Geht es wirklich ohne?

Windelfrei: Was steckt dahinter?

Von "TopfFit" oder "Windelfrei" haben viele Eltern schon gehört, aber was genau verbirgt sich eigentlich dahinter? urbia erklärt, was hinter diesem Konzept steckt, wie es in der Praxis umgesetzt werden kann und wie frei die Babys von Windeln wirklich sind.

Autor: Nicola D. Schmidt

Babys geben früh Signale

Windelfrei Baby Nackt
Foto: © panthermedia.net/ Laura Boese

Babys und Windeln gehören in unserer Welt zusammen - kein Bild, keine Werbung, keine Erstlingsliste, auf denen nicht eine Wegwerf- oder Stoffwindel zu finden ist. Dass man ein Baby auch ohne Windeln lassen könnte, ist daher für viele ein ganz neuer Gedanke. Außerhalb der Industrieländer hingegen sind Babys ohne Windeln keine große Sache. In vielen Gegenden Japans, in China, speziell aber auch in Indien und Afrika machen schon ganz Kleine mit Hilfe ihrer Eltern in Töpfchen, Toiletten oder schlicht den nächsten Busch. Obwohl das Nervensystem bei der Geburt noch nicht ausgereift ist, haben menschliche Babys das Bedürfnis, trocken und sauber zu sein. Sie weinen nicht nur bei vollen Windeln, sie merken und signalisieren schon vor ihrem Geschäft, dass sich im Bauch etwas tut. In Deutschland bedeutet "windelfrei" meist trotzdem, dass die Babies Wegwerf-, Stoffwindeln oder ähnliches tragen. Wenn das Baby jedoch signalisiert, dass jetzt etwas kommt, ziehen die Eltern es aus und halten es über ein Gefäß oder Töpfchen, damit es sich ohne Windel erleichtern kann. Werden Babys regelmäßig und auf ihr Signalisieren hin abgehalten, melden sie sich mit immer klareren Zeichen.

Viele Babys sind gerne "ohne"

Isa1977 schreibt im Forum: "Wie oft passiert es allein schon am Wickeltisch, dass die Kleine ohne Vorwarnung lospullert oder loskäckert. Das ist mir in den vier Monaten bestimmt schon hundert Mal passiert." Entgegen aller medizinischen Meinung stellen Eltern immer wieder fest, dass besonders ganz kleine Babys mit ihrem Geschäft warten, bis man sie ausgezogen hat. Viele Eltern haben außerdem intuitiv das Wissen, wann ihre Kinder mal müssen: "Wenn er so guckt, dann kommt gleich ein großes Geschäft!" Aber auch wer es nicht gleich sieht, kann mit einiger Übung lernen, wann es soweit ist. Es gibt bestimmte Rhythmen und Signale. Nach dem Schlafen, nach dem Stillen oder nach dem Spielen müssen die meisten Babys mal. Babys signalisieren außerdem durch verschiedene Zeichen, darunter plötzliches Quengeln, Innehalten oder sie zeigen das dringende Bedürfnis, sofort aus dem Tragetuch genommen zu werden. Auch manches "Stillproblem" hat eigentlich mit der Blase zu tun: "Wenn mein Sohn pieseln muss und Hunger hat, dockt er ständig an der Brust an und ab bis ich ihn abgehalten habe - danach stillt er ganz ruhig", erzählt Liane Emmersberger, Krankenschwester und Windelfrei-Mama. Dass Babys gerne nackt strampeln ist ja ohnehin kein Geheimnis. Wenn man sein Baby gerade abgehalten hat, weiß man immerhin wielange es jetzt "ohne Unfall" unten ohne sein kann.

Windelfrei - so gehts!

