Kind schweigsam

Mir ist gestern und heute so einiges an unserer Tochter aufgefallen (in drei Monaten fünf). Seit sie klein ist, müssen ihre Augen aus medizinischen Gründen alle ca. vier Monaten in der Augenklinik untersucht werden. Der Ablauf ist ihr vertraut, man muss ihr bei den Sehtests nichts erklären. Mir ist folgendes aufgefallen: Da, wo sie früher mit dem Personal noch gesprochen hat, ist sie nun schweigsam und verständigt sich durch Gesten (beim Sehtest Nicken, Kopfschütteln, zeigen). Für einen Sehtest ist das nicht weiter ein Problem.

Ich habe abends, als sie schlief mit meiner Frau darüber gesprochen. Anscheinend hat sie etwas davon mitbekommen, sie hatte heute Abend mir gegenüber Redebedarf und hat mir unaufgefordert folgendes gesagt: Beim Besuchstag im Kindergarten, in den sie aktuell seit August 2022 geht (der Besuchstag war Juli 2022), habe sie sich gedacht, dass sie dort weniger Reden wolle, das habe sie nun auch umgesetzt und wolle es so. Sie meinte, die anderen Kinder seien vielleicht froh, wenn sie nicht soviel rede. In der Kita, wo sie früher war, war sie dafür bekannt, dass sie z.B. zu Tisch die ganze Mittagsunterhaltung im Alleingang geführt hat. Mit ihrem Kindergartenlehrer rede sie wenig, aber ab und zu ein bisschen was, mit der Lehrerin für den Kurs "Deutsch als Fremdsprache" redet sie gar nicht. Sie meint, sie könne ja Hochdeutsch. Was auch stimmt, sie redet zuhause wie ein Wasserfall fliessend und weitgehend korrekt Hochdeutsch und redet aktuell viel im Konjunktiv über hypothetische Situationen im Sinn von: "Wenn das Nugget noch grösser wäre, könnte ich es nicht in den Mund stopfen." Von ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit würde ich sie für ihr Alter als eher besser als der Durchschnitt einschätzen.

Im Kurs "Deutsch als Fremdsprache" ist sie gelandet, weil noch ein Platz frei war und der Kindergartenlehrer dachte, dass sie in einer kleineren Gruppe vielleicht ihre Scheu überwinde (und vermutlich auch, damit die Schule das Kontingent möglichst ausreizt, damit es nicht gekürzt wird). In den Kurs geht sie gerne, um die Spiele dort zu spielen. Ihren eigenen Angaben nach redet sie im Nachmittagshort mehr. Neben dem anderen Personal ist der Unterschied, dass man sich dort die Aktivität und die Kinder, mit denen man zusammen ist, aussuchen kann, während es im Kindergarten einen Lehrplan gibt und der Lehrer versucht, die Kinder immer wieder neu zu mischen, z.B., damit es nicht verfestigte nach Muttersprache getrennte Gruppen gibt.

Nun, mir ist schon aufgefallen, dass sie mit Nachbarn im Treppenhaus u.ä. nicht spricht, bei uns zuhause oder im Haushalt ihrer besten Freundin dagegen wie ein Wasserfall, auch dann, wenn sie ohne uns dort ist. Zuhause spricht sie auch viel mit grossem Wortschatz und grammatisch bis auf gelegentliche Fehler bei der Beugung starker Verben weitgehend korrekt. Sie stellt zuhause auch das nach, was den Tag durch gelaufen ist und imitiert dabei auch den Dialekt von einer Betreuerin im Hort, der vom hiesigen deutlich abweicht. Oder sie spielt mit Wörtern rum, die ähnlich klingen. Dass sie das sprechen vermeidet, weil sie sich nicht sprachlich ausreichend ausdrücken kann oder das Gesagte nicht versteht, würde ich ausschliessen.

Von dem, was ich beobachte, ist sie keineswegs unbeliebt. Sie war schon bei mehreren Kindern aus ihrem Kindergarten zuhause, die fragen manchmal auch, ob sie mal wieder kommen könne. Wenn ihre Freundinnen bei uns sind, spielen sie auch super zusammen Rollenspiele, sie spricht völlig normal, spielt Rollenspiele mit ihnen usw. Als scheu würde ich sie auch nicht bezeichnen, sie gesellt sich gern zu anderen Kindern. Heute im Sportkurs, wo sie neu dabei war, hat sie sofort mitgemacht, obschon sie kaum jemanden kannte.

