Kolumne „Fröhliches Familienleben"

Warum Trotz nervt, aber stark macht

Wenn die Nerven einer Mutter ohnehin zum Zerreißen gespannt sind, weil ihre Tochter gerade ihren ersten Trotzanfall in der Öffentlichkeit durchlebt, kann sie auf eines garantiert verzichten: Auf bösartige Kommentare selbst ernannter Erziehungsprofis!

Autor: Felicitas Römer

„Ich will da aber nicht rein"

Felicitas Roemer

Als meine Tochter ihren ersten „Trotzanfall“ hatte, fiel ich aus allen Wolken. Wir bummelten zu zweit über den Weihnachtsmarkt, als mir die geniale Idee kam, mal eben kurz in einen Schuhladen hineinzuschauen. Irgendwie hatte ich plötzlich das dringende Bedürfnis, ein paar Stiefel anzuprobieren. „Ich will da aber nicht rein!“ schrie meine Kleine unvermittelt und stampfte energisch mit dem Fuß auf den Boden. Sie zog ihre kleine Stirn in viele viele Falten, ihre Augen funkelten böse. Huch! Ich erschrak und begann zu grübeln: Was hat sie plötzlich gegen diesen Laden? Hatte ich sie schon zu oft mit meinem Schuhtick genervt? Hatte ich was Falsches gesagt? Was tun? Ich versuchte es damit, ruhig zu bleiben: „Dauert auch nicht lang, versprochen!“ War ihr doch egal. Sie wollte einfach nicht, auch nicht kurz. Punktum, basta. Alle meine rhetorischen Überredenskünste versagten. Ich hatte keine Chance. „Nein, da geh ich nich‘ rein, ICH WILL NICHT!“ Ihr Widerstand wuchs, parallel dazu meine Hilflosigkeit. Da stand sie nun, eine kleine Zweijährige, überschäumend vor scheinbar grundloser Wut. Und das nur, weil ich in ein Schuhgeschäft gehen wollte? Ich verstand die Welt nicht mehr. Bislang war unser Zusammenleben doch so friedlich verlaufen. Harmonisch geradezu. Und nun dieses sinnfreie Gezeter?

Selbsternannte Erziehungsprofis

Während ich noch ratlos meinen wirren Gedanken nachhing, geschah das Unvermeidliche: Ein älterer Herr am Krückstock blieb stehen, warf erst einen leicht verächtlichen Blick auf mich, dann auf mein Rumpelstilzchen. „Die braucht wohl mal 'ne ordentliche Tracht Prügel!“, raunzte er mir zu. Na danke. Ein selbst ernannter Erziehungsprofi mit Überzeugungen der schwarzen Pädagogik hatte mir gerade noch gefehlt. Nun tobte meine Kleine noch mehr: „Neihein, brauch ich gaaar nihicht!“ schrie sie, hektisch nach Luft schnappend. Kaum dass ich dem Alten „So ein Blödsinn!“ hinterherrufen konnte, stand schon die nächste Schlaubergerin vor uns: „Wenn du nicht gleich artig bist,“ sagte sie und fuchtelte meiner Tochter mit dem Zeigefinger vor der Nase herum, “dann kommt der Nikolaus bestimmt nicht zu dir.“ Noch bevor ich auf diese konstruktive Replik argumentativ eingehen konnte, war die rüstige Rentnerin auch schon wieder verschwunden. Meinem kleinen Trotzkopf standen indessen die Tränen in den Augen: “Mama, stimmt das?“ schluchzte sie: „Kommt jetzt der Nikolaus nicht zu mir?“ - „Doch natürlich!“, sagte ich, mittlerweile selbst erschüttert über den Kummer, der mein Kind gepackt hatte, „der Nikolaus kommt auf jeden Fall.“

In diesem Moment ließ sie sich umarmen, sie legte ihr Köpfchen an meine Schulter, seufzte tief und beruhigte sich langsam. Dann richtete sie sich abrupt auf, wischte ihre Tränen weg und verkündete stolz: „So, und jetzt können wir in den Schuhladen gehen.“ Allerdings war ich dazu nun irgendwie zu erschöpft. Stattdessen kauften wir eine XXL-Portion Popcorn, stiefelten nach Hause, legten uns aufs Bett und blätterten stundenlang sehr nervenschonend in Bilderbüchern herum.

