Eine Adoptivtochter berichtet

"Meine Mutter ist mir fremd"

Als Säugling kam Anja in ihre Adoptivfamilie. Wie kommt sie mit diesem Status zurecht? Und wie ist es um ihre Gefühle für die leibliche Mutter bestellt?

Autor: Constanze Nieder

Anja Meier liebt ihre Adoptivfamilie über alles

Frau Blick aus Fenster berekin
Foto: © iStockphoto.com/ berekin

Als Säugling kam Anja in die Familie Schröder*. Ihre leibliche Mutter hat sie direkt nach der Entbindung zur Adoption freigegeben. Schröders haben außer ihrer Adoptivtochter zwei leibliche Söhne. Wie bewertet die junge Mutter ihren Status als Adoptivtochter? "Das war immer meine Familie, die Strukturen waren ja vollkommen klar. Meine Eltern haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie mich adoptiert haben. Schon als Kleinkind haben sie mir Bilderbücher vorgelesen, in dem die Adoption thematisiert wurde“, betont die Krankenschwester. Eltern sagt sie, nicht Adoptiveltern.

War sie denn nicht wütend auf ihre leibliche Mutter? "Nein, überhaupt nicht. Die Frau ist ein fremder Mensch für mich. Ihr gegenüber hatte ich eine Egal-Haltung. Ich bin ihr sogar eher dankbar. Wenn sie mich behalten hätte, wo wäre ich denn dann heute?! Ich bin froh, in so eine tolle Familie gekommen zu sein", antwortet die verheiratete Frau.

Kein Interesse an der "Suche nach den Wurzeln"

Ihre Adoptiveltern hätte das Thema viel mehr belastet als sie. Oft hätten sie die "Suche nach den Wurzeln" angesprochen. "Sie konnten gar nicht verstehen, dass ich gar kein Interesse daran hatte und glaubten, ich würde etwas verdrängen. Aber für mich gab es nichts zu verdrängen. Warum sollte ich meine leibliche Mutter vermissen, ich kenne sie ja gar nicht", erläutert Anja Meier. Auf Drängen ihrer Adoptiveltern hin hat sie, als sie 18 Jahre alt war, einmal mit ihrer leiblichen Mutter telefoniert: "Das war ganz gut, weil es mir meine Neugierde genommen hat. Es musste aber kein zweites Mal mehr sein." Kontakt zu ihrem leiblichen Vater hatte sie nie.

Heute tut es ihr Leid, dass sie ihren Adoptiveltern als Jugendliche viel Kummer (Abbruch der Ausbildung, plötzliches Verschwinden etc.) bereitet hat. "Ich weiß nicht, warum ich die Grenzen so sehr ausgetestet habe. Ich weiß auch nicht, ob ich so strapaziös war, weil ich adoptiert bin", meint sie und ergänzt: "Man weiß erst so richtig zu schätzen, was man an den Eltern hat, wenn man eigene Kinder hat."

*Namen von der Redaktion geändert

Das erste Kind gab sie zur Adoption frei

Ob es nun an dem Adoptivstatus liegt oder nicht, Anja Meier hat schon einige emotionale Tiefen überstanden. Zwischenzeitlich haben die Eltern einige Monate mit ihr gebrochen. Diese Zeit sei schrecklich gewesen. Ratlos und verzweifelt war Anja Meier auch, als sie mit 18 Jahren schwanger wurde. "Mein damaliger Freund wollte das Kind nicht. Für mich kam eine Abtreibung aber nie in Frage. Ich hatte aber keine Ausbildung. Es war eine ganz verzwickte Situation", erinnert sich die junge Frau.

Ihre Adoptiveltern hatten ihr angeboten, dass sie mit dem Kind wieder in ihr Haus ziehen und sie die Ausbildung beenden könnte. "Ich fühlte mich aber trotzdem nicht in der Lage, das Kind zu behalten. Es wäre ohne Vater aufgewachsen. Ich war hin und her gerissen, ob ich mein Kind behalten soll oder nicht. Im achten oder neunten Schwangerschaftsmonat stand dann für mich fest, dass ich das Kind zur Adoption freigeben werde“, so Anja Meier. Nach der Entbindung wurde ihr der Säugling, eine Tochter, nicht sofort weggenommen: "Ich habe Melanie gesehen und konnte mich von ihr verabschieden. Da es sich um eine offene Adoption handelte, kannte ich ja auch die Adoptiveltern und wusste, dass es meine Tochter dort guthaben würde."

Massive Schuldgefühle

Aber trotz des möglichen Kontakts zu Melanie und ihrer Adoptivfamilie hatte Anja Meier am Anfang mit ganz massiven Schuldgefühlen zu kämpfen. Auch für ihre Adoptiveltern war die von Anja getroffene Entscheidung sehr hart. Einen Tag bevor Anja Meier beim Notar ihre Einwilligung zur Adoption unterzeichnen musste, kamen ihr erhebliche Zweifel, ob das wirklich der richtige Schritt sei. "Ich habe lange mit meinem Vater telefoniert. Er hat mich zu nichts gedrängt, er hätte jede Entscheidung akzeptiert und mitgetragen", unterstreicht Anja Meier und führt aus: "Am nächsten Tag bin ich mit meinem Vater zum Notar gefahren."

"Wie kannst du nur dein Kind abgeben?"

Oft hat sie den Vorwurf von Freunden oder Bekannten gehört: "Wie kannst du nur dein Kind abgeben!? Gerade du, wo du doch selbst adoptiert bist." Anja Meiers Antwort: „Ja, gerade ich, weil ich möchte, dass es mein Kind auch so gut hat, wie ich es in meiner Adoptivfamilie habe."

Melanie sieht sie häufiger. Kürzlich war die Tochter mit ihren Adoptiveltern zu Besuch bei Familie Schröder. Das Ehepaar Meier war ebenfalls mit ihrem wenige Monate alten Sohn ("ein absolutes Wunschkind") anwesend. Als alle zusammen am Tisch saßen, fragte Melanie plötzlich: "Anja, warum hast du mich eigentlich abgegeben und Sven behalten.“ Eine Frage, mit der Anja Meier (so früh) nicht gerechnet hat. Verdutzt antwortete sie: "Das erzähle ich dir mal, wenn wir alleine sind."