Als Säugling kam Anja zu Schröders

Leben mit einer Adoptivtochter

Als Säugling kam Anja in die Familie Schröder. Die Adoptiveltern und ihr leiblicher Sohn berichten über das Leben mit dem adoptierten Familienmitglied.

Autor: Constanze Nieder

Der ersehnte Anruf: "Es ist eine Tochter"

Neugeborenes Mamas Hand haltend iStock markgoddard
Foto: © iStockphoto.com/ markgoddard

Zum ersten Mal haben Marion, Rolf und der damals fünfjährige Patrick Schröder* Anja auf der Straße gesehen: Das neugeborene Mädchen lag im Brutkasten und sollte gerade in eine Kinderklinik gefahren werden. "Das ging sehr ans Herz", erinnert sich Marion Schröder aus dem Rheinland, schließlich war dies die erste Begegnung mit ihrer Adoptivtochter.

Kurz nachdem Marion und Rolf Schröder geheiratet hatten, kam ihr Sohn Patrick zur Welt. Das Paar wünschte sich noch ein zweites Kind. Doch Marion Schröder wurde nicht schwanger, auch nicht mit medizinischer Hilfe. "Wir haben zwei Jahre lang probiert – ohne Erfolg. Dann kam für uns eine Adoption in Frage", berichtet der Vater. Es folgte eine Zeit der Formalien: Gespräche mit dem Jugendamt, Überprüfung der familiären Situation, Kontakte mit der Adoptionsvermittlungsstelle...

Schröders hatten Glück. Relativ schnell kam dann der ersehnte Anruf: "Da ist ein Kind unterwegs. Es wird in etwa acht Wochen geboren." Marion Schröder: "Wir wussten nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, ob es gesund oder krank ist. Das war uns egal. Wir haben uns einfach nur auf das Kind gefreut." Alles wurde jetzt für das Baby vorbereitet: Das Bettchen wurde aufgestellt, die Erstlingskleidung bereitgelegt, Windeln wurden gekauft, die Tasche fürs Krankenhaus musste gepackt werden.

Das Paar kannte den genauen Geburtstermin nicht und stand jederzeit auf Abruf. Irgendwann ging dann das Telefon. Das Krankenhaus rief an: "Es ist eine Tochter." Sofort fuhr die Familie zu ihrem neuen Familienmitglied, das bis dahin ohne Namen war. Die leibliche Mutter hatte den Kreißsaal kurz nach der Entbindung verlassen und ihre Tochter somit in die Obhut der künftigen Adoptivfamilie gegeben. Obwohl der Säugling voll ausgetragen war, war er stark untergewichtig und musste umgehend in eine Kinderklinik gebracht werden.

*Namen sind von der Redaktion geändert

"Mama, war ich auch in deinem Bauch?"

"Uns war von Anfang an klar, dass Offenheit ganz wichtig ist", betont Rolf Schröder. Daher wurde kein Hehl daraus gemacht, dass die Tochter adoptiert ist – andererseits wurde dies aber auch nicht zur Schau gestellt. Für den fünfjährigen Patrick war es damals auch kein Problem. "Anja war ohne Frage meine Schwester", versichert er heute. Mit der Aufklärung über Anjas Herkunft haben die Eltern schon im Kleinkindalter angefangen; Bilderbücher, in denen es um adoptierte Kinder ging, waren hier hilfreich. Von manchen Seiten sei allerdings Unverständnis gekommen, dass man Anja so früh die Wahrheit sagte.

Als Marion Schröder knapp fünf Jahre nach Anjas Geburt doch wieder schwanger wurde, kamen dann ganz gezielt Fragen ihrer Adoptivtochter. "Mama, war ich auch in deinem Bauch?" "Nein, Du warst in dem Bauch einer anderen Frau. Wir haben aber auf dich gewartet und uns sehr gefreut als du zu uns kamst", war die Antwort.

Adoptivkinder testen ihre Grenzen aus

Wenn man zwei leibliche und ein adoptiertes Kind hat, gibt es da Unterschiede? Ja und Nein meinen Schröders. Alle drei Kinder werden gleich stark geliebt. "Es gibt aber bestimmte Charakteristika bei Adoptivkindern. Das bestätigen uns auch immer wieder Familien, die ebenfalls Adoptivkinder haben", erklärt der Vater. Vor allem in der Pubertät testeten Adoptivkinder ihre Eltern – oft bis zur Schmerzgrenze – aus. Steht ihr auch noch zu mir, wenn ich lüge und stehle oder gebt ihr mich dann ins Heim (auch wenn diese Möglichkeit niemals zur Diskussion stand). Immer stehe die Frage im Raum: "Habt ihr mich noch lieb?"

"Je mehr Anja begriffen hat, dass sie adoptiert ist, also von ihrer Mutter abgegeben wurde, desto mehr wurden wir ausgetestet. Wir als Eltern hatten auch das Gefühl, Anja müsse mehr geleitet werden als die Söhne", berichten die Eltern. Die leiblichen Kinder hingegen hätten stets ein viel größeres Selbstbewusstsein gehabt, dass sie von ihren Eltern geliebt werden. Klar hätten auch die Söhne mal Mist gebaut, aber bei denen hätten sie sich als Eltern nie in Frage gestellt gesehen. "Bei Anja war das anders. Oft haben wir uns gefragt, warum macht sie das? Haben wir was falsch gemacht? Hat sie bei uns Unehrlichkeit gelernt?", so Rolf Schröder. Rückblickend meint seine Frau: "Zeitweise hatten wir ganz heiß die Befürchtung, dass Anja in der Gosse landet." Lügen, Stehlen und der Abbruch der Ausbildung gaben den Eltern Grund zur Sorge.

