Einzelkinder sind keine Problemkinder
Einzelkinder gelten als egoistisch und verwöhnt. Haben sie wirklich besondere Probleme? Wir berichten über Erstgeborene, Nesthäkchen und andere "Einzelfälle".
Der Volksmund pflegt Vorurteile
Philipp spricht mit seinen fünf Jahren schon wie ein Großer. Bekommt er nicht die absolute Aufmerksamkeit seiner Mutter, kriegt er einen Wutanfall. Er kann kaum Spielzeug mit anderen Kindern teilen. Typische Eigenschaften eines Einzelkindes? "Feigheit, Unselbstständigkeit, Altklugheit, Selbstsucht und Ungeselligkeit." Diese Charakterzüge schrieb der Wiener Kinderarzt Josef Friedjung um die Jahrhundertwende den Einzelkindern zu. Und diese Thesen übernimmt der Volksmund bis in die heutige Zeit. Sind Einzelkinder problematischer als Geschwisterkinder? urbia ist dieser Frage einmal nachgegangen. Denn immerhin hat die Anzahl von Einzelkindern in Familien inzwischen mindestens einen Anteil von 38 Prozent erreicht.
Das Kind wird nie lernen zu teilen
"Das Kind wird immer im Mittelpunkt stehen wollen. Es wird nie lernen zu teilen." So lautet die landläufige Meinung vieler auch heute noch. Wissenschaftler dagegen sehen die Unterschiede von Einzelkindern hingegen eher zugunsten der "einsamen" Kleinen: Laut einer kalifornischen Studie, in der 150 000 Lebensläufe von Einzelkindern untersucht wurden, erreichten sie einen höheren Bildungsabschluss. Durch die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern würden sie in einem höheren Maß gefördert, als dies logischerweise in Mehrkindfamilien der Fall ist. "Wenn Eltern sich gut absprechen und gut miteinander kooperieren, werden sie ihrer Aufgabe gerecht", sagt die Düsseldorfer Psychologin Eva-Marie Buch. Sie dürfen sich so oder so auf keinen Fall gegeneinander ausspielen lassen und "müssen Grenzen aufzeigen".
Einzelkinder brauchen Kontakte
Für die Expertin ist es zweitrangig, ob ein Kind alleine aufwächst oder mit mehreren Geschwistern. Natürlich würden die Kinder jeweils aber bestimmtes Rollenverhalten zeigen, räumt sie ein. So ist einem Einzelkind die natürliche Rivalität, die es zwischen Geschwistern gibt, völlig fremd. Es orientiert sich vornehmlich an Mutter und Vater. Dabei kann besagte Rivalität auch hier aufkommen. "Dass Einzelkinder in der Regel schneller lernen, liegt in der Natur der Dinge. Die Eltern haben viel mehr Zeit, sie zu fördern", sagt Eva-Marie Buch. Auf jeden Fall rät die Expertin, dem Sprössling schnell Kontakte mit anderen Kindern zu ermöglichen. "Auch auf den Kindergarten sollte man keinesfalls verzichten." Das sei schon wichtig, um gerade Einzelkindern das soziale Miteinander zu vermitteln. Die Frage, ob Einzelkinder generell Problemkinder seien, beantwortet die Psychologin mit einem klaren Nein. Allerdings sollte man sich davor hüten, ein Kind zu fürsorglich und überängstlich zu behandeln, gar zur "Übermutter" zu werden. Dadurch wird es nur selbst ängstlich und unselbstständig. Es engt das Kind in seiner Entwicklung ein.
Mit nur einem Kind sind Eltern flexibler
"Die Mehrzahl hat heute im Schnitt zwei Kinder", sagt die Psychologin Eva-Marie Buch. Mit zwei oder mehreren Kindern ändert sich in den meisten Fällen nicht nur das das Berufsleben - überwiegend für die Frau - es ändern sich auch Freizeit- und Abendgestaltung. Ein Kind kann man schon einmal stundenweise Verwandten überlassen. Oft sind die Ehepartner auch in der beruflichen Gestaltung da flexibler. Mit der Ankunft des zweiten Babys ändert sich auch viel für das Erstgeborene. Eltern brauchen oft viel Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum, um dem Älteren klarzumachen, dass sein Platz in der Familie sich nun geändert hat - bei weitem aber nicht gefährdet ist. Etwa die Häfte aller Kinder reagiert auf den Nachwuchs mit Verhaltensänderungen. Trotz, Rückzug oder Anklammern an die Eltern sind nur einige Beispiele. Entscheidend ist auch das Alter der Erstgeborenen bei der Ankunft des Babys. Je älter sie sind, desto weniger drastisch werden die Folgen sein, weil sie zunehmend selbstständig sind und eigene Wege gehen.