In manchen Kulturen beginnen die Eltern mit dem Abhalten von Geburt an, in anderen erst mit zwei oder sechs Monaten. Am besten fängt man an, wenn es sich richtig anfühlt - es gibt kein zu früh oder zu spät. Die ersten vier bis sechs Monate eignen sich vor allem deshalb sehr gut, weil die Kinder in dieser Zeit sehr deutlich signalisieren und man sowieso ständig drauf achtet, was der Säugling gerade braucht. Man beginnt damit, das Baby zu Hause mal ein oder zwei Stunden "unten ohne" zu lassen. An so einem ruhigen Vor- oder Nachmittag lässt sich prima beobachten, in welchen Abständen das Baby sich entleert und wie es seine Geschäfte vorher ankündigt. Der Raum sollte warm genug sein, damit es nicht friert, Jungs-Eltern wollen vielleicht eine Stoffwindel zwischen die Beine ihres Sprösslings legen, um den Springbrunnen-Effekt zu vermeiden. Schon nach ein bis zwei solcher "Sessions" können die meisten Eltern sehr eindeutig sagen, wie sich besonders große Geschäfte ankündigen. Und dann nicht warten, sondern handeln: Baby hochnehmen und dabei erklären, das es jetzt gleich machen kann. Dann das Kind über ein Töpfchen, die Toilette oder die Badewanne halten und mit einem "ssss" oder ähnlichem Laut das Signal geben, dass es jetzt loslegen kann. Beim Abhalten stützen die Eltern ihr unten nacktes Baby an den Oberschenkeln, lehnen seinen Oberkörper gegen den eigenen Bauch und geben ihm so den Halt, den es selbst noch nicht hat. Die meisten Babies machen schon allein wegen der Körperhaltung nach maximal einer Minute ihr Geschäft. Es ist faszinierend zu sehen, wie ein Neugeborenes schon nach wenigen Versuchen reagiert und sich entleert! Anna schreibt auf ihrem Blog "natuerliches-baby.de": "Mäuschen pinkelt so zuverlässig ins Töpfchen, wenn man sie drüberhält (...) Ich kann nur sagen: Windelfrei macht einfach Spaß!" Besonders Väter sind über diesen Effekt oft begeistert, denn es eröffnet ihnen eine ganz neue Form, mit dem neuen Erdenbürger etwas gemeinsam zu tun. Für den Anfang sind die "Standardsituationen" sehr empfehlenswert, also z.B. nach dem Schlafen, denn da ist die Blase voll und das Baby kann die Verbindung zwischen dem gespürten Druck, der Haltung und der Entleerung sehr gut herstellen.

Ganz ohne Windeln?

Auch Windelfrei-Babys tragen Windeln - manche tragen sogar ständig Windeln, andere gar keine. Windeln sind eine prima Sache, wenn man unterwegs ist oder einfach gerade keine Zeit oder Aufmerksamkeit für die Signale hat. Und wenn es gerade Krabbeln oder Laufen lernt, ist auch das Baby zu abgelenkt für rechtzeitiges "Bescheid sagen" - da kann es schonmal vorkommen, dass kaum noch was ins Töpfchen und viel in die Windel geht. Trotz aller Grabenkämpfe in den Foren erklärte die "TopfFit"-Autorin Laurie Boucke jüngst in einem Radio-Interview: "Windelfrei macht sowieso keiner Vollzeit, auch nicht, wenn man mit dem Kind zu Hause bleibt. Man muss ja auch ein Leben haben. Man macht es einige Mal am Tag oder eben nur ein paar wenige Male, wenn das alles ist, was man schafft." Es geht gar nicht ums Nicht-Wickeln, sondern darum, mit dem Kind zu kommunizieren. Gemeinsam lernen Eltern und Kind, auf die Ausscheidungsbedürfnisse zu achten, so wie man gemeinsam das Sprechen oder Laufen lernt. Und ebenso wie die ersten Sätze eher ungelenk sind und das Kind anfangs häufig hinfällt, ist auch beim Windelfrei-Konzept eine Menge nasser Hosen eingepreist. Daher greifen viele Eltern zusätzlich auf Windeln verschiedener Art zurück.

Manche Windelfrei-Eltern brauchen dabei insgesamt weniger Windeln. Andere brauchen genauso viele wie "Wickel"-Eltern. Sicher ist: Windeldermatitis, Ausschläge, Wundsein - alles kein Thema, denn an den Po kommt viel Luft beim Abhalten und häufig landet schon nach den ersten Monaten kaum ein großes Geschäft mehr in der Windel, da die meisten Windelfrei-Kinder dies wirklich zuverlässig ansagen. Ein Nebeneffekt: Viele Windelfrei-Mütter berichten, dass ihre Kinder früher sauber sind als gleichaltrige Wickelkinder, im Schnitt mit 18 Monaten. Aber Vorsicht: Dies ist nicht das Ziel von Windelfrei, es ist kein Sauberkeitstraining! Es ist einfach ein netter Nebeneffekt, dass sich Eltern die Sauberkeitserziehung sparen können, denn ihre Kinder wissen ja längst, was mit ihrem Körper passiert und müssen es nicht erst wieder lernen.

