Gewalt in der Erziehung

Grüsst euch Leute ,

Ich bin Marcel 35 jahre alt seit 2 jahren auch papa und habe 2 jüngere Brüder.
Wir hatten leider ein etwas aggresiv problemehabenden vater.

Meine mutter hat mir vor ein paar tagen eine heftige story erzählt:

Als mein Bruder ca 6-7 jahre alt war , sollte mein vater meinen bruder an seine schule abholen , dort fand er ihn nicht auf . So musste er ihn ca 3 std lang in der ganzen stadt suchen . Als er ihn dann auf ein spielplatz fand , hat er ihn in unsere alte leer stehende wohnung gezehrt ( mein bruder weiss nur das er ihn an die wand gedrückt hat). Meine mutter sagt aber das er zitternd vor meiner mutter stand und gesagt hat : papa hat mir mit der faust ins gesicht geboxt . Mein vater : das is eine lüge er ist vom kletter gerüst gefallen. Am nächsten tag war sein komplettes gesicht grün und blau angelaufen. Diese gedanken tun mir im herzen weh. Er hat früher immer mal wenn meine mutter nicht da war ubd wir etwas lauter waren gerne mals auf mein bruder eingehauen ( dann aber mit der flachen hand auf den rücken).
Und mir selbst auch oft mit der faust unterm kinn gedroht.

Heute aber sagt er , ich bin so stolz auf euch und hab viele fehler gemacht.
Ich weiss abee nicht ob ich das verzeihen kann/will.

Was denkt ihr dazu ?

Gruss Marcel

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Ekelhaft! Das ist schon etwas anderes als eibe Ohrfeige, die damals ja noch erlaubt war ..

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Zu welcher Zeit war das? Aber trotz allem unschön, meine Eltern haben bei Züchtigungen wenigstens immer darauf geachtet das die blauen Flecke unter der Kleidung versteckt waren, machts nicht besser.

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Das war so 97/98

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Dir kann niemand die Entscheidung abnehmen, wenn es dich aber so sehr beschäftigt, dann solltest du sicherlich selber erstmal deine Vergangenheit aufarbeiten.

Das Recht auf gewaltfreie Erziehung trat erst 2000 in Kraft, die Zeit, die du da beschreibst hatten viele schon umgedacht, aber eben noch nicht alle. Körperliche Züchtigung war früher nun mal häufig ein fester Bestandteil der Erziehung. Wenn man also die Vergangnehit aufarbeiten möchte, dann sollte man das auch im Blick haben.

Versteh mich nicht falsch, das macht es nicht für jeden besser oder leichter. Mir zumindest hat es sehr dabei geholfen, das meine Eltern bei ihren Enkeln sehen und lernen konnten, das es eben auch anders geht und sie darüber ins Grübeln kamen. Die Gespräche mit den Eltern selber haben mir den inneren Frieden gebracht. Am Schluß blieben zwei/drei Dinge übrig, die ich nicht verzeihen wollte....damit mussten wir alle leben lernen und haben das auch bis zum Tod meiner Eltern gut hinbekommen.

Die wichtigste Erkenntnis war und bleibt für mich allerdings, das mein eigenes Kind das nicht erleben muß...und selbst das war ein längerer Lernprozeß.

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Hier schließe ich mich komplett an.
Ich wurde exakt bis zu dem Gesetz 2001 auch zur Strafe geschlagen. Jetzt habe ich selbst Kinder und merke, wie mich manches triggert und ich echt aufpassen muss. Hätte ich nie gedacht. Ich umarme mein Kind dann.

An den TE: Verzeihen könnte ich nicht. Aber ich weiß auch, dass es schwierig ist, dieses Unrecht als solches zu erkennen, wenn man so aufgewachsen ist.
Meine Kinder lasse ich nicht alleine bei meinen Eltern.

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Im Ernst?
Haben deine Eltern also das Gesetz zur Kenntnis genommen und ab da nicht mehr geschlagen?
Habe ich das richtig verstanden?

Das fände ich ja stark!
Ich dachte immer, solche Gesetze entstehen halt, damit z.b. das Jugendamt eine Handhabe hat, um in besonders schlimmen Fällen tätig zu werden.
Und im privaten ist das halt so ein Signal aber letztlich macht eh jeder, was er gewohnt ist... und allenfalls bemüht sich die nächste Generation um ein Lernen aus den Fehlern der Eltern.

Aber wenn so ein Gesetz wirklich ganz praktisch dazu hilft, dass Eltern aufhören zu schlagen - cool. Und Respekt vor den Eltern, die selbst mit Schlägen aufgewachsen sind, aber so ein Gesetz dann konsequent umsetzen. Das stelle ich mir gar nicht einfach vor, denn tatsächlich braucht man dann ja alternative Methoden, die muss man ja erstmal lernen.

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Es tut mir sehr leid, dass du und deine Brüder eine solche Gewalt erleben mussten. Das ist starker Tobak und ich würde vermutlich etwas brauchen diese Vergangenheit für mich persönlich aufzuarbeiten.