Mehrere Monate Funkstille

Irgendwann, da wohnte Anja schon nicht mehr zu Hause, haben die Eltern es nicht mehr ausgehalten. Polizei und Schulleiter hatten bei ihnen angerufen und gefragt, wo Anja sei. Die Telefonate hörten Schröders über Fernabfrage aus dem Urlaub ab und fuhren sofort wieder nach Hause. "Wir haben wirklich geglaubt, Anja wäre tot. Dann tauchte sie ohne Erklärungen wieder auf", so die Eltern. Das war der Punkt, an dem Schröders mit ihrer Tochter gebrochen haben: Aus Selbstschutz, aber auch damit Anja beginnt, ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Mehrere Monate hat diese Funkstille gedauert. Die Eltern: "Wir haben jeden Tag von Anja gesprochen. Aber sie musste den ersten Schritt tun." Das hat sie auch getan – an dem Tag, als sie doch ihre Ausbildung als Krankenschwester beendet hat. Marion Schröder betont: "Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, dass mein Kind draußen gut laufen kann."

Trennungsängste sind präsent

Typisch für Adoptivkinder sei aber auch ihre hohe Sensibilität. Rolf Schröder gibt hierfür ein Beispiel aus der Vergangenheit: "Meine Frau und ich haben uns gestritten. Patrick kommt an den Frühstückstisch und sagt: ´Habt ihr schon wieder Zoff?´ und geht dann. Anja kommt, merkt, dass etwas nicht stimmt, sagt keinen Ton und verschwindet auf ihr Zimmer. Höchstens fünf Minuten später wirft sie in ihrem Zimmer ein Regal um, beißt ihren kleineren Bruder oder stellt was anderes an, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von unserem Streit abzulenken. Grund hierfür ist die Angst, wir könnten uns trennen und sie würde uns verlieren."

Anja, aber auch andere Adoptivkinder, könnten mit Ablehnung nicht umgehen und würden sich und ihre Wünsche daher oft verleugnen. "Wenn beispielsweise beim Essen eine Wurst übrig blieb und ich fragte, wer die essen möchte, hat Anja niemals den Finger gehoben. Ich hätte mir manchmal gewünscht, sie hätte geschrieen, ich möchte sie haben", konkretisiert der Vater diese Beobachtung. Das Verheimlichen von schlechten Noten ("Nö, die Arbeit haben wir noch nicht zurück") sei ein Beispiel für mangelnde Konfliktfähigkeit, die ebenfalls bei vielen Adoptivkindern festzustellen sei. Schade findet es Rolf Schröder, dass sie damals keine Adressen von Selbsthilfegruppen hatten: "Es ist einfach wichtig, auch von den Erziehungsschwierigkeiten in anderen Adoptivfamilien mitzubekommen. Wir kennen keine Adoptivfamilie, in der es keine Schwierigkeiten gibt."

Die Sicht des leiblichen Sohns

Wie bewertet Patrick das Verhältnis zu seinen Geschwistern? "Anja ist selbstverständlich meine Schwester, die ich sehr lieb habe. Aber bei meinem Bruder ist es doch noch eine andere Selbstverständlichkeit, das ist einfach dasselbe Blut. Richtig erklären kann man das nicht. Anja muss ich schwören, dass ich sie lieb habe. Für Oliver ist das selbstverständlich. Er würde mich eher auslachen, wenn ich ihm sage, dass ich ihn liebe." Ganz vehement verneint Patrick die Frage, ob er selbst jemals ein Kind adoptieren würde: "Niemals." Zu gegenwärtig sind ihm die vielen Sorgen, die sich seine Eltern wegen Anja gemacht haben. Zeitweise war er richtig wütend, dass sie die Eltern so verletzt hat. "Auch wenn mir viele widersprechen werden, ich bin davon überzeugt, dass viele Dinge einfach genetisch bestimmt sind." Ganz von der Hand weisen möchte das auch sein Vater nicht: "Durch die Sozialisation kann man ein bisschen, aber nicht viel ändern." In manchen Situationen konnte man Parallelen zu Verhaltensmustern der leiblichen Mutter ziehen.

"Ein Leben ohne Anja ist nicht vorstellbar

So hat Anja ihr erstes Kind, das sie mit 20 Jahren bekam, zur Adoption freigegeben. "Das war für uns sehr schmerzvoll. Wir hätten sie unterstützt, sie hätte bei uns wieder ihr Zimmer haben können, wir hätten auf das Kind aufgepasst, so dass sie ihre Ausbildung hätte beenden können", erzählt Marion Schröder sehr bewegt. Anja hat sich trotzdem für die Adoption entschieden; die Eltern haben diese Entscheidung mitgetragen. Denn eines steht für sie unwiderruflich fest: "Ein Leben ohne Anja ist für uns nicht vorstellbar."

Lesen Sie auch, wie Anja ihren Status als Adoptivkind bewertet.

Literaturtipp:

  • Christine Swintek: Was Adoptivkinder wissen sollten und wie man es ihnen sagen kann, Herder, 1998.