Gegen Lebensmittelverschwendung

Ein Herz für krummes Gemüse

Krumme Gurken, dreibeinige Möhren oder Äpfel mit kleinen Macken landen meist auf dem Müll. Doch immer mehr Menschen entdecken ihr Herz für dieses naturgewachsene Obst und Gemüse, das ebenso gut schmeckt wie seine makellosen Verwandten. Wir geben Tipps, was Sie gegen die Lebensmittelverschwendung tun können.

Autor: Sabine Ostmann

Krummes Gemüse wird aussortiert

Kartoffel Herz krumm
Foto: © colourbox

Die Natur bringt die schönsten Formen hervor. Zum Beispiel herzförmige Kartoffeln, Schlangengurken, die diesen Namen wirklich verdienen, oder mehrbeinige Möhrchen. Solche Kuriositäten entstehen beispielsweise, wenn Möhren dicht beieinander wachsen oder im Boden auf einen Stein treffen. Dann umwinden sie sich gegenseitig oder verzweigen sich und wachsen um das Hindernis herum.  Kinder finden solche Möhrchenmännchen ziemlich lustig. Erwachsene bislang noch nicht so.

Obst und Gemüse mit „Schönheitsfehlern“ hat es schwer. Obwohl es genauso gut schmeckt wie seine gerade gewachsenen Verwandten und weder faul noch vertrocknet oder schimmelig ist, landet es meist im Müll. Nach Einschätzung des Filmemachers Valentin Thurn („Taste the Waste“) werden 25 bis 50 Prozent direkt beim Bauern aussortiert. Zu kleine Kartoffeln beispielsweise fallen gleich bei der Ernte durch den Rüttler zurück aufs Feld und werden untergepflügt. Beim Schönheits-Check auf dem Hof wird dann alles aussortiert, was die falsche Größe, Farbe, Flecken oder Risse hat. Zum Beispiel Rote Beeten. Dabei sind Exemplare mit Rissen besonders schmackhaft, denn sie haben viel Zucker in ihren Zellen eingelagert.

Warum krummes Obst und Gemüse im Müll landet

Für zu klein geratene Kartoffeln, rissige Beeten, krumme Birnen oder mehrbeinige Möhren finden die Bauern keine Abnehmer. Anders als man vielleicht vermutet, liegt das nicht an EU-Regeln wie der berühmt-berüchtigten „Verordnung zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken“, die einst die zulässige Krümmung bei Salatgurken vorschrieb. Diese Vermarktungsnorm wurde wie andere 2009 abgeschafft – von seinerzeit 36 EU-Vorgaben sind heute überhaupt nur noch zehn in Kraft. Das Problem liegt eher bei der Lebensmittelindustrie und den Vorgaben der großen Handelsketten. Möhren mit mehreren Wurzeln und zu stark gekrümmte Gurken passen nicht in moderne Schälmaschinen und lassen sich nicht in die genormten Kisten stapeln. Das würde Mehrarbeit und Mehrkosten bei der Logistik bedeuten und rechnet sich nicht. Deshalb kommt alles, was nicht der Norm entspricht, gar nicht erst in den Handel. 

Wollen Verbraucher nur Makelloses essen?

Offensichtlich verschmähen auch die Verbraucher – also wir – natürlich gewachsenes Gemüse. Nach einer Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov können sich zwar 84 Prozent der Deutschen vorstellen, krummes Gemüse zu kaufen, doch in der Praxis hat das bislang noch nicht wirklich funktioniert: Einige Supermarktketten, darunter Edeka, Rewe und Netto, starteten 2013 Testläufe und boten Obst und Gemüse mit Macken zu vergünstigten Preisen an. Zwar fiel die Resonanz der Verbraucher auf die Aktion „überwiegend positiv“ aus, so ein Edeka-Sprecher. Doch wirklich angenommen wurde das unperfekte Grünzeug nicht.

