Aussagekräftiger Text.

Hast du gehört, dass Familie Schmidt ihr Kind in die Notbetreuung gibt, obwohl sie mit dem Baby zuhause ist? - Das weißt du. Aber dass die Mutter eine schwere Wochenbett-Depression hat, das weißt du nicht.
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Neulich hat der Vater seinen Sohn Moritz auf dem Spielplatz angeschrien. Ekelhaft! - Das hast du gehört. Aber du hast nicht gesehen, dass er sich den ganzen Vormittag so toll um ihn gekümmert hat und er nachts kein Auge zubekommt, weil er um seinen Job bangt.
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Die Einkäufe von Frau Maier sind echt übel. Nur Billigzeug in Plastik! - Ganz genau hast du die Waren analysiert, die sich langsam über das Band schoben. Aber du hast übersehen, dass der Kredit für die Wohnung zur Zeit alles Geld verschlingt, weil die Familie seit März fast keine Einnahmen hat und die versprochene staatliche Hilfe ausbleibt.
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Familie Kunz lässt sich jede Woche essen liefern, damit sie nicht immer für alle kochen müssen. Dabei haben sie sich das doch selbst ausgesucht mit all den Kindern! - Das siehst du, aber dass die Eltern sich mit spielen, unterrichten und arbeiten im Akkord abwechseln, das siehst du nicht.
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Jammern in Deutschland mag auf hohem Niveau sein. Aber trotzdem dürfen wir es - denn gestern, heute und morgen zerbrechen Familien, gehen Betriebe pleite und jeden Abend weinen sich hierzulande verzweifelte Menschen in den Schlaf.
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Bitte schaut nicht weg, wenn jemand jammert, sondern im Gegenteil: Seht genauer hin. Der Weg, woher sie kommen, hat ihnen vielleicht alles abverlangt und sie brauchen nun Verständnis und ein offenes Ohr, keinen Spott.
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Wir alle haben gerade eine große Last zu tragen und keiner weiß, wem sie als Nächstes zu schwer wird.
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Autorin: Muttiversum
Für gut befunden und geteilt!

1

Es ist ja immer so, dass man nur Fassaden sieht. Das erinnert mich an den Poetry Slam Text von Anke Fuchs: "Was wisst ihr denn eigentlich schon davon?".

2

Hallo!

Ich kaue schon seit ein paar Tagen an diesem Text herum und frage mich, was mich stört. Jetzt weiß ich es!
Mich stört diese Doppelmoral. Wieso muss man das Verhalten eines Mitmenschen überhaupt werten? Es ist vollkommen egal, was dahinter steht. Vielleicht ist auch jemand nur grundlos wütend oder benimmt sich schlecht. Die erste Frage sollte dann immer sein:
"Betrifft es mich?" Nein? Dann abhaken! Was gehen mich die Einkäufe der Nachbarn an oder das Spielverhalten von Mutti X? Wieso muss ich wissen, warum irgendein eine Notbetreuung hat und meines nicht?
Die zweite Frage : "Muss ich eingreifen?" Wenn ja: machen. Wenn nein. Abhaken!

Wenn mir jemand erzählt, dass es ihm schlecht geht, dass da Sorgen sind, dann geht mich das was an, dann höre ich zu und habe vielleicht ein Hilfsangebot parat. Und sonst geht es mich nichts an. Gar nichts! Sowieso gilt immer: Ruhig bleiben, niemals zurückpöbeln. Nichts irritiert Wütende mehr als konsequente, distanzierte Freundlichkeit.

Sollte ich mich mal daneben benehmen, weil ich Kummer habe, dann wünsche ich mir, dass die Leute mich behandeln wie immer. Ich würde mir wünschen, dass mir die, die ich vielleicht beschimpfe, ein ruhiges "So nicht!" ansagen, aber ich will nicht, dass mich gleich tiefenpsychologisch analysieren.

An dem Text stört mich also die Doppelmoral und das versteckt Neidische.

LG