Elternliebe

Haben Eltern Lieblingskinder?

In Märchen ist oft ganz selbstverständlich die Rede vom Lieblingskind. Verteilen Eltern die Liebe auf ihre Kinder wirklich ungleich? Finden Sie es heraus.

Autor: Petra Fleckenstein

Ja, manchmal bevorzuge ich!

Junge eifersuechtig Eltern Schwester
Foto: © iStockphoto.com/ TatyanaGl

Hand aufs Herz – lieben Sie alle Ihre Kinder gleich? Oder schafft es Ihr jüngster Spross eher, mit seiner charmanten Art Ihr Herz überströmen zu lassen? Verstehen Sie sich als Mutter besser mit Ihrer Tochter, weil sie eben ein Mädchen ist? Oder genießen Sie das Zusammensein mit Ihrem Sohn mehr, weil er so gerne zärtlich kuschelt?

Die Liebe der Eltern zu ihrem Nachwuchs wird - sicher mit Recht – als eine der stärksten emotionalen Kräfte gesehen, die die Menschheit bewegen. Innerhalb einer Familie erleben Eltern die Beziehung zu ihren unterschiedlichen Kindern jedoch meist als grundverschieden. Manchmal wird dies auch zum Problem. Dann nämlich, wenn ein Elternteil sich über sehr lange Strecken zu einem Kind stärker als zu den anderen hingezogen fühlt.

urbia hat 15 Mütter über die Beziehung zu ihren Kindern befragt. 13 beschreiben ihre Kinder als "sehr", "total" oder "absolut" verschieden. Und elf beantworten die Frage, ob sie manchmal eines ihrer Kinder vor dem anderen bevorzugen, eindeutig mit ja. In ganz unterschiedliche Richtungen gehen jedoch die Hintergründe und Konsequenzen dieser Antworten:

  • wie es zur Bevorzugung kommt
  • ob sie auch mit mehr oder weniger Liebe zu diesem Kind einhergeht
  • ob die Mutter dies als Problem erlebt.

Und ewig lockt das Nesthäkchen

"Das jüngste Kind hat nicht nur in der Bibel, in Legenden und Märchen eine besondere Stellung. Es ist tatsächlich bevorzugt, weil es einige Schrittmacher vor sich hat, aber keinen, der es entthront", schreibt Ulrich Beer in seinem Buch "Von Prinzen und Nesthäkchen". Tatsächlich ist es häufig das jüngste Kind, dem die besondere Sympathie und Fürsorge der Eltern einfach so zufliegen. "Mein Sohn ist derjenige, den ich bevorzuge. Er hatte schon immer diesen unwiderstehlichen Charme", schreibt eine Mutter über ihr 10jähriges Nesthäkchen. Eine andere über ihre 9jährige Tochter: "Die Jüngste ist ein ungeheuer charmantes Kind, und es ist sehr leicht, sie zu lieben."

Auch ein instinktives Schutzbedürfnis kann Mütter veranlassen, sich auf die Seite des jüngsten Kindes zu schlagen und das größere häufiger zu ermahnen, vielleicht sogar ungerecht zu behandeln: "Der Jüngste ist noch anlehnungsbedürftiger und braucht mich in allen Alltagsdingen noch viel mehr an seiner Seite", erklärt eine Mutter ihre enge Beziehung zu ihrem vierjährigen Sohn.

Manchmal steckt auch einfach Überforderung der Mutter dahinter, wenn sie ihrem älteren Kind strenger und mit weniger Verständnis gegenübertritt als dem "Kleinen". "Als mein Jüngster noch ein Baby war, habe ich meinem größeren Sohn oft in einem Maße Verständnis und Verzicht abverlangt, das ungerecht war. Aber ich war manchmal einfach hoffnungslos überfordert, wenn das Baby vor Hunger lautstark brüllte und der Zweieinhalbjährige aber unbedingt noch eine Runde auf dem Spielplatz schaukeln wollte," erzählt eine Mutter.

Meine Tochter ist wie ich

Neben der Tendenz, sich stärker zum jüngsten Kind hingezogen zu fühlen, berichten viele der befragten Mütter auch von charakterlichen Ähnlichkeiten, die ihnen den Umgang mit einem bestimmten Kind besonders leicht machen. "Meine ältere Tochter, die mir ähnlicher ist, ist mir einfach emotional näher, ich verstehe sie besser", erzählt eine Mutter von ihrer 16jährigen. Andere berichten: "Die Kleine ist mir näher, weil sie mir ähnlicher ist" und "meine Jüngere ist mir so ähnlich, dass ich sie ohne Worte verstehe".

Sich selbst im Kind wiederzuerkennen macht das Miteinander häufig einfacher. Spontanes Verständnis ohne Worte ist möglich, vielleicht reagieren Mutter und Kind auf die selbe Art von Humor und haben ähnliche Vorlieben oder Abneigungen. Das kann eine Leichtigkeit in die Beziehung bringen, die Gefühle von Liebe und Nähe leichter fließen lässt. Manchmal ist es die gleiche Position in der Geschwisterreihe (eine Mutter, die die Älteste war, wird auch ihre älteste Tochter besser verstehen) oder das gleiche Geschlecht, das Verständnis und größere Nähe begünstigen.