Ob ich Mutter und Vater das verzeihen könnte, das würde sehr stark auch davon abhängen, wie das aktuelle Verhalten ist und wie sie mit dem Passierten umgehen. Kämen da nur so relativierende Worte, dass man Fehler gemacht hat, das wäre mir persönlich irgendwie viel zu wenig um dieses krasse Fehlverhalten zu verzeihen.

Ich bin auch der Meinung, dass es auch 97/98 nicht straffrei gewesen wäre, wenn man sein Kind im Gesicht grün und blau prügelt, wenn eine Anzeige erfolgt wäre.

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Hi,
ich denke, sein Kind so zu schlagen, dass sein Gesicht blaugrün anläuft und es dafür extra in eine leerstehende Wohnung zu zerren, war ganz bestimmt auch vor 2001 gesetzlich nicht erlaubt.
Jetzt hast du selbst ein Kind, das mit 2 Jahren bestimmt auch schon an den Nerven zerren kann, aber so richtig interessant wird es ja erst noch. Ich hätte an deiner Stelle Bedenken, was das dann bei dir triggern könnte und da vielleicht mal einen Profi draufschauen lassen. Und auch, dein Bruder war ja mehr betroffen, was das für deine Nichten/Neffen bedeuten kann, sofern es sie gibt bzw. geben wird. Vielleicht gibt es ja da ein Angebot für Geschwister und du kannst das mit deinen Brüdern in Angriff nehmen. Ob das dann ein wahres Verzeihen beinhaltet, wird sich zeigen.
Heute seid ihr erwachsen, triggert euren Vater nicht mehr mit „nervendem“ Kinderverhalten, da lässt es sich leicht sagen, dass „er stolz ist und Fehler gemacht hat“. Aber ob euch das reicht, um wirklichen seelischen Frieden, was ja Verzeihen irgendwie ist, damit machen zu können, das sei mal dahingestellt.
Alles Gute!

vlg tina

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Ob du das verzeihen kannst oder willst, musst du selbst wissen oder ggf. dich von Fachleuten beraten lassen, wie du so eine Entscheidung treffen kannst. Was ich auf jeden Fall an deiner Stelle tun würde, wäre unbeaufsichtigten Kontakt zwischen deinem Kind und deinen Eltern unterbinden, selbst wenn du das verziehen hast. Dein Vater ist offensichtlich ein Gewaltmensch. Heute bist du gross und ihm körperlich vermutlich überlegen sowie nicht mehr abhängig von ihm, an dir kann er es nicht mehr auslassen, aber wenn er mit deinem Kind alleine ist, sieht die Lage anders aus.

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Ich würde mir das gut überlegen.

Mein Stiefvater hat sein Leben lang darunter gelitten, dass seine Mutter ihn wohl als Kind abgelehnt hat (sie wollte keinen Jungen) und seine Schwester hochgelobt hat. Mir ist das erst weit ins Erwachsenenleben hinein bewusst geworden. Er hat mich als Kind quasi "gemobbt" (mir fällt kein anderes Wort dafür ein - nicht wirklich geschlagen, aber herum gestoßen, "Spielchen gespielt" etc.) und ich habe mich immer gefragt, warum.
Später wurde mir bewusst: Der Mann hat sein gesamtes Leben nach Anerkennung gelechzt und sich dafür teilweise sogar in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht. Er hatte wohl nie oder selten das Gefühl, dass andere ihn wertschätzen, so wie er ist.
Er wurde wohl als Kind auch geschlagen. Sein Vater hat immer wieder "angegeben", wie er als Kind von Lehrern "verprügelt" wurde und oft redeten beide Großeltern am Kaffeetisch darüber, wie vor allem der Sohn früher geschlagen oder "verprügelt" wurde.

Der Punkt ist aber: Mein Stiefvater hat immer wieder versucht, sich mit seinen Eltern auszusprechen und das wurde immer abgeschmettert, weil die Eltern gar nicht verstanden, was er wollte. Sein Vater starb dann sehr plötzlich mit Mitte 70. Seiner Mutter wurden später 3 Tage vom Arzt prophezeit vor ihrem Tod und ich bin dann mit meinem Stiefvater ins KH gefahren. Er fragte sie, ob sie noch etwas sagen wollte und ihre Antwort war "was soll ich denn noch sagen?" Sie hatte dann unerwartet noch gut anderthalb Jahre, die sie in der Nähe meines Elternhaus verlebt hat, wo der Sohn alles für sie tat, aber es kam auch da nie zu irgendeiner Art Aussprache, keiner hat über die Gefühle oder Wahrnehmung der Vergangenheit etc. gesprochen.

Von daher würde ich sagen: Dein Bruder ist noch recht jung. Er muss das nicht sofort angehen. Aber er sollte sich eine Zeitspanne geben, vielleicht bis 40, innerhalb der er irgendwann mit seinem Vater das Gespräch darüber sucht - vielleicht auch moderiert durch einen Experten (Beratung, Therapeut etc.). Sonst könnte es ihn später verfolgen.

