Anthroposophie und Schwangerschaft
Die Erben Rudolf Steiners haben eine besondere und ganzheitliche Sicht auf die Schwangerschaft, die Geburt des Babys und seine ersten Lebenswochen. Körper, Geist und Seele von Eltern und Baby sind in der Anthroposophie gleichermaßen wichtig – und das Gefühl für das Wunder, das sich gerade abspielt.
Eltern und Kind zwischen Himmel und Erde
Bekannter als die schwer zu buchstabierende Anthroposophie (griech.: Die Weisheit vom Menschen) sind oft die in ihrem Geist geführten Einrichtungen - und hier vor allem die Waldorf-Kindergärten und –schulen. Die von Rudolf Steiner (1861 - 1925) begründete Anthroposophie ist eine spirituelle Weltanschauung, die den Menschen in seiner Beziehung zum Übersinnlichen (Geistigen) betrachtet. Der Mensch kann dabei nicht nur die geistige Welt erkennen und erforschen, sondern er ist auch selbst Teil dieser übersinnlichen Welt.
Die Anthroposophie befasst sich mit fast allen Lebensbereichen, auch mit Schwangerschaft und Geburt. Wie aber sieht der anthroposophische Blick auf die Schwangerschaft aus? „Diese Sicht auf die Schwangerschaft ist ganzheitlich und umfassend: Körper, Seele und Geist werden berücksichtigt“, erläutert Hebamme Christina Hinderlich. Eine Schwangerschaft hat für Anthroposophen nicht nur körperlich-seelische, sondern auch spirituelle Aspekte.
So glauben sie unter anderem an die Wiedergeburt (Reinkarnation) und daran, dass es kein Zufall ist, welches Kind zu welchen Eltern kommt. Vielmehr entscheidet das Kind dies selbst – so die Lehre Steiners. „Wichtig ist es daher auch zu fragen, warum sich ein Kind dafür entschieden hat, zu seinen Eltern zu kommen und was es mitbringt an Erfahrungen und eigener Geschichte“, erklärt die Leiterin des Fachbereichs Hebammen bei der Weleda AG in Schwäbisch Gmünd. „Eine Familie ist eine Gemeinschaft, die sich auf eine besondere Art finden sollte. Aber dennoch ist das, was die Mitglieder auf ihrem gemeinsamen Weg erleben nicht vorprogrammiert oder vorbestimmt. Jeder bringt sein Paket, in dem auch noch Platz für Neues ist, mit. Und dort wird das Paket mit Leben gefüllt.“
Die Schwangere lauscht auf die Seele ihres Kindes
Auch wer sich mit solchen Überzeugungen nicht anfreunden kann, kann durch die ganzheitliche Sicht der Anthroposophie auf die Schwangerschaft bereichert werden. Denn hier werden auch seelische Veränderungen angeschaut, ein Aspekt, der im Alltag oft zu wenig berücksichtig wird – von den Schwangeren selbst, aber auch von ihrer Umgebung. Die Schwangerschaft ist nach anthroposophischer Auffassung eine Zeit größerer seelischer Empfindsamkeit. Viele Schwangere kennen das: Man ist dünnhäutiger und oft seelisch empfindlicher als sonst. Streit mit dem Partner, schlechte Laune anderer, Lärm, Unruhe oder Unordnung werden viel schwerer weggesteckt als sonst. Zugleich konzentriert sich die Schwangere mehr nach innen, lauscht in sich hinein, wirkt manchmal verträumt, unkonzentrierter oder vergesslicher als sonst. Diese Hinwendung nach innen hat für Anthroposophen nichts Erstaunliches. „Die Gefühlswelt macht in der Schwangerschaft eine Wandlung durch, die geprägt wird durch ein In-sich-gekehrt-Sein. Aufmerksam wird in sich hinein gehorcht, seelisch die Nähe des Kindes zu bemerken. Die Aufmerksamkeit für die Außenwelt wird damit geringer“, erklären Christa van Leeuwen und Bartholomeus Maris, Hebamme und Arzt, in ihrem Buch „SchwangerschaftsSprechstunde“. Das Nach-innen-Lauschen bedeute auch, dass die Mutter spüre, dass ihr Ungeborenes sich auch seelische Zuwendung wünsche.
„Funktionieren“ im Job – für eine Schwangere schwieriger
Äußerlich bringt diese Hinwendung nach innen oft Probleme im Job mit sich. Damit sollte aber weder die Schwangere, noch ihre Umgebung hadern, so die Anthroposophen: „Es nützt nicht viel, sich mit großer Energie dagegen zu wehren, das kann eher anstrengend werden. Der Vergleich mit anderen Schwangeren, die anscheinend zu mehr imstande sind, bringt ebenso wenig“, betonen van Leeuwen und Maris. Gleiches gelte auch für körperliche Veränderungen wie eine leichtere Ermüdbarkeit oder ein größeres Schlafbedürfnis. Ob nun erhöhte seelische oder körperliche Empfindlichkeit – wichtig ist es, die Signale wahrzunehmen, ernst zu nehmen und zu versuchen, damit umzugehen. Dabei müssen auch der Partner oder Chef bzw. Chefin mitziehen: Aussagen, wonach eine Schwangere ‚weniger belastbar’ sei, enthielten bereits eine Abwertung, warnen anthroposophische Geburtshelfer. Diese sei charakteristisch für eine männlich geprägte und auf äußere Leistung programmierte Arbeitswelt. „Manche Schwangerschaftsverläufe wären problemloser, wenn das Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl und vor allem auch die der Frau entgegen gebrachte Wertschätzung besser entwickelt wären“, so Leeuwen und Maris.