Vielleicht liegt das daran, dass wir die Beziehung dazu verloren haben, wo unsere Nahrungsmittel eigentlich herkommen und wie sie hergestellt werden. Die Folge: Uns ist nicht mehr bewusst, dass Obst und Gemüse von Natur aus eben nicht so wächst, dass es in genormte Kisten passt. Schließlich wird uns durch die Werbung und in den Supermärkten vorgeführt, dass wir selbstverständlich fast rund um die Uhr auf ein immenses Nahrungsmittelangebot zugreifen können. Natürlich alles „Natur“, „frisch vom Bauernhof“ und makellos in Form und Farbe. Wir glauben diesen Versprechungen nur zu gerne. Auch deshalb landen viel zu viele „Misfits“ auf einem immer gigantischer anwachsenden Berg verschwendeter Lebensmittel.

Erste Geschäftsideen mit krummen Möhren

„Schluss mit dem Schönheitsterror für Obst und Gemüse“, fordern deshalb immer mehr Menschen und Organisationen, die sich für gesunde Ernährung und nachhaltigen Konsum, fürs Selbermachen und Teilen begeistern und zu einem achtsameren, wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln aufrufen. Aus ihrem Engagement heraus haben einige Menschen ihr Herz für freakige Möhren und picklige Aprikosen entdeckt und erkannt, dass in Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern jede Menge Potenzial steckt – auch unternehmerisches. So haben sie Catering-Services oder Saft- und Suppenbars aufgebaut und verarbeiten überwiegend oder ausschließlich naturgewachsenes Obst und Gemüse.

Zum Beispiel der Kölner Journalist und Filmemacher Sascha Gröhl, der mit seiner Saft- und Suppenbar „Grüne Liebe“ ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung setzt. Auf die Idee dazu kam er bei den Dreharbeiten zu einer Sendung mit Fernsehkoch Christian Rach zum Thema. Von Bauern aus der Region bezieht er krumme Zuchini, Gurken, Äpfel & Co.

"Gemüseretterbox" liefert schräges Obst und Gemüse

Das machen auch die drei Freunde Carsten Wille, Georg Lindermair und Christopher Hallhuber aus München, die den Bio-Lieferservice Etepetete betreiben. „Auch krumme Gurken haben eine Chance verdient“, so das Credo der Jungunternehmer. Schräge Gemüse und Obstsorten landen in ihrer „Gemüseretterbox“, welche Verbraucher via Internet bestellen können – seit September 2015 auch deutschlandweit. „Damit bieten wir Bauern die Möglichkeit, das Doppelte aus einer Ernte herauszuholen, und unsere Kunden bekommen Zugang zu verkannten kulinarischen Schätzen“, so die Gemüseretter. Passend zum Gemüse packt Etepetete auch saisonale Rezepte mit in die Box.

7 Forderungen an die Verbraucher

„Esst die ganze Ernte“ fordern – der Name ist Programm – die Culinary Misfits aus Berlin: In ihrem Catering-Unternehmen und im Bistro laufen freakige Gemüse und alte in Vergessenheit geratene Sorten zu kulinarischer Hochform auf: Sie werden beispielsweise zu Rote-Beete-Kugeln mit Ziegenkäsecreme und Teltower Rübchensuppe mit Apfel-Chutney verarbeitet. Die Idee zum Gemüse-Recycling kam den beiden Produktdesignerinnen Lea Brumsack und Tanja Krakowski im Rahmen eines Projekts für ihre Abschlussarbeit zum Thema Lebensmittelverschwendung – daraus ist längst ein Vollzeitjob geworden.

 „Wir freuen uns über das Unperfekte, jeden neu entdeckten Misfit, denn dadurch erschließt sich für uns erst die Schönheit der Natur. Die kulinarischen Sonderlinge sehen nicht nur einzigartig aus, sie haben auch besonders viel Charakter – und den schmeckt man“, so die Köchinnen aus Leidenschaft, die mit ihren „Goldenen Misfits Regeln“ sozusagen das Manifest der Bewegung zur Rettung krummer Gemüse formuliert haben. Ihre Forderungen an Verbraucher:  

  1. Esst die ganze Ernte.
  2. Vielfalt statt Einfalt.
  3. Esst nach Jahreszeiten.
  4. Farben auf den Teller.
  5. Esst und kocht gemeinsam, statt einsam.
  6. Kauft Gemüse, das ihr nicht kennt.
  7. Kocht mit Herz und Handwerk.

