Kommentar

Pränatale Diagnostik: Die heimliche Auslese

Die meisten werdenden Eltern nehmen gern die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen wahr, mit wirklich auffälligen Ergebnissen rechnen sie aber nicht. Was würde eine Fehlbildung konkret bedeuten? Ein Kommentar.

Autor: Gabriele Möller

Pränatale Diagnostik: Das Risiko, sich entscheiden zu müssen

Kommentar Pränatal Diagnostik
Foto: © colourbox

Jede Schwangere wünscht sich ein gesundes Kind. Die meisten nehmen daher gern die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen wahr. Doch die wenigsten Frauen fragen sich, was es eigentlich für sie bedeutet, wenn der Arzt eine Fehlbildung oder Entwicklungsstörung ihres Babys feststellt. Eine Schwangere sollte sich bei jeder einzelnen Untersuchung (z.B. der Nackenfaltenmessung) vorher überlegen, ob sie die Diagnose überhaupt erfahren möchte, der Test also überhaupt durchgeführt werden muss. Wird sie sich doch in vielen Fällen vor die Alternative Abtreibung – ja oder nein gestellt sehen. Denn auch wenn die pränatale Medizin einige Erkrankungen behandeln kann, sind doch die meisten festgestellten Störungen nicht zu beheben. Tatsächlich entscheiden sich über 90 Prozent der Frauen, bei deren Kind ein Down-Syndrom oder eine Spina bifida (offener Rücken) festgestellt wird, für eine Abtreibung.

Späte Abtreibung: "Oldenburger Baby" macht das Dilemma überdeutlich

Da die Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Diagnose oft schon recht weit fortgeschritten ist, werden immer wieder Babys abgetrieben, die eigentlich schon außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wären (die Fristenregelung des § 218 gilt nicht bei der sog. medizinischen Indikation, die nach der Zumutbarkeit der Schwangerschaft für die Mutter fragt). Der spektakulärste Fall ereignete sich 1997 in Oldenburg. Tim, ein Junge mit Down-Syndrom, der in der 25. Schwangerschaftswoche abgetrieben wurde, starb nicht. Stundenlang sahen die Mediziner zu, wie das Kind nach Luft rang. Es überlebte schließlich mit schwersten zusätzlichen Behinderungen. Zahlreiche Ärzte sind daher inzwischen dazu übergegangen, das Baby in diesem Stadium der Schwangerschaft bereits im Mutterleib zu töten – nicht zuletzt um Unterhaltsansprüchen wegen einer misslungenen Abtreibung zu entgehen.

Spätestens hier krampft sich den meisten Menschen vor Entsetzen das Herz im Leibe zusammen. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass diese Dinge täglich in unserem Land passieren und sicher ein zu hoher Preis für ein - zugegebenermaßen bequemeres - Leben ohne ein behindertes Kind sind.

Auf (gesunde) Kinder gibt es keine Garantie

Es stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob eine werdende Mutter ein bereits lebensfähiges Kind töten lassen darf, mit der Begründung, es stelle eine unzumutbare Belastung für sie dar. Hat nicht jedes (behinderte) Kind ein Recht auf sein Leben, das ihm auch die eigene Mutter nicht absprechen darf, unabhängig davon wie klein es noch ist? Es soll keinesfalls behauptet werden, betroffene Schwangere machten sich die Entscheidung für eine Abtreibung leicht. Jedoch darf auch nicht übersehen werden, dass nicht selten eine Anspruchshaltung der Mutter oder des Paares hinter der Entscheidung steht, ein behindertes Kind abzutreiben: Unser Kind soll bitteschön ein gesundes Kind sein, ein anderes kommt uns gar nicht erst ins Haus. Schließlich würden wir ja auch eine Stereoanlage nur kaufen, wenn wir auch eine Garantie auf sie erhalten. Die Zumutbarkeitsregelung der medizinischen Indikation im § 218 ist in vielen Fällen leider nur Vorwand, ein nicht der sogenannten Norm entsprechendes und daher unerwünschtes Kind abzutreiben. Sonst wäre die Abtreibungsquote bei behinderten Kindern nicht so überaus hoch.

