Was wir von Eltern anderer Länder lernen können

Weltwissen der Kindererziehung

Michaela Schonhöft hat sich in ihrem Buch "Kindheiten" mit dem Weltwissen der Kindererziehung auseinandergesetzt. Wir wollten von ihr wissen, welche Tipps sie von ihren Reisen und Gesprächen mitgebracht hat.

Autor: Judith Harraß
Michaela Schonhöft Autorin
Foto: © Anke Jakob

Welche Erfahrung war für Sie die Wichtigste im Bezug auf den Umgang mit Kindern in anderen Ländern? 

Michaela Schonhöft: Ich habe mit Eltern, Wissenschaftlern und Familientherapeuten auf allen Kontinenten gesprochen. Sehr beeindruckt hat mich, wie Eltern in vielen ostasiatischen Ländern mit ihren kleinen Kindern umgehen, wie entspannt sie sind, dass sie sehr viel durchgehen lassen, zwar „dranbleiben“, aber nicht ständig mit Konsequenz oder gar Strafen drohen. Man verlangt kleinen Kindern noch kein großes Verständnis ab, versucht ihnen stattdessen ein gutes Vorbild zu sein, sie immer wieder sanft auf sozial akzeptables Benehmen hinzuweisen.

Es fällt oft schwer, die Perspektive von kleinen Kindern einzunehmen. Aber das Sprichwort „mit dem Kopf des anderen denken“ kann gerade bei kleinen Trotzköpfen Wunder bewirken. In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von psychologischen Entwicklungsstufen sehr verbessert. Trotzdem habe ich hierzulande oft das Gefühl, dass Eltern sich sehr schwer tun, die Perspektive der Kinder einzunehmen. Das fällt zum Beispiel vor allem Eltern in Japan wesentlich leichter.

Für nachahmenswert halte ich, wie selbstverständlich sich niederländische Familien Zeit für ihre Kinder nehmen, auch wenn dort die Zeiten schwieriger werden. Feierabend ist Feierabend sagt sich dort ein Großteil der Arbeitnehmer, und das gilt auch für die Väter. Den Familien ist bewusst, wie wichtig Zeit für die Familie ist. Wir versuchen inzwischen ebenfalls mindestens einmal am Tag zusammen zu essen. Ich lebe in einer Patchwork-Familie, mein Mann, ich, zwei Teenager, zwei Kleinkinder. Da entstehen schnell Konflikte, und gemeinsame Familienzeit ist unheimlich wichtig, um diese nicht unter den Tisch zu kehren oder gar eskalieren zu lassen.

Wo leben ihrem Eindruck nach die glücklichsten Kinder? 

Michaela Schonhöft: Glück lässt sich nicht auf einen Ort festlegen. Kindern geht es überall  tendenziell besser, wo ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind; wo sie genug zu essen haben, ein Dach über den Kopf, medizinische Versorgung genießen und zur Schule gehen dürfen. Kinder brauchen aber auch eine gute soziale Einbindung, einfühlsame Bezugspersonen, verlässliche Freundschaften. Studien weisen darauf hin, dass es Ländern wie Schweden, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden besonders gut gelingt, einen Großteil ihrer Kinder glücklich zu machen.

Sie geben Eltern die Möglichkeit, eine recht gute Balance zwischen Arbeit und Familienleben zu finden. Überstunden sind eher verpönt. Den Familien wird Zeit gegönnt, sie werden bei der Betreuung unterstützt. Die gesamte Infrastruktur, egal ob Hotels, Einkaufszentren oder Arbeitsplätze, ist grundsätzlich kinderfreundlicher als in anderen Ländern. Kinder fühlen sich in diesen Ländern tendenziell eher willkommen als zum Beispiel in Deutschland. 

Sind Kinder im allgemeinen glücklicher, wenn sie mehr Bezugspersonen haben (Stichwort: "Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen")? 

