Wenn die Buchstaben durcheinander purzeln

Mein Kind hat Legasthenie

Ein Leben ohne Lesen und Schreiben können wir uns nicht mehr vorstellen. Doch rund fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden an einer Lese-Rechtschreibschwäche. Wie Kindern geholfen werden kann, erfahren Sie in diesem Artikel.

Autor: Andrea Lützenkirchen

Die häufigste Lernstörung

Schueler Lesen Schwierigkeit
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Ein Leben ohne Lesen und Schreiben können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Dabei sind diese elementaren Kulturtechniken erst seit rund 3000 Jahren Bestandteil unseres Lebens. Diesen - auf die Menschheitsgeschichte gesehen - kurzen Zeitraum machen Genetiker dafür verantwortlich, dass Störungen beim Lesen- und Schreibenlernen immer noch so häufig auftreten.

Im ersten Schuljahr machte Darius das Lesen- und Schreibenlernen anfangs viel Spaß. Doch schon nach ein paar Monaten war ihm die Lust auf die Schule gründlich vergangen. Darius merkte, dass er viel mehr Schwierigkeiten als seine Klassenkameraden hatte, einen kurzen Text zu lesen und die Wörter so zu schreiben, wie die Lehrerin es haben wollte. Mit der Zeit bekam er richtig Angst davor in die Schule zu gehen. Lesen und Schreiben braucht man auch in Sachkunde und selbst in Mathe, seinem besten Fach, stehen Textaufgaben im Programm. Die Buchstaben purzelten vor seinen Augen einfach durcheinander. Aber es dauerte noch mehr als ein Jahr, bis eine Lese-Rechtschreibschwäche bei Darius diagnostiziert wurde.

Ein Kind in jeder Klasse

Wie Darius ergeht es vielen Kindern. Rund fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden an Legasthenie bzw. Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Statistisch ist das ein Kind in jeder Klasse. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen liegt bei 3:1. Obwohl so verbreitet, dauert es oft Jahre, bis endlich herangezogene Kinderpsychologen oder Kinder- und Jugendpsychiater eine Lese-Rechtschreibschwäche diagnostizieren. Viel zu lange glauben Eltern und Lehrer, dass das Kind einfach mehr für die Schule tun muss. "Du musst mehr üben, streng dich doch mal an", sagen sie dann. Viele Kinder geben sich auch größte Mühe, um dann doch wieder Misserfolge einzustecken. Allerdings ist es auch keine leichte Aufgabe unter 30 Leseanfängern in einer Klasse, die alle so ihre Probleme haben, eine Lese-Rechtschreibschwäche zu erkennen. Dabei ist eine frühe Diagnose und Therapie wünschenswert: Je früher LRS bei einem Kind erkannt wird, desto früher können ihm die Menschen in seine Umgebung Verständnis für seine Schwierigkeiten entgegenbringen und mit professioneller Förderung unterstützen.

Dauer-Diktate nützen nichts

Legasthenie ist nicht die Folge mangelnder Intelligenz oder schlechten Unterrichts. Viele legasthene Kinder sind – wie Darius auch – sogar besonders klug und begabt. Eher scheint es so, dass LRS vor allem genetisch bedingt ist und vererbt werden kann. Schwedens König Karl Gustav zum Beispiel gab seine Lese-Rechtschreibschwäche an alle seine drei Kinder weiter.

Ebenso wie bei der Dyskalkulie (Rechenschwäche) handelt es sich bei der Legasthenie um eine Lernstörung. Die Kinder haben zum Beispiel Probleme damit, sich das Erscheinungsbild von Buchstaben und Wörtern zu merken oder Laute zu erkennen und schriftlich korrekt wiederzugeben. Viele vertauschen die Buchstaben und sie haben Schwierigkeiten dabei, die Regeln der Rechtschreibung einzuhalten, Texte aufzunehmen und wiederzugeben. Es fällt den Kindern schwer, vor allem unbekannte Lautabfolgen im Gehirn abzuspeichern. Zudem ist das Kurzzeitgedächtnis der Kinder oft schwach ausgeprägt, d. h.: Was heute gelernt wurde, ist morgen schon wieder vergessen. Aus diesem Grund nützen Dauer-Diktate und Einpauken der korrekten Schreibweise wenig.

Wie findet man geeignete Therapeuten?

