Von "Störenfrieden" und "Rabauken"

Wilde Kerle: Sind Jungen heute schwieriger?

Jeder Kindergarten hat seine Rabauken, die öfter einmal beißen, schubsen oder anderen Kindern das Spielzeug wegreißen. Lehrer klagen, dass vor allem Jungen im Unterricht unkonzentriert sind oder sich auf dem Schulhof prügeln. Sind Jungen heute „schwieriger" oder hat sich nur unsere Wahrnehmung verändert? Wie viel Wildheit ist normal?

Autor: Gabriele Möller

Konflikte lösen nur mit Worten?

zwei Jungs raufen
Foto: © iStockphoto.com/ RimDream

„Woher hat er das bloß?“, fragte sich Maria erschrocken, nachdem ihr zweieinhalbjähriger Sohn ihr ein paar Mal wütend ins Gesicht gepatscht hatte, wenn er einen Wunsch nicht erfüllt bekam. „Wir haben ihn doch noch nie geschlagen!“ Viele Eltern glauben, dass ein Kind, das gewaltfrei erzogen wird, auch selbst nicht schlagen wird. Sie wünschen sich, dass ihr Sohn Konflikte von Anfang an nur mit Worten löst. Realistisch ist dies jedoch nicht: „Aggression ist lebensnotwendig, sie ist nach Sigmund Freud sogar ein Urtrieb. Bis ein Kind gelernt hat, bei starken Emotionen nicht sofort auf die Motorik zurückzugreifen, ist es ein langer Entwicklungsweg“, erläutert Diplom-Psychologe Andreas Engel. „Kleine Kinder haben wenig Frustrationstoleranz, verlieren schnell den Mut, kriegen schnell Wut. Besonders Jungen wollen sich außerdem mit anderen messen, auch körperlich“, so der stellvertretende Vorsitzende der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V. (bke) im urbia-Gespräch. Wenn man also völlige Gewaltfreiheit anstrebe, projiziere man ein Ideal aufs Kind, das dort gar nicht hingehöre. „Mit der Zeit sollte natürlich vom Kind auch eine Verstandeskontrolle entwickelt werden, so dass es seine Wut auch anders zeigen kann.“ Doch dies brauche Geduld und werde nicht von heute auf morgen gelernt.

Darf unser Sohn zurückschlagen?

Dass Jungen (und natürlich auch manche Mädchen) ihre Wut hier und da auch körperlich äußern, ist also normal. Trotzdem reagieren Eltern meist sehr besorgt auf Gewalt unter Kindern, besonders, wenn das eigene Kind öfters zum Opfer wird. „Jan wurde in der Grundschule von zwei, drei anderen Jungen ständig geärgert. Sie stellten sich ihm in den Weg oder schubsten ihn. Wir hatten ihm beigebracht, dass er niemals schlagen sollte. Er sollte sich mit Worten wehren“, erzählt Petra H. (37). „Aber das reichte nicht, es hörte nicht auf. Da haben wir zuerst mit der Lehrerin gesprochen, aber auch ihre Ermahnungen änderten nichts. Schließlich haben wir unserem Sohn gesagt, er solle sich ruhig mal ‚richtig’ wehren. Das hat er dann ein-, zweimal ordentlich gemacht – danach wurde er in Ruhe gelassen.“ „Ich habe unserem Sohn den Unterschied zwischen Rache und Notwehr erklärt“, berichtet auch eine Mutter aus einem Online-Forum, „und mein Mann hat ihm beigebracht, wie man einen Gegner aushebelt. Schon das Wissen, dass er es konnte, hat ihn sicherer gemacht.“

Notwehr scheint also manchmal wichtig zu sein, damit ein Kind nicht dauerhaft in eine Opferrolle rutscht. Wer dabei trotzdem ein ungutes Gefühl hat, muss bedenken, dass auch Erwachsenen Gegenwehr erlaubt ist: Der Gesetzgeber hat dies im so genannten Notwehrparagrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Körperlich verteidigen darf man danach nicht nur sein Leben, sondern auch seinen Leib, die Freiheit, das Eigentum und auch seine Ehre.

Was tun, wenn (m)ein Kind andere attackiert?

