Eine Reise nach Sibirien
Mit dieser Erzählung über den Moment, da ihr bewusst wurde, dass sie wirklich mit allen Sinnen im Elterndasein angekommen war, errang Katrin Bödige den dritten Platz bei unserem Kurzgeschichten-Wettbewerb.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich erfuhr, dass ich schwanger bin. Es war entsetzlich heiß und ich hatte einen furchtbaren Kater. Ja, daraus lässt sich schließen, dass diese Nachricht höchst unerwartet kam. Unerwartet, ungewollt, unfassbar. Kinder zu haben, das war für mich weit weg, die sibirische Tundra meiner Lebensvorstellung. Ein Ort von dem man weiß, dass es ihn gibt, der vielleicht sogar den einen oder anderen Reiz haben könnte, wenn man Erzählungen von Menschen zuhört, die die Reise gewagt haben. Aber selbst dorthin? Nein, ich hatte andere Reiseziele.
Ich machte den Test. Nicht, weil ich dachte, er könnte tatsächlich positiv sein, sondern eher als eine Art magisches Ritual. Etwas in der Art wie: “Wenn ich noch über diese Ampel fahre, bevor sie rot wird, bestehe ich meine nächste Prüfung“. Quasi das Anstecken einer Zigarette und dann kommt der Bus um die Ecke.
Als ich auf die zwei roten Streifen starrte, brach für mich eine Welt zusammen. Ich weinte um ein Leben, von dem ich dachte, dass ich es verlieren würde, ohne Trost aus einem Leben schöpfen zu können, das ich noch nicht kannte. Die emotionale Achterbahnfahrt, die in den nächsten Tagen folgte, war holperig, unsicher, mit vielen Drehungen, rasenden Abfahrten und steilen Anstiegen. Aber genauso unerwartet wie die Schwangerschaft kam die Freude darüber. Ich denke mittlerweile, sie war schon die ganze Zeit über da, blieb aber unauffällig, tief unten in den Windungen und Verwirrungen meiner Gedanken verborgen, nur gelegentlich hervorblitzend, nicht greifbar, flüchtig wie Quecksilberkügelchen. Es war ein Gefühl, das süchtig machte, das fassbarer wurde, je mehr wir darüber sprachen, es zu unserer Wirklichkeit machten. Dennoch, Mutter zu sein, das blieb für mich die ganze Schwangerschaft irgendwie unwirklich. Mich quälten Ängste und Träume, lächerliche, erstaunliche, nachvollziehbare. Ich würde mein Kind bestimmt fallen lassen, es irgendwo vergessen, oder fortan nur noch die Stuhlkonsistenz meines Kindes als Gesprächsthema anführen können in Konversationen, die ohnehin nur in Krabbelgruppen, Erziehungsworkshops und auf Laternenumzügen stattfinden würden.
Nach der Geburt kam die Realität. Überwältigend, wunderschön, verwirrend, faszinierend und manchmal auch Angst einflößend. Dennoch blieb ein Hauch von Unwirklichkeit. Aber es gibt viele Dinge im alltäglichen Leben, die mir ständig sagten und sagen, dass ich tatsächlich Mutter eines Kindes geworden war. Stillen, Windeln wechseln, durchwachte Nächte, Erziehungsdiskussionen, Kindersitzkauf und Hängebrüste sind ja nur einige Beispiele. Manche Situationen stechen aber heraus und so ist mir eine Sache als einer der prägnantesten Momente im Gedächtnis geblieben…
Ich bin, wie viele andere Menschen auch, kein Freund von menschlichen Exkrementen. Ich mag weder meine eigenen besonders, noch hege ich irgendwelches Interesse an denen anderer Leute. Die während der Schwangerschaft - in Retrospektive sehr optimistisch überschlagene - Rechnung besagte, dass in den nächsten drei Jahren etwa 5500 zu wechselnde Windeln zu erwarten wären. Eine Rechnung, die bei mir leichte Panikattacken und spontane Schwangerschaftsübelkeit auslöste.
Und über dieses Thema, das Grauen sämtlicher kinderloser Menschen, soll nun auch im Folgenden berichtet werden. Wir haben das wunderbare und seltene Glück, Menschen um uns zu haben, die unsere Freude und Begeisterung über unsere Kinder mit uns teilen. Nicht nur unsere Familien beteiligen sich mit Leidenschaft und Elan an Diskussionen zum Thema Kindererziehung, Sicherheitsstandards von Laufrädern und Windelpreise, sondern auch viele unserer meist kinderlosen Freunde geben uns niemals das Gefühl, mit Kindergeschichten zu langweilen, oder gar zu nerven.
