Gibt es das überhaupt?

Gerechtigkeit in der Erziehung

Gerecht zu sein bedeutet nicht, seine Kinder exakt gleich zu behandeln, lautet ein inzwischen allgemein anerkanntes Credo. Doch damit nicht genug, meint urbia-Autorin Maja Roedenbeck. Besonders wichtig ist es, Kinder ihren Gerechtigkeitssinn selbst entwickeln zu lassen.

Autor: Maja Roedenbeck

Die Gerechtigkeitsfalle

Mutter Kinder gerechte Erziehung
Foto: © iStockphoto.com/ Tatami_Skanks

Geschwister gerecht zu behandeln, heißt nicht, sie gleich zu behandeln, sondern auf die Bedürfnisse eines jeden Kindes einzugehen. Das steht im Erziehungsratgeber ganz weit vorn. Trotzdem reiben sich gerade deutsche Eltern mit ihren verkrampften Bemühungen, diese moderne Version von Gerechtigkeit im Familienalltag umzusetzen, die Nerven auf. Denn leider geht die Rechnung „Gerechtigkeit gleich Frieden“ weder mit der altmodischen, noch mit der zeitgemäßen Version auf. Die Kinder spüren, dass jedes einzelne von ihnen für seine besonderen Eigenarten geliebt und mit seinen Ansprüchen ernst genommen wird, und danken es den Eltern mit Harmonie? Von wegen! In der Realität erfüllen sich die großen Erwartungen, die Eltern heute mit einer Erziehung unter dem Motto Gerechtigkeit verbinden, nicht. Im Gegenteil, die Erfahrung zeigt: Je ausführlicher sie über Gerechtigkeit predigen, desto pedantischer wachen die kindlichen Richter, dass auch ja nichts schief läuft mit dem obersten Familienprinzip. Und desto mehr Anlass gibt es für Auseinandersetzungen. Da hilft nur eins: die eigenen Erwartungen herunterschrauben, auf das natürliche Gerechtigkeitsempfinden des Kindes vertrauen – und locker bleiben.

„Je mehr die Eltern auf Gerechtigkeit achten, desto wichtiger wird das Thema auch für die Kinder“, beobachtet auch Julia Woldmann, 32, Mutter von zwei Mädchen (5 und 3), „sie entwickeln dann einen sehr strengen und ganz eigenen Sinn dafür.“ Klingt erstmal nach Erziehungserfolg. Ein Fünfjähriger, der in der Ballspielgruppe ungebeten dafür sorgt, dass alle Kinder gleich oft beim Torwurf drankommen? Auf den ist die Mama doch ganz schön stolz. Diplom-Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann, der das Institut für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover leitet, aber warnt: „Dieser Gerechtigkeitswahn, der heute in vielen Familien herrscht, ist eine gewaltsam von außen aufgepresste Ordnung. Unter ihrem Einfluss tut das Kind etwas, auf das es von alleine nie gekommen wäre: Es teilt die Welt plötzlich in gerecht und ungerecht ein und lernt, sich abzugrenzen. Es vergleicht sich ständig neidisch mit anderen Kindern und büßt seine natürliche Lust am Miteinander ein.“

Den Nachwuchs ermutigen, selbst eine Lösung zu finden

Wie schnell greifen Eltern, um Frieden zu stiften, zu unüberlegten Gerechtigkeitsregeln wie: „Ihr kriegt dieses Aufziehauto jetzt immer abwechselnd für fünf Minuten, dann gibt’s keinen Grund mehr zu streiten!“ Aber vielleicht hätte sich der eine Bruder das Auto ja nur mal kurz anschauen wollen und dann überhaupt nichts mehr dagegen gehabt, wenn der andere den Rest des Nachmittags damit gespielt hätte. Stattdessen meinen nun beide, Gerechtigkeit könne in Zeiteinheiten gemessen werden. Da ist sie wieder, die von außen aufgepresste Ordnung, vor der der Experte warnt. Besser: den Nachwuchs dazu ermutigen, selbst eine Konfliktlösung zu finden. Je mehr Übung die Kinder darin haben, desto besser funktioniert’s. Aber nur, wenn Mama und Papa das, was die Kleinen untereinander ausmachen, dann auch akzeptieren, ganz egal ob es erwachsenen Gerechtigkeitsmaßstäben entspricht oder nicht. Vorwürfe à la: „Immer darf Leon alles haben!“ brauchen sie jedenfalls nicht mehr an sich heran zu lassen, wenn die Kinder ihre Gerechtigkeitsregeln alleine ausgefochten haben.

