Dr. Johannes Streif

Expertenrat ADHS

In Deutschland sind rund 500.000 Kinder im Schulalter von einer ADHS betroffen. Für diese Kinder sind Unterricht und Hausaufgaben besondere Herausforderungen. Dr. Johannes Streif vom Selbsthilfeverband ADHS Deutschland erklärte in unserem Expertenforum, welche Unterstützung Kinder mit ADHS benötigen und wie Eltern und Lehrer erfolgreich zusammenarbeiten können.

Best of-Fragen

Experte Streif

Über den Experten

Geboren 1968 und aufgewachsen im Badischen – als „Familienmonster, Plage der Nachbarn und Schrecken der Lehrer" (Zitat der weitgehend mündlich tradierten Familienchronik). Nach Abitur und Bundeswehr Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie in München. 1999 Diplom in Psychologie und Promotion in Mediävistik. Seit 2002 selbstständig als Psychologe, vornehmlich als Gerichtssachverständiger sowie in der Fortbildungsarbeit. Mitbegründer und psychologischer Kopf der Jägerburg, eines Projektes für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern.

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3 wichtige Fragen aus unserem Expertenforum

Hausaufgaben am Küchentisch

Frage: Mein neunjähriger Sohn hat im vergangenen Jahr ADHS diagnostiziert bekommen. Ich weiß, dass er seine Hausaufgaben an seinem eigenen Schreibtisch erledigen sollte. Dieser ist aber immer beladen mit Schulsachen, die gerade nicht gebraucht werden, Müll, Kram. Also erledigt er die Hausis am Küchentisch. Gefällt ihm auch besser, weil ich da in der Nähe bin. Soll ich dieses Verhalten zulassen oder das Hausaufgaben machen am Schreibtisch durchsetzen? Auch wird die Schultasche nie am Abend vorher gepackt, mein Reden geht in den Wind, sondern immer erst bevor er das Haus verlässt.

Experte: Im Mittelpunkt sollte nicht so sehr die Frage stehen, ob die Hausaufgaben am eigenen Schreibtisch oder am Küchentisch erledigt werden, sondern vielmehr, wo Ihr Sohn am ehesten ungestört und ohne Ablenkung arbeiten kann. Daher finde ich das Erledigen der Hausaufgaben am Küchen- oder Esstisch im Grunde sinnvoll, da diese Räume meist weniger Ablenkung bieten als das Kinderzimmer, in dem der eigene Schreibtisch in der Regel steht. Dort aber warten tausend verlockende Spielsachen, die interessanter sind als die Hausaufgaben ... Eine andere Frage ist die nach einem Mindestmaß an Ordnung auch im Kinderzimmer. Grundsätzlich sollte es möglich sein, auch dort Aufgaben zu machen, wenn es dort einen Schreibtisch gibt.

 

ADHS in der Pubertät

Frage: Unser Sohn wird 16 und bekommt seit 5 Jahren Medikinet. Es wurde immer wieder Menge des Medikaments geändert. Er ist mittlerweile bei 40 retard morgens und mittags nochmal 10mg. Der Nachmittag und Abend ist grenzig für die ganze Familie, aber es ist irgendwie machbar. Jetzt hat er sein erstes Praktikum und muss dort von 9-17 uhr arbeiten. Das klappt nie im Leben. Wir haben zuhause schon ab Mittag Stress. Er kann sich nicht konzentrieren und kommt mit nix klar, was nicht so läuft wie er es will. Ohne große Aufgaben und Lernen geht es. Doch in einer Firma sich konzentrieren? Es geht auch um Sicherheit, da er dann so impulsiv ist, das es schon öfters gefährlich wurde. Aber kann man noch mehr Medikamente geben? Er hatte es die letzten Jahre so schwer und ist so stolz auf seinen Praktikumsplatz in seinem Traumberuf. Da möchte ich ihm die bestmöglichen Bedingungen bieten. Wie handelt man da beim Start ins Berufsleben?

Experte: Ihre Frage hat zwei Aspekte: zum einen die Medikation, zum anderen den generellen Umgang mit der ADHS im Kontext von Schule und später auch Berufsausbildung. Zur Medikation will ich nur so viel anmerken, dass Sie diese Frage mit dem Ihren Sohn behandelnden Arzt besprechen sollten. Früher ging man von einem festen Verhältnis zwischen Körpergewicht und Dosis aus, welche im Laufe eines Tages nicht überschritten werden sollte. Heute weiß man, dass individuelle Dispositionen und Veränderungen im Hirnstoffwechsel eine generelle Aussage über die Medikationshöhe sowie die Höchstdosis pro Tag nicht sinnvoll erscheinen lassen. Tendenziell ist im späten Jugend- und Erwachsenenalter eine niedrigere Dosierung der zur Behandlung der ADHS gängigen Substanz Methylphenidat (MPH) vergleichbar effektiv wie eine im späten Kindes- und frühen Jugendalter höherer Dosierung. Dies hängt mit der i.d.R. schnelleren Verstoffwechselung von Substanzen im Kindesalter zusammen. mehr

 

Umgang mit ADHS in der Schule

Frage: Können Sie für Kinder mit ADHS schallmodulierte Musik empfehlen? Sind Ballkissen eine Hilfe? Welches Aufmerksamkeitstraining können Sie empfehlen? Wie kann man Eltern ermutigen, die ärztlich angeratene medikamentöse Behandlung zu beginnen?
Für Ihre Antworten danke ich im Voraus.

Experte: Ehrlich gesagt sehe ich viele heutige Angebote zur Behandlung der ADHS als sogenannte Psychotechniken. Das sind Verfahren, die mit neurophysiologischem Anspruch eine hilfreiche Beeinflussung basaler neuronaler Prozesse behaupten. Die wissenschaftliche Befundlage zu diesen Verfahren ist meist dünn; wo sie besser ist, bleibt als Befund nicht selten eine kritische Distanz: ausbaufähiger Ansatz, doch aktuell als Verfahren weder systematisch hilfreich noch in der Kosten-Nutzen-Relation angemessen. Verschiedene grundsätzliche Erwägungen rechtfertigen eine solche kritische Distanz zu Methoden wie der „schallmodulierten Musik", ohne an dieser Stelle über genau dieses Verfahren im Besonderen richten zu wollen: mehr