Eine Anlaufstelle für die Suche nach einem Therapeuten stellen zum Beispiel die Landesstellen des "Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie" (BVL) dar. Hier können Adressen erfragt werden. Die Berufsbezeichnung "Legasthenie-Therapeut" ist jedoch nicht gesetzlich geschützt oder an an eine bestimmte Berufs- und Weiterbildungsordnung gebunden und gibt daher keine Auskunft über die Seriosität bzw. die Qualität eines Therapeuten. Auch Lehrer sind durch ihre Ausbildung im Allgemeinen nicht von vornherein für diese Tätigkeit qualifiziert. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesverband (BVL) in Hannover einen Standard entwickelt mit dem Ziel, mehr Qualität und Transparenz in der Weiterbildung für Legasthenie-Therapeuten zu bringen. Ausbildungseinrichtungen können sich von einem Zertifizierungsteam des Bundesverbandes überprüfen lassen und erhalten bei Erfüllung der Anforderungen das BVL-Zertifikat. Außerdem erhalten Teilnehmer, die erfolgreich an einer Ausbildung in einer zertifizierten Einrichtung teilgenommen haben, den Titel "Dyslexietherapeut", der durch den Bundesverband rechtlich geschützt ist. Das erste Ausbildungsangebot wurde im Dezember 2005 zertifiziert. Die entwickelten Mindeststandards sind auf der Homepage des BVL einsehbar und können Eltern auch zur Orientierung dienen, wenn sie sich auf die Suche nach einem geeigneten und entsprechend ausgebildeten Therapeuten machen.

Therapie-Möglichkeiten

Jedes Kind hat seine eigene Legasthenie, d. h. sein individuelles Störungsmuster im Umgang mit der Sprache. Mit Hilfe von umfangreichen Tests werden diese speziellen Probleme genau herausgefiltert. Lässt das Kind Silben aus? Werden bestimmte Buchstaben immer wieder verwechselt? Die dann folgende Legasthenie-Therapie dauert mehrere Jahre. Wichtig dabei ist die enge Zusammenarbeit von Kind, Eltern, Lehrern und Therapeuten. Inhalt der auf das jeweilige Kind zugeschnittenen LRS-Behandlung ist eine Kombination aus Rechtschreibtraining, lernstrategischen Programmen, psychomotorischen Übungen, Entspannungsübungen und psychotherapeutische Maßnahmen. Völlig geheilt werden kann die Legasthenie nicht.

Alternative Behandlungsmethoden

Für den Bereich LRS wird auch eine große Fülle von so genannten alternativen Behandlungsmethoden angeboten, deren Erfolg oder Misserfolg bisher nicht wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel der Einsatz von Kinesiologie, eine Bewegungslehre, die Heilung bei verschiedensten Krankheiten verspricht, indem sie Störungen im Energiefluß wieder in Bewegung bringt. Dazu werden beispielsweise Akupressur- und Reflexzonenpunkte stimuliert und bestimmte Bewegungsabfolgen trainiert.

Kostenübernahme

Legasthenie und Dyskalkulie sind zwar als Krankheiten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt, ihre Behandlung wird jedoch von den Krankenkassen nicht finanziert. Die Kostenübernahme für eine außerschulische Förderung kann in bestimmten Fällen - zum Beispiel für den Fall, dass dem betroffenen Kind durch seine Problematik ein seelischer Schaden droht - beim Jugendamt der jeweiligen Stadt beantragt werden. Dann wird geprüft, ob der Anspruch auf so genannte Eingliederungshilfe nach dem Jugendhilfegesetz (§35a SGB VIII) besteht.

Darius geht jetzt übrigens wieder gerne in die Schule. Er wiederholt die 3. Klasse und fährt zweimal die Woche zur LRS-Therapie. Es erleichtert ihn sehr, dass er im Schreiben und Lesen vorläufig keine Noten mehr bekommt. Bewertet werden seine inhaltliche Leistung und seine Mitarbeit im Unterricht.

Linktipp

Übrigens: Das prämierte Online-Projekt LegaKids der Legasthenie-Therapeutin Dr. Britta Büchner und des Psychotherapeuten Michael Kortländer gibt Kindern, Eltern, Lehrern und anderen Interessierten Hilfestellung zum Umgang mit und Informationen über Legasthenie, Lese-/Rechtschreibschwäche und LRS. Außerdem erhalten Kinder in einem speziellen Kids-Bereich spielerische Anregungen und Übungsmöglichkeiten in Form von Hörspielen, Online-Lern- und Lesespielen und vielen Tipps & Tricks - mit dem Ziel legasthenen Kindern Mut und Selbstvertrauen zu geben und ihre Lernfreude zu fördern: www.legakids.de.