Dennoch ist es bei „tätlichen“ Angriffen wichtig, dass die anwesenden Erwachsenen eingreifen, damit Jungen lernen, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, Wut abzulassen. „Wenn ein Kind zum Beispiel ein anderes beißt, ist dies auf jeden Fall ein Anlass für eine kurze pädagogische Intervention, wir nennen das Psycho-Edukation. Dies heißt in der konkreten Situation: Das Kind zur Seite nehmen und ihm erklären, dass der Ärger mal mit einem durchgehen kann. Dass es aber Alternativen zum körperlichen Angriff gibt, und wie es vielleicht das nächste Mal reagieren könnte“, so Erziehungsberater Engel. Danach sei es aber auch wichtig, die Sache als erledigt zu betrachten und wieder zur Tagesordnung überzugehen.

 

Die "schwierigen" Jungen - eine Frage der Perspektive

Bei Konflikten, in die Jungen involviert sind, wird die Situation von Frauen oft dramatischer eingeschätzt als von Männern. Beklagt eine Mutter vielleicht erschrocken, dass ihr Nachwuchs im Kindergarten bereits zum zweiten Mal zu Boden geschubst wurde, oder dass der eigene Sohn im Unterricht offenbar viel Unsinn mache und kaum zuhöre, kommentiert ihr Partner dies oft nur mit: „Ach, das gehört bei Jungs einfach dazu, ich selbst war auch so.“ Frauen scheinen – ob durch Erziehung oder Veranlagung – harmoniebedürftiger zu sein. Es fällt ihnen schwerer, Aggressivität oder motorische Unruhe bei Jungen als normal zu betrachten. Ein Problem, denn Jungen werden heute in den frühen Lebensjahren überwiegend von Frauen erzogen: von der Mutter, der Tagesmutter oder Erzieherin, der Grundschullehrerin. Noch vor wenigen Jahrzehnten unterrichteten an den Schulen vorwiegend Lehrer. Und vor der Industrialisierung war auch der Einfluss des Vaters groß, weil es keine räumliche Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten gab: Jungen wurden vom Vater schon früh in dessen Tätigkeiten (Stall-, Feld- oder Werkstattarbeit) mit einbezogen.

Von der Abwesenheit der Männer

Viele Frauen berücksichtigen es also vielleicht zu wenig: „Jungen sind – ob nun genetisch oder kulturell bedingt – eher körperbetont und motorisch aggressiver als Mädchen, die ihre Aggressionen auf andere Weise ausagieren“, erklärt Diplom-Psychologe Engel. „Die meisten Ratsuchenden in den Erziehungsberatungsstellen sind Frauen. Die Kinder, um die es geht, sind überwiegend Jungen. Beraten werden sie dann wiederum meist von Frauen“, beschreibt er das Dilemma. „Ich wünsche mir wirklich, dass soziale und Erziehungsberufe aufgewertet und auch für Männer interessanter würden. Dann gäbe es ein ausgeglicheneres Verhältnis bei der Erziehung - und einen lebendigen Diskurs zwischen Männern und Frauen, z. B. auch in unseren Beratungsteams.“ Dass Jungen heute oft als schwieriger eingeschätzt werden, liegt also zum Teil an der Wahrnehmung: „Dass ein Junge auffällig ist, ist heute einfach eine häufigere Diagnose als früher. Das ist aber zunächst nur ein Artefakt (etwas Künstliches), sagt wenig aus und ist letztlich ja auch Moden unterworfen“, betont Engel.

Wenn ein Junge zuviel Wut im Bauch hat

Zu einem gewissen Teil stimme es aber dennoch, so der Erziehungsberater, dass die Zahl von Jungen, die motorisch unruhig oder aggressiv sind, größer geworden ist. „Dies liegt auch an Veränderungen der Lebensweise. Kinder spielen weniger draußen, die Kindheit ist mehr überwacht, es gibt eine Verinselung von Kindern, sie werden von einem Event oder Verein zum nächsten gefahren, und auch der Medienkonsum ist größer.“