Manchmal ist es nicht so leicht auseinander zu halten, wo ein gesundes modernes Gerechtigkeitsmodell aufhört – denn das Thema soll ja nicht komplett aus dem Familienalltag verbannt werden – und wo die fragwürdige aufgepresste Ordnung anfängt. Julia Woldmann gibt ein Beispiel für ihre persönliche Umsetzung der Formel „Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine“: „Auf die individuellen Bedürfnisse jeder Schwester einzugehen, heißt bei uns konkret: Wir nehmen die Mühe auf uns, die Mädchen in verschiedene Kindergärten zu fahren. Sie haben verschiedene Ansprüche an eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlen können, und keines soll zurückstecken müssen.“ Ist das nun ein vorbildhaftes Beispiel zeitgemäßer Gerechtigkeit? Oder wird da schon allzu regulierend in die kindliche Entwicklung eingegriffen, wovor Wolfgang Bergmann warnt, und ein festgefahrenes Bild vom eigenen Kind nur weiter verhärtet? Das muss jedes Elternpaar selbst entscheiden, und von Situation zu Situation, von Familie zu Familie kann diese Entscheidung anders ausfallen. Was aber auch nicht weiter schlimm ist, denn die Kinder machen es uns vor: Gerechtigkeit in der Familie braucht keinen streng geregelten Gesetzeskatalog, an den sich alle hundertprozentig halten müssen.

Die Lust auf Streit und Versöhnung

Gerechtigkeit in Kindesaugen ist laut unserem Experten die Lust auf Tohuwabohu, auf Streit und Versöhnung. Wolfgang Bergmann, der auch Autor verschiedener Erziehungsratgeber wie „Gute Autorität. Grundsätze einer zeitgemäßen Erziehung“ (Beltz Verlag) ist, beruhigt die Eltern: „Kinder kommen als soziale Wesen auf die Welt und bringen einen natürlichen Gerechtigkeitssinn mit. Untersuchungen zeigen, dass sie schon im ersten Lebensjahr in der Lage sind, 90 Prozent ihrer Konflikte selbst zu lösen. Mal gibt einer freiwillig sein Spielzeug her, mal schubst er den anderen, aber alles in allem kommt jeder zu seinem Recht. Das beweist, wie unsinnig es ist, Kinder ununterbrochen zu lenken, so wie es die deutschen Eltern heute tun.“

Wer zu sehr in das natürliche Gerechtigkeitsempfinden des Kindes eingreift, riskiert, dass dessen Persönlichkeit darunter leidet. „Entweder das Kind fügt sich in die abstrakten Vorstellungen, die seine Eltern von Gerechtigkeit haben, und wartet nur noch passiv darauf, gesagt zu bekommen, was gut oder schlecht ist“, so der Experte, „Oder aber es lebt künftig nach dem Motto: Das steht mir zu, das will ich jetzt auch haben, und versteht die Wünsche anderer Kinder nicht mehr.“ Und das klingt dann überhaupt nicht mehr nach Kindheit, das klingt schon ganz nach Ellenbogengesellschaft: berechnend und emotionslos. Da müssen sich Mama und Papa nicht wundern, wenn der Nachwuchs die Macht ausprobiert, die ihm die starke Gewichtung von Gerechtigkeit in der Familie verleiht: Das Kind fängt an zu fordern, macht Vorwürfe und lässt spätestens, wenn es damit Erfolg hat, jede natürliche Form der Gerechtigkeit hinter sich.