Eigentlich müsste es "Ausscheidungskommunikation" heißen

"Windelfrei" ist eigentlich ein irreführender Begriff. Das englische "Elimination Communication" (Ausscheidungskommunikation) trifft die Sache schon eher: Babys kommunizieren von Anfang an, auch über ihre Ausscheidungen. Und die Eltern reagieren einfach darauf, was ihnen ihr Baby mitteilt - wie sie es ja sonst auch tun.

Bisher ist das Phänomen kaum erforscht. Kinderärzte gehen weiterhin davon aus, dass Babys ihre Ausscheidungen bis zum Alter von 24 Monaten nicht oder kaum kontrollieren können. Der italienische Kinderarzt Simone Rugolotto vom Universitätshospital in Verona forscht als einer der wenigen zum Thema Ausscheidungskommunikation. In einer Studie über Windelfrei-Kinder im ersten Lebensjahr stellte er 2008 fest, dass 90 Prozent der Babys signalisierten, wenn sie mal mussten. Dies war das erste Mal, dass wissenschaftlich bestätigt wurde, was Eltern auf der ganzen Welt an ihren Kindern beobachten können: Dass sie sich auch schon als ganz kleine Babys melden, wenn es drückt. Zwischen dem 15. und 17. Monat hatten die Kinder das, was er "Kontrolle über ihre Ausscheidungen" nennt.

Nur für Vollzeit-Mamas?

In Foren liest man häufig die Befürchtung, dass Abhalten oder Windelfrei zu einer übertriebenen Aufmerksamkeit auf das Thema führt und sowieso nur für Mütter geeignet ist, "die sonst nichts zu tun haben". Doch in der frühen Phase mit dem Säugling ist man ja ohnehin mit der Frage "Muss es trinken? Schlafen? Kuscheln?" beschäftigt und fügt dem lediglich ein "Muss es mal?" hinzu. Und wie das Stillen wird das Abhalten irgendwann zur zweiten Natur, zur Gewohnheit. Die Eltern machen es einfach, kennen die Signale oder später die Zeiten oder haben schlicht ein Gefühl dafür, wann das Kind mal muss. Nach Autorin Boucke reicht es sogar schon, ein Kind nach dem Schlafen, nach dem Essen oder sogar nur morgens und abends abzuhalten, um das Körperbewusstsein für seine Ausscheidungen zu erhalten. Und auch die Babys tun ihren Teil dazu. Wer einmal damit angefangen hat, kann durchaus feststellen, dass das Baby regelrecht einfordert, man möge ihm jetzt aber bitte zum Pieseln die Windel ausziehen. Das kann auch unpraktisch sein, wenn man gerade im Supermarkt in der Schlange steht.

Für wen und für wen nicht?

Dennoch eignet sich Windelfrei oder Abhalten nicht für alle Eltern und alle Babys. Wer es zu stressig oder anstrengend findet, sollte weiterhin auf Stoff- oder Wegwerfwindeln zurückgreifen. In den Industrieländern haben wir ja das Glück, die Wahl zu haben. Windelfrei kann vor allem dann eine große Hilfe sein, wenn Babys sich von Anfang an oder später gegen das Wickeln wehren, schnell wund werden, allergisch reagieren etc. Ist in einer Familie Bettnässen ein bekanntes Problem, kann es ebenfalls sinnvoll sein, von Anfang an das Körperbewusstsein eines Babys aufrecht zu erhalten. Manche Eltern kommen auch ganz von selbst aufs Abhalten, weil ihre Babys es von sich aus einfordern - und sind dann sogar genervt, wenn das Kind auf ein "Nimm doch mal die Windel, Schatz" mit Protest reagiert. Bei anderen klappt es ein paar Monate und ab dem Krabbelalter ist Schluss. Wie beim Schlafen, Stillen und Spielen findet jede Familie am besten die Variante, die zu ihr passt.

Grundsätzlich ist "Windelfrei" oder "Ausscheidungskommunikation" eine sehr einfache und natürliche Sache. Eigentlich braucht man nicht mehr als Neugier, etwas Humor und ein Baby.

Literaturliste:

  • Ingrid Bauer, Es geht auch ohne Windeln!, Kösel-Verlag
    über: www.amazon.de
  • Lini Lindmayer, Windelfrei? So geht's!, Tologo-Verlag
    über: www.amazon.de bzw. direkt bei Tologo
  • Caroline Oblasser, Regina Massaracchia, Baby Lulu kann es schon!, Kindersachbuch, Edition Riedenburg
    über: www.amazon.de bzw. direkt bei der Edition Riedenburg