Kinder ablenken - positiv oder negativ?

Hallo zusammen,

Ich lese grade Jesper Juuls „Dein kompetentes Kind“ und habe mir diese Frage vorher bereits einige Male gestellt.

Juul schreibt, dass man seinem Kind Trauer ob der verlorenen Möglichkeiten (wir machen jetzt nicht den Schrank auf etc) ermöglichen soll, und redet immer wieder von „pädagogischen Ablenkungsmanövern“ und das eher nicht im positiven Sinn.

Er gibt später im Buch (Thema Bedürfnisse ernstnehmen) ein Beispiel, an der Kasse im Spielwarenladen, das Kind möchte nicht mehr warten.
A: Es dauert noch ein Weile, hast du die hübschen Kleider da vorne gesehen?
B: Es dauert noch eine Weile, gehst du mit deiner Schwester dort vorne die Socken wieder auf den Ständer hängen?

A bezeichnet er als Ablenkungsmanöver, B als Möglichkeit, Selbstverantwortung für das eigene Wohlbefinden übernehmen (von Seiten des Kindes).

Das alles ist für mich so noch nicht ganz schlüssig, und ich frage mich häufig, wo denn der Unterschied ist zwischen reiner Ablenkung, ohne das Kind ernstzunehmen und der „richtigen“ Ablenkung?

Ich merke grade, dass mein Text nicht sonderlich klar geschrieben ist, aber mir geht dieses Thema nicht so ganz aus dem Kopf...ich habe mir nämlich selbst schon bei mir und anderen Eltern etwas gedacht a la: schade, dass das Kind jetzt so voreilig mit Spielzeug „ruhiggestellt“ wird und hatte (bei mir und bei anderen) das Gefühl, dass von den Eltern grade keiner so richtig auf das Kind eingegangen ist.

Ich hoffe ihr versteht, was ich meine und könnt mir ein paar Denkanstöße geben oder erzählen, wie ihr das handhabt?

Vielen Dank!

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Vorneweg: ich habe besagtes Buch nicht gelesen. Und ich bin allgemein der Meinung, dass jegliche Erziehungsratgeber als nette Ideengeber fungieren können aber keine komplette Anleitung für den Umgang mit Kindern darstellen.

Im Supermarkt probiere ich einfach aus, was funktioniert. Man kann sich mit dem Kind unterhalten über Sachen, die es dort zu sehen gibt. Und man kann genauso gut das Kind etwas aktiv machen lassen (Socken aufhängen). Welchen Ansatz ich da jetzt nehmen würde, hängt davon ab, ob ich ein bewegungsfreudiges Kind habe oder eins, was gerne kommuniziert.

Ich verstehe ehrlich gesagt nicht so ganz, wieso man das Kind nie ablenken darf. Zu Hause gebe ich sicher nicht den Alleinunterhalter. Da soll dem Kind ruhig mal langweilig sein, dann findet es schon selbst was zu tun. Ist ja auch wichtig für die Phantasie. Auch auf Spaziergängen oder dem Spielplatz darf mein Kind gerne klettern, erkunden usw, ohne dass ich ständig lenken muss.

Ganz schlimm finde ich es, wenn Kinder im Buggy sitzend aufs Smartphone gucken! Das ist sowas von sinnlos. Wenn schon draußen, dann kann man das Kind auch fragen, ob es einen Vogel sieht oä.

Aber bevor es mir den ganzen Supermarkt zusammenschreit, werde ich mich wohl eher über Kleider unterhalten oder "Ich sehe was, was du nicht siehst" spielen als darauf zu warten, dass mein Kind selbst eine Idee entwickelt.

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Hey, ich bin kein Freund von Ablenkung, um einem Theater aus dem Weg zu gehen (etwas zu knabbern in der Hand im Einkaufswagen, im Buggy, im Auto etc.). Ich hasse es auch, wenn Leute Kleinkindern ein Handy/Tablet in die Hand drücken, um ungestört durch das Einkaufszentrum zu bummeln. Ich riskiere Theater lieber, stehe es mit meinem Kind zusammen durch und es lernt z.B. im Supermarkt, dass es meistens nichts gibt, als Ausnahme aber schon und wenn, dann freut es sich.
Bei der Situation im Einkaufszentrum plane ich lieber einen kürzeren Besuch, an dem alle Spaß haben.
Ich bin kein Freund von Ratgebern, wenn sie bibelgleich angesehen werden. Ich bin jetzt fast 13 Jahre Mutter, habe 3 Kinder und war vorher Au Pair, mit Intuition bin ich bisher am besten gefahren. Anregungen nehme ich gerne von anderen Eltern aus dem echten Leben oder auch mal aus dem Forum. Zum Thema Anziehen hatte letztens jemand einen Tipp mit einer "Anziehschlange" (Klamotten als Weg auslegen), das fand ich toll und hab's direkt übernommen bei meinem 4Jährigen.
Aber: Jeder muss seinen eigenen Weg finden :-).
VG