Statt ständiger Kontrolle, Vertrauen in das Kind

Keiner hat gesagt, dass es leicht wäre, das Kontrollieren bleiben zu lassen. Man möchte bei der Kindererziehung eben nichts falsch machen. „Eltern haben heute ständig diese autoritäre Stimme im Hinterkopf, die ihnen einflüstert: So ist das richtig und moralisch gut, oder: So wird das Kind in einem Desaster enden“, beanstandet Wolfgang Bergmann, „Dadurch geht es im Familienleben viel zu ernst und festgelegt zu.“ Und das gilt eben auch beim Thema Gerechtigkeit, zumal die altmodische Definition zu tief in den meisten von uns drin steckt als dass wir sie einfach abschütteln könnten. Da kommen dann Gedanken auf wie: Ist es okay, wenn das Zweitgeborene die alten Strampler aufträgt oder hat es nicht auch ein Recht darauf, mit einer nagelneuen  Erstausstattung auf der Welt begrüßt zu werden? Wohin mit meinem schlechten Gewissen, wenn ich es als Mutter nicht schaffe, das zweite Kind genauso lange zu stillen wie das erste? „Ich mache mir ständig große Gedanken darüber, was Gerechtigkeit für unsere Familie bedeutet, und die reichen bis weit in die Zukunft hinein. Mein Freund sieht das viel lockerer“, gesteht auch die Berliner Mutter Julia Woldmann, „Jeden Tag merke ich, dass ich meinen Ansprüchen nicht gerecht werde. Aber dann sage ich mir, dass ich meines Lebens nicht mehr froh werde, wenn ich nicht mit dem Grübeln aufhöre.“

Den Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann, der selbst drei Kinder hat, wundern solche Erfahrungsberichte nicht. Er erklärt sich die Tendenz zur Grübelei mit einem Blick auf unsere Gesellschaft. Gerechtigkeit sei ein sehr deutsches Thema: „Auf der ganzen Welt gibt es keine Erziehungskultur, die derart auf Anweisung und Befolgung von Anweisung eingedrillt ist wie die deutsche.“ Das war früher so und daran hat sich bis heute nicht wirklich etwas geändert. Die Eltern von heute formen ihr Gerechtigkeitsmodell eben nicht völlig losgelöst von allem, was war, sondern immer vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die sie selbst in ihrer Herkunftsfamilie damit gemacht haben. Und sie diskutieren und leben Gerechtigkeit nicht nur mit ihrem Partner und ihrem Nachwuchs, sondern auch mit den Großeltern, die oft noch an den altmodischen Vorstellungen hängen: „Meine Mutter war Einzelkind genauso wie ich und ist beim Thema Gerechtigkeit unter Geschwistern eigentlich nicht vorbelastet. Trotzdem nimmt sie es furchtbar wichtig“, beobachtet Physiotherapeutin Julia Woldmann, „Jedes Mal, wenn Oma der Großen was mitbrachte, bekam das Baby auch eine Klamotte, obwohl es sowieso nichts davon mitbekam. Gerechtigkeitsansprüche in dieser Dimension finde ich übertrieben.“

Bis sich neue Vorstellungen wirklich durchgesetzt haben und bis sie in angemessener Art und Weise in den Familien umgesetzt werden, braucht es offenbar seine Zeit. Aber wer sich klar macht, wie wichtig es ist, locker zu bleiben, seine Erwartungen herunterzuschrauben und auf die Fähigkeiten seiner Kinder zu vertrauen, der ist schon ein großes Stück weiter. Eine gute Übung dafür, die Übergewichtung von Gerechtigkeit in der Familie etwas abzufedern, ist es, das Thema nicht mehr bei jedem Anlass anzuschneiden. Wenn Klein Anna fragt, ob sie noch mehr Gummibärchen haben darf, lautet die Antwort eben nicht mehr: „Nein, deine Schwester hat auch nur zehn Stück bekommen!“, sondern: „Nein, davon gehen deine Zähne kaputt.“ Man sollte Gerechtigkeit erst dann zum Thema machen, wenn die Kinder selbst davon anfangen, meint Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann: „Das passiert mit etwa fünf Jahren. Sie fragen dann aber nicht: ‚Ist das gerecht oder nicht?’, sie fragen: ‚Ist das richtig oder falsch?’ Sie suchen eine Ordnung, aber keine abstrakte, sondern eine lebensfrohe, eine bunte.“