Kolumne 'Mamma Mia'

Italienisches Familienleben: Achtung, frische Luft

Baby Leo ist inzwischen ein Jahr alt. Julia Rubins (Familien-)Leben in Italien ist und bleibt interessant. Was die jetzt dreifache Mutter in Bella Italia erlebt, wird sie bei urbia berichten. In diesem ersten Beitrag erfahren wir, warum sie die letzten Monate mit ihren Söhnen einsam und alleine auf dem Spielplatz verbracht hat.

Autor: Julia Rubin

Unter zehn Grad geht hier keiner raus

Leo Rubin Schnee Terrasse
Foto: © Julia Rubin

Ja, ich lebe in Italien und: nein, nicht überall in diesem Land blühen die Zitronen. Mein Zitronenbaum zum Beispiel steht seit Wochen in der Garage und blüht nicht. Dafür ist es meinem Baum hier im norditalienischen Turin einfach zu kalt. Also bleibt er drin und wartet darauf, dass das Thermometer deutlich mehr als 10 Grad anzeigt. Dann erst kommt er raus an die frische Luft.  Mein Zitronenbaum ist eine norditalienische Pflanze und sein Kälteempfinden entspricht so ziemlich genau dem eines durchschnittlichen norditalienischen Menschen.  Bei Temperaturen unter 10 Grad bleibt auch der drin im Warmen, eine Regel, die hier scheinbar für Pflanzen und Menschen gilt. Letztere drohen bei diesen Temperaturen  zwar nicht unbedingt einzugehen, aber sie laufen Gefahr, sich eine für-zwei-Wochen-mit-Halstabletten-und-ekligem-Hustensaft-ans-Bett-fesselnde Erkältung einzufangen. Und deshalb gehen auch die Kinder in unserem Kindergarten bei weniger als 10 Grad nicht an die frische Luft. Zu kalt. Zu gefährlich. Ein hier oben im Norden Italiens weitverbreitetes Phänomen. Alle Versuche, die Leiterin unseres Kindergartens von einem Matschklamotten-Import aus Deutschland für alle Kinder zu überzeugen, blieben bislang erfolglos (Matschklamotten habe ich hier noch nicht gesehen). Auch der Hinweis auf medizinische Studien über den positiven Einfluss frischer Luft auf das menschliche Immunsystem bleibt unbeachtet.

In der Zeit von November bis März spricht hier fast alles gegen das Rausgehen: zu kalt, zu neblig, zu windig, zu viel Regen, zu viel Schnee. Zu groß die Gefahr einer Erkältung, also: „Entrate tutti!“ „Rein mit Euch!“.  Ab ins Warme. Rein in den Mief. Und so werden viele Kinder selbst für den kurzen Weg vom Parkplatz bis zum Kindergarten als Michelin-Männchen verkleidet: Dicke Jacke, Schneeschuhe, Schal, Handschuhe, Polarmütze.

Die Vorteile der Frischluft-Angst

Meinen Kindern fällt das schwer, aber wir machen das Beste draus. Denn wir haben auch gute Seiten der italienischen Frischluft-Angst entdeckt. Jawohl! Denn von November bis März gehören die Spielplätze uns! Die Schaukeln sind immer frei und auch auf dem Klettergerüst herrscht in diesen Monaten gähnende Leere - noch nie hatten meine Kinder so viel Platz zum Radfahren und Toben. Allein die Blicke der dick eingepackten, vorbeieilenden Italiener kann ich noch immer nicht so richtig deuten: Bewunderung? Mitleid? Sorge?

Wenn sie so denken wie unser Nachbar, dann deute ich den Blick in Richtung große Sorge. Luciano stand eines Morgens plötzlich auf unserer Terrasse. Also genau dort, wo Leo gerade dick eingepackt im Schneeanzug mit Fellschuhen und Mütze, Schal und dicker Decke friedlich sein Vormittagsschläfchen genoss. Wintersack zu, Verdeck hoch und raus mit ihm.  So geht das jeden Morgen, seit er eine Woche alt ist - natürlich in der der Jahreszeit entsprechenden Kleidung. Im Sommer unterm Moskitonetz, im Winter im Schneeanzug. An diesem Morgen war Luciano allerdings nicht so gut gelaunt wie sonst, sondern legte seine sonst so glatte Stirn in Sorgenfalten: „Giulia, ma donna, cosa fai con il povero piccolo?“ „Aber Julia, was machst Du da mit dem armen Kleinen?“ Arm und klein? Von wem spricht er? Ich schaute ihn fragend an und es folgte ein dreiminütigen Monolog mit Argumenten gegen frische Luft für Kinder im Winter: zu kalt, zu neblig, zu windig (siehe oben). Und so sprach Luciano. Mit seinen Händen sprach er. Italienisch sprach er. Und laut sprach er. Sehr laut. Dann - schwuppdiwupp - verschwand er wieder. Leo ist während dieses Monologs weinend aufgewacht. Und das lag nicht an der niedrigen Außentemperatur, davon bin ich überzeugt. Luciano war da allerdings anderer Meinung.

"Die spinnen, die Deutschen!"

Wenige Tage später gab es die nächste Begegnung mit Luciano: Ausgerechnet in dem Moment fuhr er im Auto an uns vorbei, als meine beiden großen Jungs im strömenden Regen wadenhoch in einer Pfütze standen und ausprobierten, wie dicht ihre bunten Gummistiefel wirklich sind. Wir nennen so was „Regenspaziergang“ und „Pfützenspringen“, und die Kinder lieben es. Luciano sah uns also aus dem Auto heraus im Regen spielen – aber ich hatte Glück: Für einen weiteren Luciano-Monolog war das Wetter zu schlecht. Aber wie würde Luciano im Auto reagieren? Immerhin: Er hat erst einmal gelächelt und gewunken. Beim Wegfahren allerdings hat er den Kopf geschüttelt und sich an die Stirn gegriffen. Ja, Luciano, das habe ich gesehen! „Die spinnen, die Deutschen“, so oder so ähnlich muss er wohl gedacht haben. Aber gut, mittlerweile haben wir uns an die mitleidigen Blicke der Italiener, und ich glaube, die Italiener sich an uns Kaltwetter-verrückte Deutsche gewöhnt.

Die ersten wärmeren Tage haben wir mittlerweile aber auch erlebt. Meine Jungs konnten schon mal ohne Jacke draußen in der Sonne spielen, ihre italienischen Freunde tauschen die Winterjacken erst bei mehr als 15 Grad durch Steppwesten. Aber dann! Dann kommen auch die Zitronenbäume von der Garage hoch ans Wohnzimmerfenster. Und wenn das Thermometer kurz vor der 20 steht, sind wir endlich wieder eins: Deutsche und italienische Kinder und Eltern gemeinsam auf dem Spielplatz, mein deutscher Enzian und mein italienischer Zitronenbaum gemeinsam auf der Terrasse. Die Rutschen sind wieder voll, die Schaukeln besetzt und auf dem Klettergerüst knubbeln sich die Kinder in T-Shirts. Das wird schön! Italiener? Deutsche? Deutsche? Italiener? Ganz egal. Diesen Unterschied sieht man eben nur in der Matschklamotten-Saison. Und die ist ja auch bald vorbei. Darauf freuen wir uns alle! „Viva la primavera!“, „Es lebe der Frühling!“, rufen die Italiener laut.  Und wir Deutsche fügen ganz leise hinzu: „Aber der Winter auch … “