Woran aber erkennen Eltern, dass die Aggressionsbereitschaft eines Jungen über das Normalmaß hinaus geht? „Aggressionsgestörte Kinder können ihre Impulse schlecht kontrollieren. Ein Warnsignal ist es, wenn sich ein Kind auffällig gefühllos gegenüber anderen Kindern oder auch Tieren verhält“, erläutern Dr. med. Herbert Renz-Polster, Dr. med. Nicole Menche und Dr. med. Arne Schäffler, Autoren des Buchs „Gesundheit für Kinder“. „Diese Kinder nehmen die Befindlichkeit ihres Gegenübers schlecht wahr. ‚Sympathiesignale’ werden leichter übersehen. Die Folge: Sie unterstellen dem Gegenüber rasch negative Motive und Feindseligkeit.“ Botschaften wie „Ich bin traurig“, „Ich brauche Hilfe“ oder „Ich will dir nichts Böses tun“ würden vom Kind nicht verstanden. Alarmierend sei auch, wenn ein Kind nicht aufhöre zu schlagen, obwohl der Andere schon aufgegeben hat.

Wenn ein Junge in seinem Verhalten aus dem Rahmen fällt, ist dies für die Eltern verunsichernd und oft auch beschämend. „Nils war ein ‚Kann-Kind’ und wurde ein Jahr früher eingeschult. Er hatte keine Probleme mit dem Lernstoff, aber seine sozialen Fähigkeiten waren noch nicht so gut“, erzählt Annegret*. Das Problem wurde akut, als er einmal einen Jungen ins Gesicht geboxt und ein Mädchen an den Beinen von einer Kletterstange heruntergezogen hatte. „Er hatte zwar für seine Wut immer einen nachvollziehbaren Grund, konnte den aber nicht mit Worten vermitteln.“ Nils’ Lehrerin schlug Alarm und bestellte die Eltern in die Schule. „Wir fühlten uns fortan von ihr und der Schulleitung unter Druck gesetzt und gaben diesen Druck direkt an Nils weiter. Wir sahen das Problem anfangs nur bei ihm, uns war nicht klar, dass es auch mit uns zu tun hatte.“

Was aggressiv macht und wie man allzu wilden Kerlen hilft

„Wenn ein Kind massiv übergriffig wird, kommt so etwas nicht vom Kind selbst“, betont Andreas Engel. „Sondern man muss die Lebensumwelt des Kindes anschauen und zum Beispiel auch fragen: Was kriegt es in der Familie mit? Jüngere Kinder orientieren sich noch sehr an zu Hause.“ Es gebe aber auch Unterschiede im Temperament, also Kinder mit sonnigem Gemüt und solche, die motorisch sehr aktiv seien, auch dies müsse man im Einzelfall berücksichtigen.

Auch Bewegungsmangel und zuviel Zeit vor PC, Spielkonsole oder TV – darin sind sich die meisten Wissenschaftler einig – haben einen negativen Einfluss auf eine gesunde seelische Entwicklung. „Fernsehbilder haben keine Tiefe, sie schmecken und riechen nicht, man kann sie nicht greifen. Es fehlen also mehr als die Hälfte der Informationen zum Lernen darüber, was Objekte sind. Ein Kleinkind kann sich die Welt gerade nicht am Bildschirm erschließen“, so der Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer. Das zweite Problem sind die dargestellten Inhalte: „Es ist seltsam, dass wir einerseits Kinder zur Gewaltfreiheit erziehen möchten, es aber im Fernsehprogramm oder bei Computerspielen von Gewalttätigkeiten nur so wimmelt. Das finde ich persönlich fürchterlich“, klagt Andreas Engel.

Wo verläuft die Grenze zu ADHS?

Bei einem besonders lebhaften Jungen steht schnell auch die Verdachtsdiagnose AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) im Raum. Doch wo fängt das „Zappelphilippsyndrom“ wirklich an? „Dies abzugrenzen ist schwer. Diese Diagnose erlebt ja im Augenblick eine wahre Inflation“, so Engel. „Wenn Eltern überlegen, ob sie ihr Kind dahingehend untersuchen lassen sollten, müssen sie sich auch fragen: Wem nützt das? Wann ist es sinnvoll? Wann schadet es eher? So ein Test vermittelt dem Kind ja auch: Mit dir ist etwas nicht in Ordnung.“ Er warnt: „Man kann, wenn man ein Kind nur 30 Minuten beobachtet, nicht genug über es erfahren, um eine Diagnose zu stellen. Es eröffnet sich – wenn die Diagnose getroffen wird – ja auch die Frage: Was macht man damit, oder vielmehr: Was richtet man damit an? Oft reagieren die Fachleute mit der Verschreibung ruhig stellender Psychopharmaka. Das kann für ein Kind in der Entwicklung keine gute Lösung sein.“

