Bruder hat Schuldgefühle

Hallo,

Es wird etwas lang und danke schon einmal für das Lesen. Ich muss etwas ausholen.

Ich und mein Bruder (er ist 4 Jahre älter als ich) haben eine nicht sehr einfache Kindheit/Jugend hinter uns.
Wir wurden von unserer Mama geschlagen, bekamen von Papa eigentlich nie Liebe und wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf.

Unsere Eltern, die auch heute noch verheiratet sind, standen damals fast wöchentlich vor der Scheidung (wir haben uns damals oft gewünscht, dass sie es einfach tun, weil es unerträglich war).

Ich bekam, weil ich ein Mädchen war, sehr viele Verbote. Durfte nicht lange Draußen bleiben, feiern gehen, wo anders übernachten und von einem Freund will ich gar nicht anfangen. Das alles gehörte sich in den Augen meiner Eltern nicht für ein Mädchen.

Dementsprechend oft gab es Streit, vor allem zwischen mir und meinen Eltern. Mit 15 fing ich dann an mich zu Ritzen, zu rebellieren, doch weit kam ich nie. Mit 16 hatte ich einen Freund, mit dem ich auch Sex hatte und ich sagte es meinen Eltern dann. Daraufhin wurde ich noch mehr eingesperrt, wurde zur Schule und Nachhause begleitet, Monate lang hatte ich keine Kontakte mehr außerhalb der Schule.

Bis ich anfing mit ca 20 Vollzeit zu arbeiten, war meine Kindheit und Jugend für mich die Hölle. Um ehrlich zu sein habe ich bis zu dem Zeitpunkt auch nur Erinnerungsfetzen an diese Zeit und an meine Kindheit erinnere ich mich eigentlich so gut wie gar nicht. Vielleicht verdränge ich es auch einfach, keine Ahnung.

Wegen dem Ritzen bin ich damals in Therapie gegangen, denn ich habe leider bis heute eine Borderline Störung und habe damit auch aufgehört. Leider hat es dann aber umgeschlagen. Ich habe angefangen mit vielen Männern zu schlafen, immer mit der Absicht, es könnte ja etwas draus werden und vor allem, weil ich auch Männer wie Magnete anzog, gut aussehende, gebildete Männer, jeder einzelne potenzielle Kandidaten als zukünftiger Ehemann. Ich schäme mich so sehr wenn ich dran denke, was ich meiner Seele und meinem Körper angetan habe. Bis ich ca 25 war, ich also meinen jetzigen Mann kennenlernte, ging das leider so.

Inzwischen bin ich seit 8 Jahren mit meinem Mann zusammen, glücklich verheiratet, habe zwei Kinder.

Das Verhältnis zu meinem Eltern ist bilderbuchmäßig, ich liebe sie, auch wenn ich so gelitten habe. Inzwischen sind sie tolle Eltern und noch bessere Großeltern. Sie haben sich nie entschuldigt, das verlange ich auch nicht, ich möchte einfach vergessen was war. Auch zu meinem Bruder, der selbst glücklich verheiratet ist habe ich immer Kontakt, zwischen uns war es nie schlecht.

Doch vor paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit meinem Bruder, was mich seitdem beschäftigt und mich irgendwie in diese schlimme Zeit zurückgeworfen hat.
Er sagt, er ist zwar noch nicht bereit mit mir darüber intensiv zu reden aber er will es irgendwann tun.

Denn er bereut so viel, hat Schuldgefühle, dass er, als mein älterer Bruder, nicht für mich da war, als ich ihn gebraucht hatte, nicht ein einziges mal sich gegen meine Eltern aufgelehnt hatte, als sie mich misshandelten und einfach abwesend war, obwohl er alles mitbekommen hat.

Ich habe zu ihm gesagt, dass ich nie diese Erwartung von ihm hatte und er ja selbst noch ein Kind war.

Er hat wirklich sehr geweint und es hat mir im Herzen wehgetan, weil er das wohl seit Jahren mit sich trägt.

Ich bin jetzt wirklich seit ein paar Tagen total geknickt, denke dauernd daran und alles kommt wieder hoch. Es ist so schwer damit umzugehen.