Umgekehrt kann Ähnlichkeit aber auch problematisch werden, wenn Eltern in ihren Kindern Eigenschaften wiederfinden, die sie an sich selbst bewusst oder unbewusst ablehnen ("wer sieht schon gerne seine eigenen Fehler bei anderen?").

Stehen Jungs ihren Müttern näher?

"Jungs stehen ihren Müttern näher", so das Resümee einer Mutter. Doch das sehen viele anders. Es gibt sie nicht, die Sicherheit, dass Töchter den Müttern und Söhne den Vätern näher stehen oder umgekehrt. Wo die persönlichen Vorlieben liegen, ist Teil eines sehr individuellen und vielfältigen Beziehungsgeflechts. Manchmal fühlen sich Mütter stärker zu ihren Söhnen hingezogen, eben wegen ihres Andersseins, und weil Söhne sich nicht so stark wie Töchter von ihren Müttern abgrenzen müssen, um ihre Identität zu finden. Anderen sind ihre Töchter näher. So erzählt eine Mutter zweier Mädchen und Jungen, dass sie "manchmal schon eher Partei für die Mädchen" ergreift, weil sie das Gefühl hat, diese mehr stärken zu müssen als ihre Söhne.

Auch wechselnde gesellschaftliche Trends und Wertvorstellungen wirken auf die elterlichen Vorlieben. So war es noch vor wenigen Generationen hierzulande üblich, Müttern einen Jungen zu wünschen. Diese Höherbewertung des männlichen Nachwuchses wirkt noch in mancher Familie weiter. Zugleich lässt sich momentan eine Trendwende verzeichnen. So kam die Zeitschrift Geo jüngst in einer Umfrage zu dem Ergebnis, dass sich heute die Mehrzahl der Eltern Mädchen wünschen.

Ein ständiger Kampf

Ob Mütter die Vorliebe für eines ihrer Kinder als Problem empfinden oder nicht, hängt häufig davon ab, wie problematisch ihre Beziehung zu den anderen Kindern ist und wie hartnäckig sich die Vorliebe hält. So bezeichnet eine Mutter es als "ständigen Kampf" mit sich selbst, zu ihrer Tochter eine ebenso gute Beziehung zu finden wie zu ihrem etwas jüngeren Sohn.

Einfacher ist es, wenn sich - wie viele der Befragten berichten - ihre Vorlieben ständig ändern, je nach der Phase, in der die Kinder sich gerade befinden. Manche gehen gezielt gegen die Versuchung vor, eines ihrer Kinder zu bevorzugen, indem sie ihr Handeln und ihre Gefühle ständig reflektieren oder sich bewusst Zeit für das andere Kind nehmen.

Nahezu einstimmig wehren sich die befragten Mütter dagegen, Liebe zu messen und davon zu sprechen, dass sie eines ihrer Kinder mehr oder weniger lieben. Es sind eher Faktoren wie Sympathie, Ähnlichkeit, Verständnis, Gerechtigkeit, die in der Beziehung zu verschiedenen Kindern häufig unterschiedlich ausgeprägt sind. "Die Grundliebe ist gleich", sagt eine Mutter. Egal, welches Kind den Eltern gerade besonders nahe steht oder welches als problematisch empfunden wird: Im Notfall stehen Eltern ihren Kindern 100 Prozent zur Seite: "Das ist wie bei den Löwen."

Gute Seiten ins Gedächtnis rufen

Bei Geschwisterstudien in den USA gaben zwei Drittel der befragten Kinder an, dass ihre Mutter entweder sie oder ein Geschwister bevorzuge. Und eine Untersuchung der Biographien von Schriftstellern im angloamerikanischen Raum zeigte, dass Eltern immer wieder Lieblingskinder hatten und dies zum Teil auch offen äußerten. "Temporäre unterschiedliche Verteilung ist vollkommen normal", sagt der Kölner Kinder- und Jugendpsychotherapeut und Kinderarzt Hans-Helmut Brill. Dauern diese Phasen aber länger und drohen sich zu verfestigen, ist es hilfreich, "den Blick hinzuwenden zu den immer vorhandenen positiven Merkmalen eines Kindes", so Brill.

Einige der befragten Mütter gaben an, dass es nicht darum gehe, allen Kindern gegenüber das gleiche zu empfinden, sondern auf jedes Kind seinem Alter und seinen Bedürfnissen entsprechend zu reagieren. Eine Mutter von drei Töchtern resümiert: "Nein, ich behandle sie nicht gleich, denn sie brauchen unterschiedliche Mengen und Formen von Zuwendung, zu unterschiedlichen Zeiten."

Lesen Sie hierzu das Interview mit einem
Kinderpsychotherapeuten

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