Zu Recht sprechen viele Kritiker der pränatalen Diagnostik daher von einer neuen Form der Euthanasie (Vernichtung lebensunwerten Lebens), wie sie in anderer Form bereits während der Zeit des Nationalsozialismus praktiziert wurde.

Wir dürfen unsere gewachsenen Ansprüche innerhalb der Konsumgesellschaft nicht mit den Gegebenheiten des menschlichen Lebens verwechseln. "Es gibt weder Anspruch auf ein Kind noch Anspruch auf ein gesundes Kind", heißt es zu Recht in Absatz VI der "Ethik-Charta", einem Positionspapier, das mit Hilfe zahlreicher Politiker und Professoren von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Paolo Bavastro anlässlich des "Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin" des Europarats erarbeitet wurde.

Auf dem Weg in die mitleidlose Gesellschaft

Wohin bewegt sich eine Gesellschaft, die ein krankes oder behindertes Kind für nicht lebenswert genug hält, um sein Leben gesetzlich zu schützen? Und die in vielen Fällen vielleicht sogar die Mutter indirekt dazu drängt, ihr Kind abzutreiben, weil diese sich im Schoß der Gesellschaft mit einem behinderten Kind nicht akzeptiert und aufgehoben genug fühlt, um das Wagnis eines Lebens mit ihm einzugehen. Der Glaube an den Anspruch auf ein gesundes Kind um wirklich jeden Preis wird auch das Leben Behinderter und aller nicht der "Norm" entsprechenden Menschen schwerer machen. Für sie wird es noch weniger Verständnis und Akzeptanz geben in einer Welt, in der es als zunehmend normal und akzeptabel gilt, Kinder bereits vor der Geburt zu selektieren, um die unvollkommenen auszusondern und wegzuwerfen. Behinderung wird – fälschlicherweise - zunehmend als vermeidbares Übel angesehen werden.

Einige Juristen haben bereits Versuchsballons starten lassen, wonach eine Frau, die wissentlich ein behindertes Kind austrägt, allein für die Folgekosten der Krankheit aufkommen solle – wie es in den USA schon vielfach der Fall ist. Ein behindertes Kind auszutragen könnte somit von der Gesellschaft bald als unsozial betrachtet werden, was das Leben dieser Menschen weiter erschweren würde. Der naive Glaube, Behinderung, Krankheit und Leid würden eines Tages besiegt sein, wird sich dennoch als Illusion erweisen. Denn er übersieht, dass die weitaus meisten Behinderungen und Krankheiten nicht angeboren sind, sondern im Laufe des Lebens erworben werden.

Ein Kompromiss: Lebensfähigkeit vs Leidensfreiheit

Doch soll hier keineswegs einer einseitigen Sichtweise das Wort geredet werden. Wo die pränatalen Untersuchungen helfen, ein Kind zu heilen, sind sie zweifellos sinnvoll. Und natürlich gibt es andererseits Fälle von so schweren Entwicklungsstörungen und Krankheiten, dass es für die Mutter kaum als zumutbar betrachtet werden kann, eine Schwangerschaft fortzusetzen. Wenn zum Beispiel schon in der 20. Woche klar ist, dass das Kind keine Nieren oder kein Gehirn angelegt hat, und daher spätestens kurz nach der Geburt sterben wird. Eine Frau dann dazu zu zwingen, dieses Kind noch 20 weitere Wochen lang zu tragen, um es dann gleich nach der Geburt zu verlieren, wäre undenkbar – es sei denn, sie wünscht dies. Hier ist vielleicht der Vorschlag des evangelischen Theologen Prof. Dr. Ulrich Eibach eine praktikable Lösung, wonach die Lebensfähigkeit bei weitgehender Leidensfreiheit des Kindes nach der Geburt ausschlaggebendes Kriterium sein sollte bei der gesetzlichen Regelung einer Abtreibung in diesen Fällen. Zwar lässt sich die Lebensfähigkeit nicht in allen Fällen zweifelsfrei bestimmen, dazu ist das Leben viel zu komplex. Aber es wäre trotz der möglichen Grenzfälle ein ethisch annehmbarer Kompromiss.