Daumen lutschen
Kieferorthopäden betonen gerne die Gefahren des Daumenlutschens. Doch das Nuckeln am Daumen erfüllt vielerlei natürliche Bedürfnisse von Kindern. Wann ist diese Angewohnheit harmlos und wann wird sie schädlich?
Warum lutschen Babys am Daumen?
"K o n r a d !" sprach die Frau Mama,
"Ich geh' aus und du bleibst da.
Sei hübsch ordentlich und fromm,
Bis nach Haus ich wieder komm'.
Und vor allem, Konrad hör' !
Lutsche nicht am Daumen mehr;
Denn der Schneider mit der Scher'
Kommt sonst ganz geschwind daher,
Und die Daumen schneidet er
Ab, als ob Papier es wär'."
(Die Geschichte vom Daumenlutscher, Heinrich Hoffmann)
Welche Ursachen gibt es für das Damuen nuckeln?
Wenn der winzige Daumen des Sprösslings zum größten Freund und Vertrauten wird, müssen Eltern nicht sofort in Alarmbereitschaft verfallen, doch ihre Wachsamkeit sollten sie nicht verlieren.
Schon im Säuglingsalter machen wir die Erfahrung, dass das Nuckeln an der Mutterbrust ein süßes Glück bedeutet. Dabei geht es nicht allein um Nahrungsaufnahme, ebenso wichtig ist das damit verbundene Erlebnis von Geborgenheit, Ruhe, Nähe oder auch der empfundene Trost. Die Erkenntnis, geliebt und umsorgt zu werden, bringt das Kind auf den Weg, Vertrauen in seine Umgebung zu entwickeln.
Das lutschen am Daumen stillt nicht nur das angeborene und natürliche Saugbedürfnis des Babys, es befriedigt außerdem das Verlangen nach den genannten Emotionen. Fehlt der Mutter zum Beispiel gerade die Zeit, mit ihrem Kind zu schmusen, kommt der Daumen gerade recht. Einigen Kindern genügt der Schnuller, andere entdecken, dass ihr kleiner Daumen ein ständiger Begleiter, dass er jederzeit und überall greifbar ist.
Daumen lutschen: Einschlafhilfe oder Dauerzustand?
In den ersten eineinhalb Lebensjahren (so genannte orale Phase) ist der Mund das zentrale Wahrnehmungsorgan. "Die Hand-Mund-Koordination (Zusammenspiel von Händen und Mund) beginnt mit dem Daumenlutschen im Mutterleib. Zum Spielen braucht das Kind auch nach der Geburt vor allem Mund und Hände. Das führt normalerweise zu einer Einschränkung des Daumen lutschens auf die Ruhezeiten", sagt der Kinder- und Jugendarzt Dr. Rudolf Weitz. Ein entspanntes Kind, das viel an der frischen Luft spielt, sich zu beschäftigen weiß oder auch durch die Eltern beschäftigt wird, vergisst das Lutschen am Daumen.
Nuckeln: Als Einschlafhilfe nicht gefährlich
Kinder, die das Daumenlutschen als Einschlafhilfe, als Überbrückung der Langeweile oder als momentanen Entspannungsträger nutzen, sind nicht gefährdet, später an einer Verformung des Kiefers und/oder einer Zahnfehlstellung zu leiden. Eltern sollten auf die Intensität und Häufigkeit des Nuckelns achten, denn dies sind die ausschlaggebenden Faktoren.
Die Befriedigung des normalen Saugbedürfnisses vom exzessiven Daumenlutschen zu unterscheiden, lernen Eltern nur durch die Beobachtung ihres Kindes. Wie bereits erwähnt, ist das Lutschen am Daumen in den "Ruhezeiten" kein Grund zur Sorge. Anders, wenn das Kind das Daumenlutschen dem aktiven Entdeckungsdrang vorzieht und stundenlang nuckelt.
Daumenlutschen als Schutz vor Allergien?
Laut einer neuseeländischen Untersuchung kann das Daumenlutschen nicht nur beruhigen und beschäftigen, sondern Kinder sogar gegen Allergien abhärten. In einer Langzeitstudie fanden die Forscher heraus, dass diejenigen Kinder, die dieser Angewohnheit nachgingen, später weniger an Allergien litten. Und die Vermutung, dass die Menschen, die in jungen Jahren mit Schmutz und Bakterien in Kontakt kommen, weniger allergiegefährdet sind, ist auch gar nicht neu. Trotzdem weisen die Autoren der Studie auch explizit darauf hin, dass die Ergebnisse nicht zum Daumenlutschen ermuntern sollen, da ein tatsächlicher gesundheitlicher Nutzen nicht belegt ist. Immerhin kann intensives Daumennuckeln auch Zahn- und Kieferprobleme zur Folge haben.