„Kauft mit dem Gaumen und nicht mit den Augen“ könnte man diesem kulinarischen Manifest für Genuss und Vielfalt und gegen die Verschwendung von Lebensmitteln noch hinzufügen. Welche Ausmaße diese erreicht hat, wissen wir spätestens seit Valentin Thurns Dokumentarfilm „Taste the Waste“ von 2011, der die globale Nahrungsmittelverschwendung und ihre Folgen aufzeigt: 90 Millionen Tonnen Nahrungsmittel werden in der EU jährlich entsorgt. Würde man diese Masse in LKW verladen, reichte die Schlange einmal um den Äquator. Laut einer Studie der Universität Stuttgart im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft landen alleine in Deutschland elf Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Fast sieben Millionen Tonnen davon stammen aus Privathaushalten. Demnach wirft jeder Deutsche im Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel weg. Am meisten übrigens Obst und Gemüse.

Wo gibt es naturgewachsene Gemüse?

Jede schlängelige Gurke, jeder Apfel mit Dellen, jede unrunde Tomate, zu kleine Kartoffel oder mehrbeinige Möhre, die auf unseren Tellern, anstatt im Müll landet, ist somit ein Beitrag zu mehr kulinarischer Vielfalt und gegen Lebensmittelverschwendung. Doch wo gibt es die Gemüse mit den natürlichen Formen? In Supermärkten sind sie ja in der Regel nicht zu bekommen. Ein wacher Blick beim Einkaufen lohnt: Immer wieder bieten Bio-Läden und Markthändler Gemüse mit kleinen „Schönheitsfehlern“ an. Nachfragen lohnt sich – ebenso der Weg zum nächstgelegenen Obst- und Gemüsebauern. Schließlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Für Gartenbesitzer ist auch der Eigenanbau eine clevere Alternative – und er macht der ganzen Familie Spaß. Hier redet keiner rein, wie das Gemüse wachsen soll und es besteht die Möglichkeit, in Vergessenheit geratenen Gemüse- und Obstsorten wieder zu einem Comeback zu verhelfen.

So vermeiden Sie Lebensmittelverschwendung

Und falls beim Kochen mit den naturschönen Food-Stars etwas übrig bleibt: Zu gut für die Tonne, eine Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gegen die Verschwendung von Lebensmitteln, bietet eine hilfreiche App mit Reste-Rezepten von Sterneköchen und gibt Tipps für die Einkaufsplanung und Aufbewahrung. Die wichtigsten Regeln lauten:

  1. Regelmäßig checken, was noch in der Speisekammer steht und vielleicht weg muss.
  2. Nahrungsmittel nie ohne Einkaufszettel und mit leerem Magen besorgen.
  3. Nicht alles, was lecker aussieht, wird auch verbraucht.
  4. Besser der eigenen Nase und dem Gaumen vertrauen als dem angegebenen Mindesthaltbarkeitsdatum.
  5. Gemeinsam mit der ganzen Familie kreative Ideen zur Resteverwertung ausdenken.

Links:

  • Culinary Misfits ­­– Catering Service und Bistro, die Obst und Gemüse mit “Schönheitsfehlern” verarbeiten
  • Etepetete – Lieferdienst für krumme Bio-Gemüse
  • Slow Food – Weltweite Bewegung für nachhaltigen Genuss   
  • foodsharing – Initiative bringt via Internet Menschen zusammen, die übrig gebliebene Nahrungsmittel aus dem eigenen Haushalt oder aus Supermarktbeständen verschenken, und Menschen, die Bedarf an diesen Nahrungsmitteln haben und sie entweder für sich nutzen oder an Tafeln und andere soziale Einrichtungen verschenken.
  • Taste the Waste – Informationen zu Valentin Thurns Dokumentarfilm über die globale Lebensmittelverschwendung
  • Zu gut für die Tonne – Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gegen die Verschwendung von Lebensmitteln