Michaela Schonhöft: Das kann man natürlich nicht generalisieren. Viel wichtiger ist die Beziehung zu den Bezugspersonen. Aber natürlich ist es gut, wenn ein Kind tolle Beziehungen zu mehreren Erwachsenen hat, ob nun zu Mutter, Vater, Tante, Lehrer, Erzieherin und so weiter. Das entlastet die Eltern und gibt dem Kind die Möglichkeit, in Stress-Situationen bei jemand anderem Trost zu finden. Andere Menschen haben vielleicht auch andere Lösungen.

Nicht immer gibt Mama die besten Ratschläge, auch wenn sie ihr Kind vielleicht am besten kennt. Schon kleine Kinder sind durchaus in der Lage sich auf mehrere warmherzige Betreuer einzustellen. Sie lernen, dass Menschen verschieden reagieren. Das muss nicht schädlich sein. Im Gegenteil: Sie erlernen soziale Kompetenzen, sie lernen verschiedene Menschen zu „lesen“. 

Was macht für Sie eine gute Mutter / einen guten Vater aus? 

Michaela Schonhöft: Gute Eltern haben keine Allmachtsgefühle und keinen Perfektionswahn. Sie nehmen sich Zeit für ihre Kinder, sie nehmen aber auch ihre eigenen Bedürfnisse ernst. Sie leben das vor, was sie ihren Kindern mit auf dem Weg geben möchten. Kinder sind extrem gut darin, widersprüchliche Botschaften zu erkennen.

Drohen mit Strafen, ein zu stark konsequentes Verhalten vor allem gegenüber kleinen Kindern kann die Eltern-Kind-Beziehung hart auf die Probe stellen. Kinder möchten instinktiv ihren Eltern gefallen, sie ahmen instinktiv auch ihr Verhalten nach. Das sollten sich Mütter und Väter stets bewusst machen. Wärme, Zuneigung, Geduld: Damit wird ein wirklich gutes Fundament gelegt.

Welchen Praxistipp legen Sie Eltern besonders ans Herz? 

Michaela Schonhöft: In Deutschland gibt es viele Diskussionen ums „Schlafenlernen“, als wären Kinder nicht selbst dazu in der Lage. In den meisten Kulturen dieser Welt machen Eltern nicht solch ein Gewese ums Schlafengehen. Gerade kleine Kinder haben ein natürliches Bedürfnis, besonders nachts, im Dunkeln, im ungeschütztesten Zustand die Nähe ihrer Mama oder ihres Papas zu spüren. Ihnen tut es gut, im Elternzimmer zu schlafen. Natürlich gibt es auch kleine Kinder, die kommen ganz prima mit einem eigenen Zimmer klar. Aber die Sensibelchen gehören gehört. Natürlich können die kleinen Strampler im Bett richtig nerven. Wir leben gerade einen guten Kompromiss. Meine beiden Töchter (3 und 5 Jahre alt) schlafen zwar bei uns im Zimmer, aber auf eigenen Matratzen neben unserem Bett. Das habe ich mir von japanischen Familien abgeschaut. Sie schlummern dort ganz hervorragend, und wir haben wieder Platz im Bett.

Bei Stress mit Teenagern können zwei zunächst scheinbar völlig entgegengesetzte Strategien helfen. Die Niederländer zum Beispiel haben Studien nach eine vergleichsweise sehr gute Beziehung zu ihren Kindern im Teenageralter. Die Beziehung ist sehr freundschaftlich. Es heißt dort: „Teenager brauchen genauso viel Zeit wie kleine Kinder“. Das stimmt. Gerade Heranwachsende benötigen sehr viel Aufmerksamkeit. Gleichzeitig suchen sie aber auch Abstand.

In einigen Inuit-Gesellschaften ist es üblich, dass Jugendliche, die sich viel mit ihren Eltern streiten, für eine Zeitlang in einen anderen Haushalt ziehen. Das entspannt das Verhältnis zu den Eltern. Man muss nicht gleich die Teenies aus der Wohnung werfen. Aber ein Wochenende bei einem Kumpel kann Wunder bewirken. Umgekehrt gewähren wir auch aufgebrachten Teenager-Freunden bei uns für ein paar Tage Unterschlupf. Der Perspektiven-Wechsel beruhigt die Gemüter häufig, auf beiden Seiten.