Zwischen Trennungsangst und Abenteuergeist

Dass es normal sein soll, dass Kinder zwischen zwei und fünf regelmäßig nicht immer nachvollziehbare Wutanfälle bekommen, hatte ich zwar seinerzeit schon mal vernommen. Ich wusste aber noch nicht, dass man die Trotzphase eigentlich „Autonomiephase“ nennen sollte. Dass in dieser Zeit das „Ich“ des Kindes erwacht und dass es sich hinfort permanent in einem „Zwiespalt zwischen Trennungsangst und Abenteuergeist“ befindet. Dass es sich ablösen will von der Mutter und gleichzeitig noch dringend ihre schützende und liebevolle Begleitung braucht. Ich wusste auch nicht, dass es für die Entwicklung meiner Tochter schädlich wäre, wenn ihr in dieser Lebensphase die Herstellung ihrer Autonomie nicht gelänge. Und glücklicherweise wusste ich damals auch noch nicht, dass das Trotzen des Kleinkindes nur eine niedliche Vorstufe dessen sein sollte, was später in der Pubertät abgehen würde.

Denn das ist bekanntlich die Trotzphase – Verzeihung: die Autonomiephase Nummero Zwo. Nicht, dass im Alter zwischen fünf und 13 Wutanfälle nicht vorkämen. Das Ich des Kindes schläft ja nicht irgendwann wieder ein, sondern wächst beständig weiter, und mit ihm sein Eigenwille. So ab 13 geht’s dann allerdings nicht mehr um Nikoläuse und Schuhläden. Dann geht’s um die Wurst. Um die Grundsätze unserer Erziehung, die da angezweifelt werden. Um unser Wertesystem, das in Frage gestellt wird. Der Trotz der Teenies hat eine andere Wucht. Klar, sie müssen ja auch diesmal wirklich loskommen von uns Eltern. Und Trotz ist nun mal ein probates Mittel, um sich innerlich zu distanzieren. Auch Erwachsene nutzen schließlich Trotz, um sich abzugrenzen. Männliche vor allem. Ich kenne da mehrere Exemplare, die durchaus subversive Energien mobilisieren, um gelegentlich mal ein moralisches Gebot oder Verbot zu unterlaufen. Du nicht?

Trotz kann ja auch eine treibende Kraft sein, zum Beispiel, wenn man etwas durchsetzen oder beweisen will: „Ich mach‘s aber trotzdem!“ lautet dann die fröhliche Parole. Und natürlich kann Trotz ohne Ende nerven. Soll er ja auch. „Kein' Bock!“ ist schließlich Widerstand pur. Herzlich Willkommen im Land der nach Autonomie strebenden Teenager!

Was auch helfen kann

Als mein jüngster Sohn vor einiger Zeit in einem Supermarkt ein lautstarkes Spektakel veranstaltete, weil ich ihm kein Spielzeugauto kaufen wollte, klopfte mir zur Abwechslung mal eine wohlmeinende Frau auf die Schulter: „Bin ich froh, dass ich das hinter mit habe!“, sagte sie und lächelte verständnisvoll. Ich dankte ihr von ganzem Herzen. Was eine solch kleine Geste nicht alles bewirken kann!

Eine Freundin – allseits bekannt für unkonventionelle Konfliktlösungsstrategien – erzählte mir, sie habe sich im Discounter einmal zu ihrem auf dem Boden liegenden, vor Wut zappelnden und kreischenden Sohn gelegt und ebenso zu schreien und strampeln begonnen. Woraufhin der Kleine sofort aufsprang, sich den Rotz von der Nase wischte, seine Mutter am Arm hochzog und sagte: „Komm, Mama, wir gehen, das ist ja voll peinlich, was du hier machst!“ Was die umstehenden Menschen zu diesem seltenen Schauspiel sagten, ist mir ebenso unbekannt wie wurscht. Ich kann nur allen Müttern raten: Klopft euch gegenseitig verständnisvoll auf die Schultern! Kostet nichts, hilft aber. Bestimmt!