Am Tag, als sich die Begebenheit, von der ich hier erzählen will, ereignete, traf ich mich mit einigen sehr besonderen Freundinnen, die ich bereits aus der Schule kenne. Es war ein nettes Beisammensein mit Wein und leckerem Raclette geplant. Das Ganze fand bei den Eltern einer Freundin statt, die in der Nähe meiner Heimatstadt einen wunderschönen Hof besitzen, mit offenem Herdfeuer, meterhohen Decken und standesgemäßer Esstafel in der riesigen Diele. Wir saßen da, quatschten, lachten, erzählten. Tammo war in dem Alter es als Wonne zu empfinden, von einem Schoß zum nächsten gereicht zu werden und mit zahnlosem Lächeln sämtliche Herzen zu brechen; die Flasche aus zahllosen verschiedenen Händen zu bekommen und dabei stets seine gute Laune zu behalten. Tammo war das erste Baby in diesem Freundeskreis und zehn Mädels kümmerten sich rührend und fürsorglich um ihn.
Aber es gibt eine Sache, bei der sich kinderbegeisterte Kinderlose zu meinem allergrößten Verständnis dann doch zurückziehen: das berüchtigte Windelwechseln. Auch für mich gehörte es immer noch nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber ich hatte mich mittlerweile meinem Schicksal gefügt und wechselte mit angehaltenem Atem unter Zuhilfenahme von Raumsprays und Unmengen von Feuchttüchern Windel um Windel. Auf meine Bitte nach einer Wickelunterlage brachte mir meine Freundin und Tochter des Hauses ein Kissen. Kein normales Kissen, sondern ein sehr kostbar und sehr alt aussehendes Spitzenkissen, das wahrscheinlich der verstorbenen Großmutter gehört hatte und ein vielgeliebtes und gehütetes Erbstück war. Gut, dachte ich mir, du hast Tammo schon auf Parkbänken, im Kofferraum des Autos, im grünen Gras und in der Luft schwebend gewickelt, dagegen ist ein Spitzenkissen doch mal eine angenehme Abwechselung. Also begann ich, beobachtet von meinen Freundinnen, Tammo trockenzulegen. Erst ging alles gut, die dreckige Windel vom Hintern entfernt, selbigen gesäubert, neue Windel in der einen, die Beine in der anderen Hand wollte ich gerade weitermachen im Text, als ich merkte, dass etwas im Kommen war. Tammo bekam diesen merkwürdig konzentrierten, aber dennoch entrückten Ausdruck im Gesicht, der nur eins bedeuten konnte. Instinktiv hielt ich meine Hände unter seinen Allerwertesten, um eine riesige Ladung Babyschiss in Empfang zu nehmen. Gut, dachte ich, das Spitzenkissen ist gerettet, als ich mehrere Ausrufe des Ekels und Erstaunens hörte. Ich richtete mich auf, um mich hilflos nach einer Deponiermöglichkeit für die gesammelten Werke meines Sohnes umzusehen und nach der Quelle der Ausrufe zu suchen und blickte in zehn völlig entgeisterte Gesichter, die ein gewisses Entsetzen nicht verbergen konnten. Mit der Hinterlassenschaft in den Händen stand ich auf und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Nicht nur wurde mir erneut, diesmal auf stinkende Weise, bewusst, dass ich tatsächlich Mutter eines Sohnes bin, sondern mir wurde auch schlagartig klar, dass ich hier etwas getan hatte, von dem ich niemals dachte, dass ich es jemals tun würde. Bis zu den Ellenbogen in Babykacke zu stecken und nicht das Bedürfnis zu haben eine Sagrotandusche zu nehmen.
Es ist schon erstaunlich, wie leicht man Spleens, Macken und Gewohnheiten ad acta legen kann und einer höheren Macht unterordnet, oder sogar opfert. Sonntagmorgen lange schlafen und dann einen Sekt in der Badewanne trinken – überbewertet. Warum 100 Euro für eine Jacke ausgeben, wenn man dafür auch einen Duplozoo kaufen kann. Wie könnte man einen schönen Roman dem fünfundzwanzigstem Genuss von „Die kleine Raupe Nimmersatt“ vorziehen? Anderes lässt man schwerer los, aber nach vier Jahren als mittlerweile zweifache Mutter steht unumstößlich fest: Die sibirische Tundra ist einer Strandhütte in der Karibik und jedem anderen Ort der Welt vorzuziehen. Ein herrlicher Ort, voller Wunder und Überraschungen. Und außerdem: Volle Windeln können auch durchaus ihre Vorteile haben. Beispielsweise wenn man mit dem Tüv-überfälligen Auto in eine Verkehrskontrolle gerät, der arme Polizist seinen Kopf in das Auto steckt und aufgrund der anheimelnden Geruchsmischung aus verschütteter Milch, altem Auto, schwachem Pommesgeruch und der geballten Ladung Pampersduft schnell die Segel streicht und die Überprüfung so rasch wie möglich beendet. Dann lehnt man sich zurück und wundert sich, dass man sich nicht nur an dem ersten Lächeln, den ersten Schritten, den ersten Worten erfreuen kann, sondern auch an einer prall gefüllten Windel.