Zwar hat ADHS, so glauben Fachleute, in der Hälfte der Fälle auch etwas mit Vererbung zu tun. Dies bedeutet jedoch lediglich, dass manche Kinder eine erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, ADHS zu bekommen. Es sind dennoch vor allem äußere Faktoren, die entscheiden, ob ein Kind überhaupt eine Störung entwickelt. „Wenn ein Kind große Unruhe zeigt, Kontaktprobleme hat oder ständig herum flippt, sollte man sich die Lebensweise und die familiären Umstände ansehen. Man schaut, wie die Familie in sich ruht, welches Temperament das Kind hat, welche Fähigkeiten es besitzt und auslebt oder nicht auslebt, welche Beunruhigungen vielleicht vorliegen, welche Entwicklungsgeschichte es hat, welche Familiengeheimnisse es gibt“, so Engel.

Wichtig sei vor allem Geduld. „Schnelle Ergebnisse gibt es nicht. Eilige Diagnosen führen oft zu jahrelanger Medikation. Weil es im Leben meist keine einfachen Lösungen gibt, sondern die Probleme multifaktoriell sind (mehrere Ursachen haben), sollten gerade die Fachleute hier wesentlich zurückhaltender sein“.

Weniger Bildschirm und mehr "echtes" Leben

Manchmal wirkt bei besonders „wilden Kerlen“ schon eine starke Einschränkung des Medienkonsums und die Möglichkeit für viel Bewegung und unorganisiertes, freies Spiel (am besten draußen). Doch manchmal ist mehr Ursachenforschung nötig. Annegret erzählt: „Im Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Erziehungsberatungsstelle wurde klar: Ein Grund für Nils’ Aggressivität war, dass mein Mann ihm unbewusst vermittelt hatte, dass er es ganz gern sah, dass Nils ein wenig ungezähmt war. Und ich selbst habe zu passiv auf Nils’ Kontrollverluste reagiert. Dass das Problem auch etwas mit uns zu tun haben könnte, hatten wir vorher gar nicht wahrgenommen.“ Wichtig sei auch gewesen, dass ihnen die Beraterin den Druck und die Schuldgefühle, etwas „falsch gemacht“ zu haben, genommen habe. Was auch sehr geholfen habe: Nils im Fußballverein anzumelden. „Das hat ihm sehr gut getan. Er musste sich im Team einordnen und bewähren. Und er musste die Autorität des Trainers akzeptieren lernen.“ Bis zum Anfang des zweiten Schuljahres hatte sich die Situation schon sehr entspannt, „und gegen Ende des Schuljahres war Nils’ Verhalten völlig okay“.

Annegret hätte sich während der schwierigen Zeit mehr Beruhigung durch die Umwelt und auch Gelassenheit seitens der Schule gewünscht. Auch Diplom-Psychologe Andreas Engel mahnt zu mehr Geduld: „Heute gibt es eine Tendenz, zu vorschnell und zu übertrieben zu reagieren. Es scheint fast, als wünschten wir uns möglichst früh kleine, reife Erwachsene. Dies ist natürlich auch Ausdruck von Ängsten und Befürchtungen der Erwachsenen selbst. Kinder sind immer – im Guten wie im Bösen – die Projektionsfläche für die Erwachsenen.“

*Namen geändert

Lesen Sie dazu auch:

urbia-Tipp: www.manomama.de - Stuhlkreis-Weicheier selbst gemacht

Zum Weiterlesen

Steve Biddulph: „Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen“, Heyne, ISBN-13: 978-3453214958.

Gerald Hüther, Helmut Bonney: „Neues vom Zappelphilipp. ADS/ADHS: verstehen, vorbeugen und behandeln“, Walter Verlag, ISBN-13: 978-3530401318.

Manfred Spitzer: „Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft“, Klett Verlag, ISBN-13: 978-3120101703.