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Grundsätzlich sehe ich den Ansatz von Jesper juul ähnlich.
Ständiges Ablenken ohne dass ein Kind eine Situation mal bewusst durchleben kann und darf ist bestimmt nicht hilfreich.

Aber wenn mein Sohn in anfängt zu weinen und total traurig Ist, weil er gerade nicht mehr in den Garten gehen kann( ZB weil es Abendessen gibt und er den ganzen Tag draussen war), dann biete ich ihm auch Alternativen an.
- bis zum Abendessen mit Knete spielen.
- Beim tischdecken helfen oder
- Tupperschrank ausräumen

Das ist vielleicht eine Ablenkung, mag sein.
Aber er versteht es viel besser wenn ich ihm sage
" wir müssen jetzt leider reingehen. Es war sehr schön draußen, aber Mama muss jetzt Abendessen machen. Schau, wir können die Knete rausholen, dann kannst du noch ein bisschen Spielen"
Dann hört mein Sohn auf zu weinen und freut sich auf die Knete.
Das find ich ehrlich gesagt gar nicht schlimm.
Es hilft ihm, er ist beschäftigt und zufrieden und ich kann Abendessen kochen.

Ich denke man darf diese Ratgeber nicht "kaputt analysieren". Die Ansätze sind toll und können einem helfen gewisse Dinge besser zu verstehen und andere Lösungsansätze zu wählen.
Alles andere ergibt sich aus dem eigenen individuellem Alltag und den Charakteren der Familienmitglieder.

Ich empfehle hier bei urbia auch sehr gerne das gewünschteste Wunschkind.
Aber ich würde nie alles 1:1 übernehmen. Weil es nicht 100 % zu uns passt.

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Vielen Dank für eure Antworten!

Ich sehe Erziehungsratgeber auch ungern überbewertet, nur ist es so, dass Juul zufällig einige Dinge adressiert, über die ich gerade sowieso nachdenke.

An euren Antworten sehe ich auf jeden Fall, dass ich nicht die einzige bin, die das situationsbedingt sieht - „Theater“ zu vermeiden erlaubt auch dem Kind eine Pause vom lernen, aber manchmal muss es eben genau dafür auch erlaubt sein, seinen Frust voll loszuwerden (:

Lieben Dank euch nochmal!

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Hallo
Ich denke die Mischung und die Umsetzung macht es. In einer Situation wie der an der Kasse zB. lenkt man sich doch auch als Erwachsener mal mit irgendetwas ab, unterhält sich,.. Wie öfters bei solchen Themen ist es doch irgendwie auch wieder eine Frage der Definition. Erkennt das Kind dass das warten angenehmer ist wenn es sich mit den Eltern unterhält oder ähnliches und das geht dann von ihm aus, nimmt es die Situation ja auch selbst in die Hand.

LG

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Hallo,

als meine Tochter kleiner war, wären sowohl Beispiel A als auch Beispiel B ordentlich in die Hose gegangen.
Wenn ich mit einem guengelnden Kind an der Kasse stehe, zeige ich unter Garantie nicht auf die nächste Baustelle. Nachher will das Kind noch die Kleider haben, dann müsste ich die Schlange wieder verlassen und mich danach wieder anstellen. Ob es dann mit dem warten besser klappt wage ich zu bezweifeln.
Bei B wäre sie mir eher abgehauen als irgendwas anderes zu machen.


Gruß Sol

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Erstens: das eine ist eine leere Ablenkung "schau mal", das andere eine Anleitung wie man aktiv aus der Situation kommen kann "such dir eine Beschäftigung". Schauen tut das Kind eh, es ist im trotzdem langweilig. Was man erreichen will ist dass sich die Idee "ich suche mir eine Beschäftigung wenn mir langweilig ist" manifestiert.