Die werdene Mutter als Gastgeberin
Bilder, Symbole und Vorstellungen haben Menschen immer schon geholfen, bestimmte Vorgänge besser zu verstehen. Dies macht sich auch die Anthroposophie zunutze. Gern wird für die Schwangere das Bild der „Gastgeberin“ verwendet. „Wenn ich Gäste empfange, mache ich die Wohnung schön, suche ihnen das schönste Zimmer aus und umsorge sie. Ich freue mich vielleicht auch über ungebetene Gäste. Bleiben die Gäste dann drei Wochen lang, bin ich aber irgendwann vielleicht auch genervt“, erklärt Christina Hinderlich. „Dieses Bild passt sehr gut zur Schwangerschaft: Manchmal ist das Kind ein überraschender Gast, manchmal ist es erwartet, manchmal freut man sich erst nach einiger Zeit über diesen Gast, manchmal hat man kaum eine Beziehung zu ihm und möchte ihn gar nicht recht an sich heranlassen. Oft hat die Schwangere also diesem Kind gegenüber sehr ambivalente Gefühle, was ganz normal ist.“ Man müsse bei der Schwangerschaftsbegleitung immer schauen, welche Gefühle bei der Frau gerade im Vordergrund stünden, was sie beschäftige.
Schwangerschaftsbeschwerden können von innen kommen
Schwangerschaftsbeschwerden können daher, so die Hebamme, auch von innen kommen: „Manchmal sind solche Beschwerden seelisch bedingt. Wenn eine Frau starke Schwangerschaftsübelkeit hat oder sich sehr häufig übergeben muss, kann es sein, dass sie vielleicht den Kopf zu voll hat mit der Schwangerschaft und sich kaum zentrieren kann. Oder dass sie umgekehrt keinen Bezug zur Schwangerschaft und zum Kind findet und sich nicht wirklich bei sich fühlt. Auch bei vorzeitigen Wehen kann es sein, dass im Kopf sozusagen zuviel los ist, und sich dies durch Unruhe und ein Zusammenziehen im Bauch bemerkbar macht“, erläutert Hebamme Christina Hinderlich. „Ob die Beschwerden nun seelische Ursachen haben oder nicht: Ich schaue genau, wie es der Mutter geht, was sie beschäftigt, was sie jetzt braucht. Danach wähle ich ein passendes Heilmittel aus.“ In Frage kommen Pflanzenauszüge, die (ähnlich wie bei der Homöopathie) potenziert werden oder nicht, ätherische Öle, Presssaft-Auszüge und andere Substanzen aus der Natur.
Vorsorge: Diagnostik mit Augenmaß
Die anthroposophische Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe lehnt die Methoden der Schulmedizin keineswegs ab. Sie rät aber zum bewussten Umgang damit. Es geht ihr unter Anderem darum, die Möglichkeiten der Medizin wahrzunehmen, ohne die innere Beziehung der Eltern zum Ungeborenen zu gefährden. Und ohne den Zauber der Schwangerschaft, das Gefühl für das Wunder, das gerade geschieht, zu zerstören. „Diagnostische Methoden wie z. B. der Ultraschall können lebensnotwendig sein. Viele Kinder wären sicher heute nicht bei uns, wenn wir den heutigen Stand der Technik in der Medizin nicht hätten“, betont Hinderlich. „Trotzdem sollte man achtsam und bewusst mit den Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik umgehen. Das Wichtigste ist, die Eltern vorher gut aufzuklären über die möglichen Folgen. Entdeckt vielleicht der Arzt eine Auffälligkeit im Ultraschall, wird die Frau oft zu einem Spezialisten mit höher auflösendem Ultraschallgerät geschickt, es folgen weitere Untersuchungen, vielleicht Blutabnahmen, sie läuft von einer Station zur nächsten.“ Eltern sollten daher immer selbst entscheiden, wie viel und welche Diagnostik sie möchten. „Sie sollten sich aber erst nach guter Beratung und Aufklärung dafür entscheiden“, fasst die Hebamme zusammen.
Die Geburt: Von der Symbiose zum Du
Gegen Ende der Schwangerschaft wird es für das Ungeborene nicht nur körperlich eng und für die Mutter beschwerlich. Diese Enge und der oft vorhandene Überdruss der Mutter sind nach Ansicht der Anthroposophen sehr wichtig, denn sie läuten für beide auch seelisch etwas Neues ein: „Die enge Einheit geht zu Ende. Die Mutter muss sich körperlich wieder selbst behaupten können. Sie muss das Kind leiblich aus sich heraus setzen, um ihm seelisch, als Mutter zum Kind oder als Mensch zu Mensch begegnen zu können“, erklären van Leeuwen und Maris. Die Geburt sei daher der Übergang von einer Art organischer Symbiose zu einer seelischen Beziehung.