Der erste Verdacht ist mir gekommen, als unser Kindergartenlehrer uns mal gefragt hat, ob sie zuhause auch eine Stille sei (überhaupt nicht, spricht ständig). Mittlerweile verfestigt sich das, sie selbst weiss ja offensichtlich auch, dass sie das anders handhabt als die anderen Kinder.

So, ich habe jetzt viel geschrieben. Selektiver Mutismus als Krankheitsbild ist mir bekannt. Ich hatte früher eine beste Freundin, die das Problem auch im Erwachsenenalter noch hatte und lieber andere Leute wie z.B. mich gebrieft hat, was sie für sie sagen sollen, anstatt es selbst zu machen. Andererseits denke ich mir, nur weil mir ein bestimmtes Krankheitsbild aus persönlicher Erfahrung bekannt ist, bilde ich mir vielleicht auch Dinge ein, die gar nicht sind. Vielleicht gibt's ja hier Meinungen und Erfahrungen?

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Dein Text klingt fürn mich so, als wäre dein Kind kognitiv sehr weit und reflektiert.
Vielleicht hat sie im alten Kiga öfter mal zu hören bekommen, dass sie nicht so viel quasseln soll. Gerade beim Mittagessen mögen es die Erzieher gerne mal ruhiger und ermahnen Kinder, die ständig quatschen und die anderen vom Essen abhalten. Vielleicht hatte sie demzufolge öfter den Eindruck, dass sie anderen mit dem "Reden wie ein Wasserfall" auf die Nerven geht und sich für den neuen Kiga vorgenommen, sich mehr zurückzunehmen. Dann wäre sie aber für ihr Alter wirklich schon sehr weit.
Offensichtlich spricht sie jetzt nur noch dort viel, wo sie sich sicher ist, dass sie damit nicht negativ auffällt (zu Hause, bei der besten Freundin). Vielleicht kann man ihr einfach wieder mehr das Gefühl geben, dass es grundsätzlich schön ist, wenn sie viel spricht und erzählt. Dass es vielleicht nur in bestimmten Situationen (Mittagessen) nicht so erwünscht ist.
Selektiven Mutismus würde ich ausschließen.

2

Ich weiss nicht recht. Dort, wo sie vorhersehbar schweigt, spricht sie ja auch dann nicht, wenn sie gefragt wird.

Es gibt schon ein paar laute Jungen, die sich benehmen wie in der Fankurve im Stadion, wenn niemand auf die Bremse steht. Dass die ab und zu zurecht gewiesen werden, kann schon sein, aber sie selbst ist ja meilenweit davon entfernt.

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Hm, wenn sie im DeutschFÖRDER gelandet ist-- meinst du nicht, dass hat IHR Selbstbewusstsein angekratzt?

"Ich kann so schlecht reden, ich muss mit den anderen Kindern üben, dann sage ich lieber gar nichts mehr..."

Unsere Kids würde so reagieren-- die Große hat in der Grundschule damals mitbekommen, dass eine Lehrerin immer bestimmte Kids ( schwache) zum Üben rausgeholt hat... sie war eines Tage total verstört, dass sie auch rausgeholt wurde-- obwohl sie das ja alles konnte--- stellte sich raus, besagte Lehrerin hat mit allen Kids einen Übungszettel gemacht um den Stand abzuprüfen--- war also harmlos..


Habt ihr sie mal gefragt, was sie von dem Kurs hält? wie es ihr da gefällt? ob sie das überhaupt machen will?....

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Ja, ich habe sie gefragt. Sie geht gerne hin. Ich habe ihr auch erklärt, dass wir sie da jederzeit abmelden können, das will sie aber nicht. Ihr Kindergartenlehrer meint auch, dass sie den Kurs nicht brauche, er hat sich erhofft, dass sie in einer Gruppe mit nur drei anderen Kindern eher gesprächig wird. Die Frage, ob es für sie ein sinnvolleres Angebot gibt als Deutschunterricht, ist aber berechtigt.