Zwischen Yin und Yang

Tai Chi in der Schwangerschaft

Beim Tai Chi wurzelt der Übende mit seinen Füßen in der Erde und trägt mit dem Kopf den Himmel. Tai Chi lässt die Lebensenergie in der Schwangerschaft strömen.

Autor: Gabriele Möller

Wo die Lebensenergie ungehindert strömt

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Foto: © Fotolia / WavebreakmediaMicro

Ich betrachte skeptisch meinen Bauch. Ich bin im siebten Monat schwanger und irgendwie kneift es mich heute morgen an allen Ecken und Enden. Der Ischiasnerv tut so bös weh, dass ich kaum zehn Schritte laufen kann, die Schultern sind verspannt, und als ob das noch nicht reicht, scheint das Baby irgendwo zwischen meinen Rippen festzuklemmen, jedenfalls drückt’s teuflisch. Ich bekenne: Bisher war ich zu träge, zusätzlich zum üblichen Geburtsvorbereitungskurs noch weitere Maßnahmen zu ergreifen, die mich in eine topfitte Bilderbuchschwangere hätten verwandeln können. Doch jetzt wird alles anders, schwöre ich mir ächzend. Ich werde mein seit Monaten vernachlässigtes Tai Chi ausgraben und wieder anfangen zu üben. Jetzt. Sofort.

Im Unterbauch ist das Zentrum von Geist und Körper

Ich fange wieder bei Null an, wie damals im VHS-Kurs: „Arme heben und senken“. Kann ja nicht so schwer sein, und tatsächlich - das mit dem Koordinieren der Atmung beim Heben und Senken und dem gleichzeitigen In-die-Knie-gehen klappt noch. Na also. Obwohl...der Bauch ist irgendwie schon arg schwer, es ist gar nicht so einfach, aus dem leichten Beugen der Knie wieder aufzutauchen... Trotzdem beschwingt durch meine offensichtlich immer noch stählerne Kondition mache ich weiter. Jetzt die Übung „Das Zentrum drehen“, prima, macht immer besonders viel Spaß. Entspannt lasse ich die leicht abgespreizten Arme und den Oberkörper hin und her schwingen. Wichtig: Die Bewegung muss aus dem Zentrum, dem Unterbauch (im Tai Chi auch „Zinnoberfeld“ genannt) kommen. Den kann ich zwar zur Zeit nicht mehr sehen, weil mir der stinknormale Schwangerschaftsbauch die Sicht versperrt, aber egal.

Überhaupt spielt der Unterbauch beim Tai Chi eine zentrale Rolle. Denn hier, und nicht - wie unsere westliche Vorstellung glaubt in Kopf oder Herz – sitzen nach chinesischer Auffassung Geist und Lebensenergie.

Im Boden wurzeln und den Himmel stützten

Wörtlich übersetzt heißt Tai Chi „Der große First“. Der ist tief in der Erde begründet und trägt zugleich die Himmelskuppel. Beim Tai Chi wurzelt so auch der Übende mit seinem Füßen in der Erde und trägt mit dem Kopf den Himmel – so stellt man es sich zumindest vor. Im übertragenen Sinne heißt Tai Chi jedoch auch „Höchstes Prinzip“. Dieses Prinzip enthält die beiden inzwischen auch in der westlichen Hemisphäre altbekannten gegensätzlichen Pole Yin und Yang, die harmonisiert werden sollen. Yin, der schwarze Teil des Kreises, drückt sich aus durch Sanftheit, Mond, Dunkelheit, Nacht, Immaterielles, Weibliches und Passivität.

Yang, der weiße und den Kreis vervollständigende Teil, drückt sich aus durch Positivität, Aktivität, Härte, Sonne, Helligkeit, Tag, Materielles, Männliches. Zentrale Bedeutung haben bei der Harmonisierung der Einsatz von Yi, der Vorstellungskraft, und Chi, der Lebensenergie. Letztere soll auf den Energieleitbahnen (Meridianen) im Körper möglichst ungehindert fließen. Und damit sie das auch tut, übe ich weiter.

Tai Chi wirkt weit in den Alltag hinein nach

Inzwischen bin ich bei der Übung mit dem poetischen Titel „Die Hände wie Wolken bewegen“ angelangt. Auch die ist Dank der langsamen Bewegungen auch mit Bauch noch gut zu machen. Überhaupt kann ich mich immer wieder für die wunderschönen Namen der einzelnen Tai Chi-Elemente begeistern. Allerdings scheinen mir manche der Namen nicht so ganz zu meinem augenblicklichen Zustand zu passen. Bei „Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus“ – muss ich kichern, gleiche ich doch momentan eher einem schwerfälligen Wal als einem schlanken Kranich. Aber was soll’s. Ungerührt spreize ich kranichgleich die Flügel, äh, die Arme und ignoriere den Bauch.

Aber im Ernst: Tatsächlich fühlt man schon nach kurzer Übungszeit, wie innere Ruhe sich einstellt, wie die Atmung immer tiefer in den Bauch geht, wie die Wand zwischen Ich und Welt durchlässiger wird und Begrenzungen sich auflösen. Noch Stunden danach atmet man anders und bewegt sich langsamer und harmonischer, Stress und fahrige Hektik fallen ab. Und gerade in der Schwangerschaft kommt dann nach einiger Zeit des Übens die schönste Belohnung: Die Ischiasschmerzen verschwinden, der Rücken tut abends kaum noch weh, man schläft besser – und sogar der Bauch kommt einem leichter vor.

Ein Ersatz für einen Geburtsvorbereitungskurs ist Tai Chi nicht, aber sicher ein prima Ergänzung, die Selbstsicherheit und ein tolles Körpergefühl – beides auch wichtig für die Geburt - vermittelt. Für die Geburt selbst braucht man jedoch schon noch ein paar weitere Kniffe, schließlich kann man schlecht während der Presswehen anfangen, die imaginäre „P’i P’a (Harfe) zu spielen und dabei den Tiger zu umarmen“, wie es eine besonders schöne Übung verlangt...

Infos

Tai Chi wird in fast allen Volkshochschulen, aber auch von Familienbildungsstätten und anderen Häusern der Erwachsenenbildung angeboten. Es gibt jedoch auch Schulen für asiatische Künste, die Tai Chi im Programm haben, sowie eigene Tai Chi-Schulen.