Bei diesem Übergang will die Anthroposophie Mutter und Kind unterstützen. Für die anthroposophische Geburtsbegleitung gilt: So wenig Eingreifen wie möglich, so viel wie nötig: „Unser Ziel ist es, die werdenden Eltern mit ihrem Kind als Einheit zu sehen und dennoch die einzelnen Individuen mit ihren Bedürfnissen nicht aus den Augen zu verlieren. Deshalb gibt es bei uns so gut wie keine Routine-Maßnahmen. Wir beobachten, dass sich ein gemeinsamer Rhythmus von Mutter und Kind findet, der der zurückhaltenden Begleitung bedarf“, erläutert Dr. med. Cornelia Herbstreit vom Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. „Wir bieten Raum und Atmosphäre, um in Ruhe die während der Geburt entstehenden Entscheidungen zu treffen.“
„Während der Geburt ist es auch wichtig, dass das Licht möglichst gedämpft ist, etwa durch rötliche Vorhänge. Vor allem aber lässt man die Eltern bei einer sanften Geburt (wie sie bei Hausgeburten oder auch in anthroposophischen Kliniken praktiziert wird) nach Ankunft des Babys ganz in Ruhe“, erklärt Christina Hinderlich. „Als Hebamme wartet man dann ab, bis von den Eltern der Impuls kommt: sie sich also zur Hebamme hinwenden, Blickkontakt zu ihr aufnehmen, vielleicht eine Frage stellen zur Nachgeburt oder dem Durchschneiden der Nabelschnur. Und was in der Anthroposophie schon lange so gehandhabt wird, ist in den letzten Jahren auch wissenschaftlich untermauert worden. Die Bindungsforschung hat belegt, wie wichtig und prägend die ersten Minuten für Eltern und Baby sind“.
Die erste Zeit: Das umhüllte Baby
Zwar sehen die Anthroposophen in der Geburt den Beginn einer ganz neuen Phase für Mutter, Vater und Kind. Dennoch ist ihnen zugleich auch Kontinuität wichtig, damit der Übergang in die Außenwelt für das Baby so sanft wie möglich verläuft. „Man muss bedenken, dass das Baby bis zur Geburt immer umgeben und geschützt war von verschiedenen Hüllen. Es hat auch nach der Geburt noch dieses Bedürfnis nach Wärme und Umhüllung“, erklärt Christina Hinderlich. Sei das Baby da, brauche es daher eigentlich „nur Liebe, die Nähe von Menschen, die es gut mit ihm meinen, Wärme, und es möchte viel getragen werden.“ Die Wärme sei auch deshalb so wichtig, weil das Baby seine Körpertemperatur noch nicht gut selbst regulieren könne und leicht friere. „Am besten ist langärmelige Kleidung aus Wolle oder Seide.“
Viele frischgebackene Eltern können ihr Baby gar nicht schnell genug in Pekip-Kursen, beim Baby-Schwimmen oder bei der Baby-Massage anmelden. Ein Baby braucht aber anfangs vor allem viel Ruhe, so die Überzeugung der Anthroposophie. „Es möchte nicht zu viele Reize. Es braucht kein Mobile über seinem Bettchen, es reicht ein Wiegenschleier, den es anschauen kann. Auch blinkende, bewegte Spielzeuge zum Aufhängen sind überflüssig. Allenfalls ein weicher Greifling aus Naturmaterial kann sinnvoll sein“, so Hinderlich. Sie plädiert deshalb für natürliche Materialien, „weil Kinder später noch mehr als genug mit Gegenständen in Berührung kommen, die nie gelebt haben. Ich glaube aber, dass Dinge, die einmal gelebt haben (Pflanzen, Wolle vom Schaf) dies auch in sich tragen und fühlbar machen.“
Wenn Eltern aber gern einen Kurs besuchen möchten, zum Beispiel, um andere Eltern kennenzulernen und sich auszutauschen, rät die Hebamme zu einem Pikler-Kurs oder auch zu einer Spielraumgruppe, wie sie vielerorts angeboten werden. „Hier wird der ruhige, achtsame, aufmerksame Umgang mit dem Baby vermittelt und das Kind in seinen Bedürfnissen angeschaut und beobachtet. Man lernt, das Baby immer anzusehen und ihm immer zu sagen, was man gerade tut. In unserer Überfluss- und Bespaßungsgesellschaft wird oft viel zuviel gemacht, bei Babys im ersten Lebensjahr ist weniger eher mehr.“
Zum Weiterlesen:
- Christa van Leeuwen, Bartholomeus Maris: „Schwangerschaftssprechstunde“, Urachhaus 2002, ISBN 978-3825173920.
Anthroposophische Krankenhäuser mit Geburtshilfe:
- Herdecke, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke: www.gemeinschaftskrankenhaus.de
- Berlin, Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe: www.krankenhaus-havelhoehe.de
- Stuttgart, Felder Klinik: www.frauenheilkunde-stuttgart.de