Der Erstgeborene ist immer der Vernünftige
"Das älteste Kind gilt immer als das Vernünftige und muss viel mehr Verantwortung übernehmen", berichtet die Psychologin Eva-Marie Buch aus ihrer Praxis. Das hat positive und negative Seiten: Zum einen werden diese Kinder wie Einzelkinder ständig angespornt und entwickeln sich meist sehr schnell. Entsprechend sind sie dann enttäuscht, wenn etwas mal daneben geht. Zum anderen müssen diese zumeist zuverlässigen, gewissenhaften und ehrgeizigen Kinder sofort um die Aufmerksamkeit der Eltern buhlen, wenn sich ein Geschwisterchen ankündigt. Experten raten hier, dem ersten Kind nicht zuviel Verantwortung zu übertragen. Auch sollte man seine Privatsphäre akzeptieren und dafür sorgen, dass der Ältere nicht ständig den Kleinen im Schlepptau haben muss. Und: bei aller Liebe zu dem süßen Säugling und Nachzügling sollten Eltern ihrem Ältesten bewusst Aufmerksamkeit und Zeit schenken.
Die in der Mitte müssen vermitteln
Die mittleren Kinder wissen innerhalb der Familie oft nicht so genau, wo eigentlich ihr Platz ist. "Sie wollen ständig vermitteln", vermutet Eva-Marie Buch. Sie stecken im wahrsten Sinne des Wortes "mittendrin" und wissen teilweise nicht, wohin die Reise eigentlich geht. Da sie häufig das Bindeglied zwischen den jüngeren und älteren Geschwistern sind, nehmen sie unbewußt recht schnell die Rolle des Diplomaten ein. Sie haben meist ein ausgeprägtes Feingefühl, sind sehr kontaktfreudig und haben keine allzu großen Erwartungen frei nach dem Motto: es wird schon alles werden... Auf der anderen Seite sind sie sehr zielstrebig. Denn innerhalb der Familie werden sie leicht zum Mitläufer, der seinen eigenen Weg suchen muss.
Das Nesthäkchen - umhätschelt und verwöhnt
Zwei Jungen sind schon auf der Welt - da kommt noch ein kleines Mädchen hinterher: ein Nesthäkchen. Herzallerliebst. Doch im Laufe der Zeit entwickelt es sich zu einem regelrechten Besen. Die Kleinsten in der Familie haben sehr schnell heraus, wie man sich bei Geschwistern und Eltern am besten Gehör verschafft. Sei es durch lautstarke Hilfeschreie in Richtung Mutter oder die Aktivierung der berühmt-berüchtigte Tränendrüse. Sie müssen auch aus der Rolle fallen, denn sämtliche Kniffe und Tricks kennen die Eltern ja schon von den Älteren. Frei nach dem Motto "Not macht erfinderisch" ziehen sie alle Register, um aufzufallen. Sie sind meist lebhafter, vorlauter und vorwitziger als die älteren Geschwister - aber zweifellos bei aller Verrücktheit liebenswert und lustig. Das gilt im übrigen für Mädchen ebenso wie für Jungen - das Geschlecht spielt hier keine Rolle - auf den Erfindungsreichtum kommt es an.
Egal, ob Großfamilie oder Familie mit nur einem Kind - die Aufgaben sind für Eltern gleich schwer und groß. "Einzelkinder haben langfristig nur den großen Nachteil, dass sie später als Erwachsene wirklich einmal alleine dastehen", sagt Eva-Marie Buch. Und das fängst schon bei der Pflege und Betreuung der eigenen Eltern an, wenn diese einmal in die Jahre kommen. Egal, ob sich Geschwister verstehen oder nicht - sie wissen zumnindest, dass da noch jemand ist.
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