Es kann wirklich sein, dass der Vater ausgerastet ist und nicht wusste, was er tat. Dass er überwältigt war von Angst, Sorge, vielleicht seinen Sohn schon tot in irgendeiner Gasse sah - immerhin sind 3 Stunden Suche nach der Schule nicht wenig - und nicht reflektieren konnte in dem Moment, was das mit seinem Sohn macht. Einfach kopflos gehandelt hat.
Es kann eben auch sein, dass die Schläge allg. begründet waren in einer Stresssituation, die ihr als Kinder vielleicht gar nicht kennen konntet. Natürlich wäre das keine Ausrede für Gewalt!
Aber damals gab es mehr Tabus und weniger Wissen und weniger Anlaufstellen für persönliche Probleme. Und weniger Bewusstsein, gerade bei psychologisch ungebildeten Eltern, was Gewalt bei Kindern anrichtet.

Dein Vater scheint doch zumindest eingesehen zu haben, dass er Fehler gemacht hat.

Das ist eigentlich ein guter Ansatz für ein Aufeinanderzugehen. Er wird nicht dichtmachen und sagen "das hat mir als Kind auch nicht geschadet" oder "ihr wusstet doch gar nicht, was richtige Schläge sind" oder so.

Vielleicht kann auch erst mal ein anderes Geschwisterkind den Anfang machen, mit dem Vater reden und dem Bruder später mitteilen, wie es gelaufen ist, wofür der Vater offen war, wie er die Sache heute sieht.

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Ich finde Gewalt gegen Kinder unglaublich schlimm. Die Vorstellung das die kleinen hilflosen Menschen nur die Eltern als Anker haben und die einzige Möglichkeit haben Zuflucht und Liebe bei ihnen zu finden SO eine Gewalt von genau diesen Menschen zu erleben . Es treibt einem einfach Mitleid in das Herz.
Aber ich lese im letzten Text Reue heraus.
Nicht jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient aber manchmal wissen es Eltern nicht besser. Und eigentlich sollte man doch meinen das die Eltern es besser machen sollten, aber ich habe da ebenfalls in der Familie meine Erfahrung gemacht.
Meine Eltern haben mich nicht verprügelt oder ähnliches aber hin und wieder ganz es auch mit dem Gürtel (!!!) Einen Schlag . Das war fürchterlich. Ich erinnere mich welche Angst ich hatte, wie ausgeliefert ich mir vorkam .
Das war vielleicht 5× der Fall. 5× zu oft.
Ich habe meinen Eltern verziehen als ich selbst Mutter geworden bin und meinen Eltern geschworen habe meine Kinder niemals zu schlagen, Erziehung geht anders, geht liebevoll und trotzdem oder gerade deshalb werden gute Menschen daraus.
Was bekam ich zu hören? "warte ab bis du verzweifelt bist, dann sehen wir weiter"
Voller Stolz kann ich sagen das ich in den fast 13 Jahren meinen Kindern nicht ein Haar gekrümmt habe und die drei sind einfach wunderbare, respektvolle kleine Menschen.
Meine Eltern haben mir ein großes Kompliment ausgesprochen " wir hätten es gerne genauso toll gemacht" und immer wieder höre ich irgendwo in einem Satz eine kleine Entschuldigung heraus.

Meine Eltern bedeuten mir sehr viel, helfen mir überall und opfern ihre Freizeit, ihre Kraft , Gesundheit und Geld ist ihnen auch nie zu schade.

Lange Geschichte aber vielleicht versucht man zu verzeihen. Wenn es nicht geht , dann ist es so. Versuche es nicht zu erzwingen, es ist ein langer Prozess.

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Wow :-)

Ich habe deine Antwort gelesen und muss sagen, dass ich - auch wenn ich dich nicht kenne - sehr stolz auf deine Geschichte bin! Es ist nicht einfach, diesen Teufelskreis aus schädigender Erziehung, die von Generation zu Generation weiter gegeben wird, zu durchbrechen. Da gehört eine Menge innere Stärke und Selbstreflektion dazu. Und das auch so durchzuziehen, obwohl die ein oder andere Situation ganz sicher getriggert hat, finde ich ziemlich stark. Weiter so! :-)

Du scheinst deine Vergangenheit gut verarbeitet zu haben.

Das würde ich auch dem TE bzw. seinem Bruder empfehlen. Es zu verarbeiten. Egal ob selber für sich oder bei einer Traumaberatung. Vielleicht ist auch der Vater offen zu einem Gespräch bereit, zumindest scheint er ja seine Fehler zu sehen. Am besten mit einem neutralen Gesprächsbegleiter, falls da etwas hochkommt oder man aus dem Schweigen nicht mehr rauskommt.

Lieber TE: Macht es denn nur dich traurig oder belastet es auch deinen Bruder? Vorsicht, wenn dein Bruder noch gar nicht bereit dazu ist. Das muss schon von selber kommen und nicht durch dich initiiert werden.