Ich fühle einfach keine Trauer, was ist falsch bei mir?

Hallo zusammen,

mein Opa ist am 01. Oktober nach kurzer, schwerer Krankheit mit 89 Jahren verstorben. Wir standen uns unheimlich nahe, er war wie mein bester Freund. Ich habe ihn fast jeden Tag besucht oder wir haben ganz oft telefoniert. Er war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Seine Frau, meine Oma, ist schon seit 9 Jahren tot und er hat immer davon gesprochen, wie gerne er doch zu ihr möchte und dass er keine Lust mehr hat zu leben. Trotzdem hatten wir echt schöne Zeiten zusammen.
Wir glauben beide sehr an ein Leben nach dem Tod und haben darüber oft philosophiert.
Wieee oft habe ich mit ihm darüber gesprochen, wieviel Angst ich davor habe wenn er eines Tages stirbt. Habe oft bei dem Gedanken, dass er tut ist geweint.
Nun ist der Tag vor knapp 3 Wochen gekommen und klar habe ich ein paar Tränen vergossen, er lag nach einer plötzlichen Darm OP 3 Tage ohne Bewusstsein auf der Intensiv bevor er gestorben ist. Wir haben uns verabschieden können und dabei habe ich natürlich geweint. Aber es tut alles nicht ansatzweise so weh wie ich immer dachte. Es kommt irgendwie gar nicht richtig an, die ganze Zeit denke ich ich muss ihn doch mal wieder anrufen, oder ,,was würde Opa zu dieser und dieser Sache sagen“ Etc.
Morgen ist die Beerdigung aber ich fühle einfach nichts. Ich kann kaum weinen, ich fühle keinen inneren Schmerz, selbst wenn ich Fotos von ihm anschaue ist da kein Schmerz.
Langsam macht mir das irgendwie Sorge. So nah wie wir uns standen müsste ich eigentlich in Trauer versinken. Wie kann das sein?

Liebe Grüße

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Hallo du,

zunächst mal mein herzliches Beileid zum Verlust deines Opas. Man kann sehr gut aus deinen Zeilen herauslesen, wie nahe ihr euch standet. Es ist so schön und wertvoll, so eine tolle Opa-Enkel-Beziehung gehabt zu haben.

"So nah wie wir uns standen müsste ich eigentlich in Trauer versinken. Wie kann das sein?"

Wer sagt das denn, dass du das "müsstest"? Was muss man denn überhaupt, wenn man trauert, in deinen Augen?

Ich sehe es so, dass Trauer und der Umgang mit einem Verlust so individuell ist wie jeder Mensch selbst. Nachdem ich über den Tod meiner Tante benachrichtigt wurde, mit der ich ebenfalls ein sehr enges Verhältnis hatte (leider konnte ich mich nicht vorher verabschieden), war ich sehr traurig und habe viel geweint. Zwei Tage später war das vorbei und ich fühlte, ähnlich wie du, nichts. Oder zumindest glaubte ich das. Es ist einfach Leere, die man fühlt. Ich hatte keine Kraft mehr zu weinen, während der Alltag um mich herum einfach weiterging - warum auch nicht, die Welt bleibt ja nur für einen selbst kurz stehen. Auch bei ihrer Beisetzung, wo ich sie nochmal sah: keine einzige Träne. Es mag sein, dass das für andere befremdlich war, aber was interessieren einen schon die anderen in der eigenen Trauer? Ich bin übrigens nach wie vor traurig, ich vermisse sie noch heute und ihr Bild steht bei mir im Wohnzimmer - ich kann es noch heute nicht anschauen, ohne diesen Stich im Herzen zu spüren, ohne sie unendlich zu vermissen. Auch ich denke heute noch manchmal, Mensch, die Tante müsstest du mal wieder anrufen, die hatte doch dieses unfassbar köstliche Plätzchenrezept...tja, war wohl nix. Dafür bin ich schon über vier Jahre zu spät dran. Dann fließen auch mal wieder Tränen, dann werde ich auch noch manchmal wütend, warum sie so verdammt früh schon gehen musste.

Was will ich dir damit sagen?
Trauern ist kein Prozess, der nach Schema F abläuft - Trauern ist auch mehr als bloß Weinen. Trauern, das ist das ganze Spektrum vom Nicht-Fassen-Können, vom Verdrängen-Wollen, vom Wütendsein und Vermissen, und ja, auch vom Lachen, vom Sich-Erinnern und von Normalität. Denn dein Leben geht ja trotz allem weiter, die Banalität des Alltags hat einen schnell wieder im Griff...und das ist auch ganz gut und richtig so.

Du kannst, wenn du ganz bei dir selbst bleibst, nichts falsch machen beim Trauern.

Alles Gute!

DieKati

Bearbeitet von DieKati
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Danke für deinen tollen Beitrag, der Text hat mir sehr geholfen. 🙏❤️

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Hallo,

mein Großvater war krank und sein Zustand verschlechterte sich über 3-4 Jahre immer mehr. Immer, wenn die Info kam, dass es Opa schlechter geht oder er ins Krankenhaus musste, hat meine Schwester ganz doll geweint und hatte Angst, dass er stirbt. Er hat sich immer wieder gerappelt und es ging ihm dann mehr schlecht als recht. Eines Tages kam der Anruf: Opa ist gestorben. Und während ich Rotz und Wasser geheult habe (es war uns klar, wohin seine Reise hingeht), war meine Schwester komplett ruhig. Keine Tränen, keine nach außen sichtbare Trauer. Sie hatte eine Art inneren Frieden. Opa musste nicht mehr leiden.

Vielleicht hast du auch vorher schon so viel getrauert, dass es jetzt „gut“ für dich ist. Er war dir offenbar ein guter Opa und jetzt ist er endlich wieder mit seiner Frau vereint.

Alles Gute,
ez

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Liebe Sweetlolly,

Trauer ist ganz individuell. Es gibt keine Vorgabe oder etwas was sein muss. So wie Du schreibst, hat dein Opa hin und wieder gesagt, er möchte nicht mehr. Vielleicht ist Dir unterbewusst klar, dass er es so wollte und konntest ihn bereits loslassen und das ist doch auch toll. Er ist da, wo er sein wollte. Er muss nicht mehr krank sein und nicht mehr leiden. Er wird immer in deinem Herzen bleiben und Du kannst trotzdem mit ihm sprechen, denn innerlich ahnst Du oder kennst seine Antworten. Fühl dich einmal ganz herzlich umarmt.