Wie Daumen lutschen auf Kiefer und Zähne wirken kann
Die Kieferknochen eines Säuglings sind weich und formbar, auch die ersten durchbrechenden Zähne streben eher orientierungslos in die Höhe. Die Berührung mit den Weichteilen (Lippen, Zunge) bestimmt die Stellung der Zähne. Der sanfte Druck der Zunge nach vorn und der Lippen nach hinten bewirkt über Jahre hinweg die Ausrichtung der Frontzähne.
Ein übertrieben häufiges, sehr intensives Daumenlutschen kann das Wachstum sowohl der Zähne als auch des Kiefers gesundheitsschädigend beeinflussen. Denn "jede Verformung des wachsenden Organismus geschieht durch Gegendruck", sagt Dr. Weitz. Der Daumen im Mund kann die Ursache dafür sein, dass der Oberkiefer spitz und schmal nach vorn gezogen wird. Dadurch richten sich auch die oberen Schneidezähne falsch aus. Es kann aber auch zu einem offenen Biss kommen, d.h. die Zahnreihen klaffen auseinander. Der Druck, den der Daumen ausübt, schiebt die oberen Zähne nach vorn, die unteren nach hinten.
Übertriebenes Nuckeln ist ein Symptom
Wird das Bedürfnis stillende Lutschen am Daumen zu einer Angewohnheit, die das Kind nicht nach dem dritten Lebensjahr ablegt, sollten Eltern darauf bedacht sein, ihrem Kind das Nuckeln abzugewöhnen, empfehlen viele Kieferorthopäden. Wichtig hierbei ist, den Ursachen des Daumen Lutschens auf den Grund zu gehen, denn kein Kind nuckelt grundlos. Fühlt das Kind sich allein gelassen, fehlt ihm die notwendige Nähe und Geborgenheit, wird das Daumen lutschen zu einer Art Fluchtstätte. Aber auch Überanstrengung und Müdigkeit können sich dahinter verbergen. Dr. Weitz weist darauf hin, dass "krankhaftes" Daumen lutschen im Alltag der Kinderpraxis kein wirkliches Problem darstellt. Doch er macht auch darauf aufmerksam, dass exzessiv Daumen lutschende Kinder dem Kinderarzt vorgestellt werden sollten.
Wie den Daumen abgewöhnen?
Auf keinen Fall sollten Eltern ihr Kind dazu zwingen, nicht mehr am Daumen zu lutschen. Auch bitter schmeckende Cremes sind keine gute Lösung. Allein durch Zuwendung kann dem Kind geben werden, wonach es vielleicht sucht und es ihm ermöglichen, sich das Daumen lutschen abzugewöhnen. Wichtig bei diesem Prozess sind Motivationen - also das Kind zu loben, wenn der Daumen gerade nicht im Mund steckt. Einige Eltern belohnen die Fortschritte ihrer Kleinen mit einem "Antilutschkalender". An den Tagen, an denen der Sprössling nicht am Daumen gelutscht hat, darf er eine Sonne in die entsprechende Kalenderzeile malen. Entgegengesetzt wirken Strafe und Tadel. Sie schüchtern das Kind ein und bestärken somit das Daumenlutschen.
Nuckel oder Daumen?
Viele Zahnärzte meinen, die aus Silikon oder Latex hergestellten Schnuller sind kiefergerechter geformt, als der Daumen. Deshalb sei es gesünder, dem Kind einen Nuckel anzubieten. Doch hier gehen die Ansichten der Mediziner auseinander. So sagt zum Beispiel der Kinderarzt Dr. Rudolf Weitz: "Der Daumen ist 'mundgerechter' und im positiven Sinne 'kieferformender' als jedes Industrieprodukt der Welt!" Er begründet seine Aussage mit der Tatsache, dass schon das Kind im Mutterleib am Daumen lutscht, doch kein Neugeborenes mit einem "Lutschgebiss" zur Welt kommt.
Unbestritten ist jedoch, dass ein Schnuller später durchaus einfach weggeworfen werden kann, vielleicht sogar vom Kind selbst. Der Daumen ist und bleibt in greifbarer Nähe. Das Abgewöhnen mag vom Nuckel einfacher gelingen, zumindest bleiben den Eltern mehrere Möglichkeiten, den Schnuller unattraktiv zu gestalten. Sie können den Nuckel zum Beispiel einstechen, die Luft entweicht, und das Kind empfindet keinen Spaß mehr am Lutschen.
Oder vielleicht tritt eines Nachts die "Schnullerfee" in das Kinderzimmer und tauscht den geliebten Nuckel gegen ein lang ersehntes Geschenk ein. Nur wenige Kinder sind dann noch bereit, ihr heroisch erworbenes Geschenk für eine weitere Nacht mit dem Schnuller wieder herzugeben.