Rollenspezifisches Verhalten

Warum greifen Mädchen zur Puppe?

Sind Rollenmuster Erziehungssache oder biologisch vorgebahnt? urbia sprach mit der Psychologin Sabine Lorenz über die Unterschiede von Mädchen und Jungen.

Autor: Andrea Grüten

Ist Rollenverteilung in die Wiege gelegt

Maedchen mit Puppe iStock Reno12
Foto: © iStockphoto.com/ Reno12

Ich weiß noch gut, wie entsetzt meine Mutter war, als sie ihrem zweijährigen Enkelsohn auf mein Anraten hin zu Nikolaus eine Puppe schenken sollte. "Ein Junge spielt doch nicht mit Puppen", so ihr Aufschrei. "Warum nicht?", wollte ich wissen. "Na ja, du hattest als Kind ja auch keine Autos", so die Antwort. Mein "leider" ignorierte sie. urbia wollte es einmal genauer wissen: Wird einem die Rollenverteilung schon in die Wiege gelegt oder anerzogen? Wir sprachen mit der Düsseldorfer Diplom-Psychologin Sabine Lorenz.

Jungen reagieren anders als Mädchen

"Die Hintergründe für das rollenspezifische Verhalten sind vielfältig", erklärt Sabine Lorenz. Sicher würden Gene und biologische Hintergründe ebenso eine Rolle spielen wie Erziehung und Umwelt. "Ein weites Feld, auf dem wir uns da bewegen", sagt Sabine Lorenz. Wir gehen zunächst einmal vom Beispiel zweieiiger Zwillinge aus - Mädchen und Jungen. Während die Zweijährige unweigerlich zur Puppe greift, zieht ihr Bruder von sich aus Autos vor. "Da beginnt schon die biologische Aufgabe. Das hat bereits etwas mit Stärke und Vorbildern zu tun. Und während der Junge oftmals in der Familie der Rebell ist, wird das Mädchen gerne zum lieben Pummelchen gemacht", sagt die Psychologin etwas überspitzt. "Erwiesen ist bislang nur, dass Jungen früher und besser auf visuelle Signale (Sehvermögen) reagieren, während Mädchen verstärkt ihr Hörvermögen einsetzen."

Unterschiedliche Aufgabe bei der Fortpflanzung

In der Wissenschaft ist die bisher wichtigste bekannte biologische Funktion der Geschlechterunterschiede die unterschiedliche Aufgabe bei der Fortpflanzung. Viele Unterschiede können plausibel auf diese Arbeitsteilung zurückgeführt werden, so etwa die Unterschiede der Geschlechtsorgane, der Milchdrüsen und des Beckens. Auch zahlreiche Verhaltensweisen, die etwas indirekter auf Paarung, Austragen der Jungen und deren Aufzucht bezogen werden können, fügen sich in diese Erklärung ein, erklärt die Diplom-Psychologin.

Muss ein Junge ein richtiger Mann werden?

Jungen weinen nicht, sie kämpfen und wollen ein richtiger, starker Mann werden. Mit Disziplin, Selbstkontrolle und Verzicht sollen sie all die Verhaltensweisen unterdrücken, die als mädchentypisch gelten. Selbst wenn sie nicht dem "richtigen" Männerbild entsprechen, werden sie oft von frühester Jugend an in dieses Klischee gepresst. Mädchen dagegen sind gefühlsbetont, brauchen Schutz und dürfen sich ruhig jemandem anvertrauen. Diese Bilder prägen auch heute noch unsere Gesellschaft - ob gewollt oder ungewollt. Jeder hat sich schon einmal dabei ertappt: Ein Mädel ist halt süss und lieb - vielleicht ab und zu mal etwas zickig - ein Junge ist ein Rabauke, der rauft und sich schmutzig machen darf. Davon können sich auch stolze Mütter und Väter nicht ganz freisprechen. Ihnen hält die Psychologin ebenso wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aber vor Augen...

Die Disziplinierung der Gefühle kann krank machen

... die Disziplinierung der Gefühle kann krank machen

Der Stress, ständig anders sein zu müssen als man in Wirklichkeit ist, kann krank, auf jeden Fall aber einsam machen. Und das schon im Kindesalter. Wer ständig die Tränen bei seinem kleinen Sohn unterdrückt, muss sich nicht wundern, wenn sich dieser immer mehr zurückzieht. Auch kann die typisch männliche Jungenerziehung irgendwann einmal gefährlich werden, wenn sich das Bedürfnis nach Stärke und Überlegenheit nur noch gegen Schwächere wendet. Oft merken die Jungen sehr wohl, dass ihr Herrschaftgebaren wenig Erfolg hat und Körperkraft nicht überall gefragt ist. Das weckt Ohnmachtsgefühle und sogar Aggressionen.

Eltern können zu einer gesunden Entwicklung beitragen

"Wirklich starke Jungen und Mädchen, im Sinne einer gesunden Entwicklung, bedingen auch starke Vorbilder", sagt die Diplom-Psychologin Sabine Lorenz. "Über gute Modelle identifizieren sich Kinder von klein auf". Wenn Vater und Mutter gleichermaßen ihre Qualitäten zeigen und vormachen, dass beide Verstand und Gefühl haben, dass sie selbstständig und fürsorglich sind, wird sich das auch auf die Sprösslinge übertragen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat deshalb eine Liste mit Wegen der kleinen Schritte aufgestellt. So sollte man bei Kindern und vor allem bei Jungen nicht nur nach Leistung fragen, sondern auch nach dem Wohlbefinden. Ebenso wie man den Körperkontakt pflegen sollte, muss man dem anderen auch Abstand gönnen. Hilfe, Nachgeben, Warten können, Einfühlung, Geduld und "Sich-kümmern" sind als Stärken anerkannt und sollten vermittelt werden.

Eltern müssen sich selbst kritisch hinterfragen

In ihrer Vorbildfunktion sollten sich Vater und Mutter einmal selbst ein paar kritische Fragen stellen. So zum Beispiel, ob man vielleicht unbewusst vom Sohn öfter verlangt, dass er sich zusammenreißt. Und: "Begleiten Sie die Tobereien Ihres Sohnes nicht doch eher mit Anerkennung als das Außer-Rand-und-Band-sein der Tochter?" Schmunzeln Väter nicht doch in sich hinein, wenn der Sohn seiner Mutter eine witzig-freche Abfuhr erteilt? Oder wird man als Mutter nicht oft vom Charme des kleinen "Haudegens" gefangen, statt deutliche Grenzen zu setzen? Generell sollte man auch das eigene Verhalten überprüfen. Und das fängt schon mit der Aufgabenverteilung zuhause an.

Warum gilt Fußball eigentlich als "Männersport"? Wer erledigt die technischen Reparaturen, wer flickt die Hosen und macht die Wäsche? Wer nimmt den Staubsauger in die Hand? Die Liste lässt sich beliebig ergänzen.

Sicher ist, dass neben allen biologischen und genetischen Ursachen die Erziehung und das Vorleben eine erhebliche Rolle bei der Entwicklung von Kindern spielen. Dies begleitet sie auf dem Weg zum Erwachsenwerden und prägt ganz maßgeblich auch die Rolle, die man (frau) später im Leben einnimmt. Vieles, was wir in unserer frühen Kindheit erfahren haben, übernehmen wir. Nicht umsonst gibt es den Spruch: Schau in den Spiegel und du erkennst deine Mutter. Auch wenn wir dagegen rebellieren, finden wir uns oft in ihren Verhaltensmustern wieder.