr stark auf das Kind konzentrieren, es nur ungern alleine lassen. Sie bringen es zum Sport, zur Musik, zum Theater, sie kümmern eigentlich ständig um seine Unterhaltung. Früher, als Kinder noch mit mehreren Geschwistern aufgewachsen sind, haben die Geschwister miteinander gespielt und die Eltern hatten gar keine Zeit, sich so viele Gedanken über jedes einzelne Kind zu machen und es überall hin zu schleppen."

 

Auf das richtige Hobby kommt es an

Dennoch gilt: Hobbys tun Kindern gut, Hobbys sind wichtig für die Entwicklung. Wenn es nicht zu viele sind und wenn es das richtige Hobby ist. Was bringt das schönste Hobby, wenn es dem Kind keinen Spaß macht? Deshalb warnt Thomas Berg: "Eltern sollten ihre Vorlieben nicht auf das Kind projizieren." Der Klavierunterricht, den man selbst als Kind so geliebt hatte oder das Balletttraining, an dem man als kleines Mädchen nicht teilnehmen durfte, ist nicht zwangsläufig auch das richtige Hobby für das eigene Kind. "Ein unmusikalisches Kind in den Klavierunterricht zu zwingen, wird schnell zur Qual", warnt Quaiser-Pohl. Und wenn das Kind an gar nichts Interesse zeigt? "Dann ist es auch ok, das Kind erst einmal zu einem Hobby zu 'zwingen'", erklärt die Entwicklungspsychologin mit einem Augenzwinkern. Dann müssen die Eltern aber besonders aufmerksam sein, rät sie. Der Tipp der Psychologin: von Anfang an regelmäßig mit dem Kind und dem Musiklehrer reden. "Nur so kann ich als Mutter  oder Vater rechtzeitig feststellen, ob das Kind Spaß hat und ob es sich gelohnt hat, dass ich das Kind zum Instrumentenunterricht gezwungen habe. Vielleicht stellt sich ja auch raus, dass mein Kind statt Klavier viel lieber Handball spielen würde." Dann gilt: das Hobby rechtzeitig beenden. Auch wenn das vielleicht bedeutet, dass das Klavier wieder verkauft werden muss.

Am besten ist es natürlich, wenn es soweit erst gar nicht kommt. "Perfekt ist es, wenn das Hobby aus dem Interesse des Kindes entsteht", rät Thomas Berg, "denn wenn das Kind sich sein Hobby alleine aussucht, hat es die meiste Freude daran und investiert auch gerne freiwillig seine Zeit in das Hobby." Eine Hilfe bei der Suche nach dem richtigen Hobby sind Schnupperstunden in der Musikschule und im Turnverein. Dort bekommt das Kind einen Überblick über Instrumente und Sport. Im besten Fall entscheidet es sich dann alleine, was es gerne lernen möchte. Denn nicht die Menge der Hobbys ist wichtig, sondern das richtige Hobby. Qualität statt Quantität. Vor allem für Kinder, bei denen es in der Schule nicht so gut läuft, so der Konrektor:  "In seinem Hobby kann das Kind Bestätigung finden, die es in der Schule vielleicht nicht hat. Und diese Bestätigung stärkt sein Selbstbewusstsein – auch in der Schule."

Weniger ist mehr

Für die Suche nach dem richtigen Hobby eignet sich die Zeit während der Grundschule am besten: "Gut ist es, wenn das Kind bis zur 5. Klasse sein Hobby gefunden hat. Spätestens in der weiterführenden Schule reicht die Zeit für solche „Experimente“ oft nicht mehr", rät Quaiser-Pohl. Sie selbst ist Mutter von zwei Söhnen, im Alter von acht und 15 Jahren. Und sie fügt hinzu: "Eigentlich ist es gar nicht so schwer, herauszufinden, welches Hobby und wie viele Hobbys dem eigenen Kind gut tun – hören Sie darauf, was Ihr Kind Ihnen sagen will. Reden Sie mit Ihrem Kind. Fragen Sie es. Auch ein Vierjähriger ist schon in der Lage, seinen Eltern zu sagen, wenn es ihm zu viel wird." Thomas Berg hat einen fünfjährigen Sohn und wenn er im Elterngespräch nach einem Rat über den richtigen Umgang mit Hobbys gefragt  wird, dann hat er einen ganz einfachen Tipp, der auch bei den Hobbys seines eigenen Sohnes gilt: "Weniger ist mehr."