Zum "Ruhigstellen" mit Spielzeug: In welchen Situationen verstehst Du das als Ruhigstellen??? Erziehung findet nun mal hier im Real Life und nicht in einem Buch statt. Klar wäre es pädagogisch wertvoller das Kind seine Trauer erleben zu lassen dass es z.B. jetzt den Salat beim Kochen helfen kein fünftes Mal waschen darf weil er eh schon nur noch die Hälfte seines Volumens hat. Dazu würde aber auch gehören dass ich mich ihm zuwende und es begleite (denke ich, so mache ich das, das ist mein Anspruch, kenne jetzt Juuls Ansatz nicht genau). Aber beim Kochen hab ich nun mal die Möglichkeit zwischen pädagogisch korrektem Verhalten und verbranntem Schnitzel oder das Feuerwehrauto in die Hand drücken und einer Mahlzeit auf dem Tisch.

Das heißt ich habe meine Ansätze die ich gut finde, versuche sie so oft wie möglich durchzusetzen, aber wenn dadurch das Abendessen in Gefahr gerät oder ich einmal die Woche zum Joga komm um mal paar Minuten abzuschalten dann muss halt auch mal das Feuerwehrauto herhalten. Ich würde durchdrehen würde ich nur nach dem "Buchwissen" erziehen und nicht mal fünf gerade sein lassen. Kinder sind da zum Glück auch sehr unkompliziert, das heißt wenn die Linie stimmt kann man auch mal als Mutter vom optimalen Verhalten abweichen wenn man es nicht kann. In der Natur ist es ja auch so dass wenn der Löwe kommt kein Tier auf "Pädagogisch korrekt" achtet sondern nur ans Überleben denkt, und die Natur hat das schon so eingerichtet dass damit nicht gleich die ganze Erziehung und persönliche Entwicklung im Eimer ist ;-)

Lg
WuschElke

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Aus der Erinnerung heraus hatte ich die Episode an der Kasse so gedeutet, dass es den Unterschied macht, die Langeweile des Kindes zu erkennen und dem Kind auch mitzuteilen, dass man es bemerkt hat. Die beiden Vorschläge schau mal und mach mal wären dann aber gleichwertig.

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Ich hab extra nochmal nachgelesen:
Es geht in dem Buch tatsächlich darum, was bei dem Teil "es dauert noch eine Weile" passiert und gesagt wird.
(Mit eigenen Worten wiedergegeben)
Möglichkeit 1: Sei still, wir müssen jetzt warten
Möglichkeit 2:Du hast recht, es ist ätzend hier, sobald wir bezahlt haben, gehen wir
Möglichkeit 3:Wir müssen warten, obwohl dir langweilig zu sein scheint.
Im Buch wird Möglichkeit 2 favorisiert.

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naja es kommt auf die Situation an, bei deinem Beispiel an der Kasse, da würde ich kein Kind ablenken, manchmal muss man anstehen und warten und ruhe bewaren, wenn es quengelt würde ich ehrlich gesagt sagen das es warten muss und fertig.

Später muss es auch warten, in der Schule ruhig sitzen usw, wenn es langweilig ist, nicht mein Prob.

Ich erziehe meine Kinder definitiv nicht wie Könige wo alle drum , rum spielen, sie sollen später in unserer Welt klar kommen die kein Ponyhof ist, und dazu gehört unangenehme nervige,traurige Situation zu erleben und einfach mal durch zu müssen.
Meine würden ehrlich gesagt ärger bekommen, wenn sie Theater machen, so etwas kann ich nicht gebrauchen.
Aber ganz ehrlich sowas habe ich bei meinen 5 Kindern extrem selten erlebt, wir haben einfach Regeln die überall gelten.

Ablenken oder Unterhalten das tue ich, wenn wir zum Beispiel weit fahren müssen, dann wäre ein Film ok, muss aber sehr weit sein, oder wenn die kleinen zu einer Sportlicher Veranstaltung der Geschwister mit müssen, dann sorge ich vor und unterhalte sie, da können sie nichts für das sie mit müssen.

Es kommt also ganz darauf worum es geht, ansonsten unterhalte ich mich viel mit dem Kindern, aber ich fange keine Gespräche an um das Kind abzulenken, wenn das Kind von sich aus etwas sieht dann , also sagen würde Mama da ist noch ein schönes Kleid würde ich darauf eingehen, wir stehen dann ja nicht stumm nebeneinander.