Bearbeitet von Inaktiv
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Hallo

Ich finde es megatoll von deinem Bruder, dass er sich dir so geöffnet hat. Das „Blöde“ ist: Du versuchst zu verdrängen und zu vergessen (ist deine Taktik der Verarbeitung), und nun kommt er und will mit dieser Offensive die Vergangenheit aufarbeiten. Das passt deiner Psyche/Seele gerade nicht, da sie auf Harmonie aus ist und nicht darauf eingestimmt ist, alte Verletzungen hervorzukramen.
Deine Reaktion war richtig, aber du fühlst dich nun dennoch überfordert - ist völlig normal.
Die Frage ist: Wie lange wird er dich warten lassen, bis das vollständige Gespräch stattfindet? Da würde ich etwas darauf drängen, dies zeitnah zu tun. Ab dann könnt ihr gemeinsam „abschliessen“ bzw. überlegen, wie ihr weiter verfahren möchtet.
Spannend wäre auch herauszufinden, was ihn jetzt getriggert hat, sich dir zu öffnen. Möchte er mit euren Eltern brechen? Will er bloss deine Vergebung?

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Hallo,
Vielen Dank für deine Nachricht.

Er liebt unsere Eltern auch sehr, würde nie mit denen brechen. Der Trigger war glaube ich, ich selbst.

Wir haben im Moment ziemlich Ärger mit meinem noch älteren Bruder (der eh nie da war, ist 10 Jahre älter). Ich habe mit meinem "kleineren" Bruder über den älteren geredet und ihm gesagt, dass ich enttäuscht bin von dem großen Bruder wegen einer bestimmten Sache. Daraufhin meinte er, dass er das auch ist, also auch selbst von ihm enttäuscht ist.

Und dann sagte er, dass es auch Dinge gibt, die er selbst bereut gegenüber mir und erzählte eben, dass er Schuldgefühle hat weil er nie für mich da war. Aber ich sagte ihm eben, dass er da auch ein kleines Kind war und die Erwartungshaltung von einem Bruder der erst selbst 15 Jahre alt ist und einem Bruder, der bereits 25 Jahre alt ist, ist ein anderer.

Ich hätte niemals erwähnt, dass ich enttäuscht bin, hätte ich gewusst, dass es das bei ihm triggert. Weil ich selbst wirklich noch nie, auch nur Ansatzweise, mir gedacht habe, dass er mich im Stich gelassen hat damals.

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Du hast von glamcat bereits eine tolle Antwort bekommen. Da möchte ich noch hinzufügen, wenn Verdrängung für dich funktioniert, und du ansonsten keine triggerpunkte im Leben feststellst, dann sollte es bei diesem einem Gespräch mit deinem Bruder bleiben.
Ich hatte selbst eine schreckliche Kindheit und habe mich damals, wo immer es ging, vor meine jüngere Schwester gestellt. Somit natürlich auch einiges mehr abbekommen. Leider haben wir heute ein eher oberflächliches Verhältnis. Du siehst, selbst wenn man das für seine Schwester tut, ist das kein Garant für eine später gute Beziehung.
Seid dankbar dafür.

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Dein Bruder braucht vielleicht selbst eine Therapie. Damit er begreift, dass er dich nicht bösartig im Stich gelassen hat, sondern vermutlich genug mit sich selbst zu tun hatte.

In meiner Familie kämpfte auch jeder für sich selbst, das wurde uns kindern so vorgelebt. Und wenn ich doch msl freiwillig was für andere tat, wurde das ausgenutzt statt honoriert (ich teilte zb meine vom Taschengeld gekaufte süssigkeiten mit meiner Schwester, und sie frass mir buchstäblich die Hasre vom Kopf, bevor sie sagte: "Lecker. Und alles auf deine Kosten". Aber wenn sie was hatte, gab sie mir nie etwas ab.

Auch wenn er der große Bruder war, hatte er genug eigene Probleme und vielleicht Angst vor Bestrafung, wenn er sich für dich eingesetzt hätte. Solange er dich nie heimtückisch reingeritten hat (ich war das nicht, meine Schwester ist Schuld), sollte er auch erkennen, dass er dich oft nicht beschützen KONNTE