Mutterseelenallein?

Heimweh: Wenn dein Kind nach Hause will

Das Heimweh lauert immer dort, wo ein Kind sich (noch) nicht heimisch fühlt: bei der Tagesmutter, der Oma, im Kindergarten, auf der Klassenfahrt oder Ferienfreizeit. Sollte man sein Kind nach Hause holen (oder gleich daheim lassen), oder es ermutigen durchzuhalten?

Autor: Gabriele Möller

Ich will nach Hause: Wie entsteht Heimweh

Kind hat Heimweh
Foto: © iStock, Juanmonino

Als Nostalgia (=Heimkehr-Schmerz) bezeichnete der Schweizer Arzt Johannes Hofer im 17. Jahrhundert die seltsame Krankheit, die Menschen nur in der Fremde befällt, sie unglücklich macht und sich nach zu Hause sehnen lässt. Das Heimwehe, so Hofers Übersetzung der Nostalgia, wurde nach dem Schweizer lange auch als „Schweizer Krankheit“ bezeichnet. Das Unwohlsein in fremder Umgebung befällt besonders häufig Kinder, wenn auch Erwachsene nicht dagegen gefeit sind.

Wie aber entsteht in der Kinderseele diese Mischung aus Angst und Verlorenheit? Dazu haben Wissenschaftler, je nach Fach, unterschiedliche Antworten. Die Soziologen sind sicher, dass das Heimweh durch den Verlust der gewohnten Gemeinschaft (Eltern, Geschwister, Freunde) entsteht. Das Kind fühle sich, weil von fremden Menschen umgeben, vereinzelt und vereinsamt. Bei einem Kind, das gerade neu in eine Kiga-Gruppe gekommen ist, eine nachvollziehbare Erklärung. Warum aber haben auch Kinder Heimweh, die mit ihren altgewohnten Klassenkameraden in die Jugendherberge fahren?

Hier trumpfen die Psychologen auf, die mehr das Individuum im Blick haben: Das Kind fahre ja oft nicht ganz freiwillig auf solche Veranstaltungen. Und diese Einschränkung seiner Freiheit führe dazu, dass es die nicht angebotene Alternative als attraktiver ansehe. Was man nicht haben kann, ist also reizvoller – in diesem Falle das Zuhausesein. Dies wiederum erklärt nicht, warum auch Kinder leiden, die sich auf die Fahrt gefreut oder selbst für eine Ferienfreizeit entschieden haben. Heimweh ist wohl einfach ein Mix aus Gefühlen, bei dem mal das eine, mal das andere überwiegt. Gemeinsamer Nenner ist aber der Faktor „Ungewohntes“. Manchmal wird das Heimweh durch Belastungen wie Müdigkeit, Überreizung oder einen Streit unter Kindern, verstärkt.

Heimweh – keine Lappalie

Die USA sind das Land der mehrmonatigen Sommerferien und wochenlangen Feriencamps für Kinder berufstätiger Eltern. Nicht zufällig stammt daher einer der wenigen Heimwehforscher, die es gibt, aus den Vereinigten Staaten: Christopher Thurber, Psychologe an der Phillips Exeter Academy (Boston) schätzt, dass knapp jedes zehnte Kind, das von zu Hause getrennt ist, an Heimweh leidet. Das schlechte Gefühl muss dabei nicht immer harmlos sein. Zwar können nach Thurbers Beobachtung die meisten Kinder mit Heimweh umgehen. Manche aber werden weinerlich, ziehen sich zurück, leiden an Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchweh, verlieren den Appetit oder entwickeln gar eine Depression. Andere, die zuvor vielleicht eher zurückhaltend und verschlossen waren, zeigen Wutausbrüche oder zerstören plötzlich Dinge.

Manchmal ist Hilfe nötig

Thurbers Beobachtungen beziehen sich dabei überwiegend auf mehrwöchiges Getrenntsein von zu Hause. In solch schweren Formen von Heimweh hilft sicher nur die Heimkehr des Kindes. Es gibt aber auch Kinder, die so große Trennungsängste haben, dass schon eine einzige Übernachtung auswärts kaum möglich ist, oder der tägliche Schulbesuch ein Problem darstellt. Hier ist manchmal psychologische Hilfe nötig. Dies gilt vor allem bei Kindern im Schulalter, denn bis zum Vorschulalter ist erhöhte Anhänglichkeit meist normal. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) hat mit weiteren Fachorganisationen typische Verhaltensweisen definiert, die Kinder mit übergroßen Trennungsängsten zeigen können: Wenn ein Kind häufig Magenschmerzen oder andere Beschwerden hat, es morgens nicht zur Schule will, sich dauernd Sorgen um die eigene Sicherheit oder die der Eltern macht, starke Ängste hat außerhalb des Elternhauses zu übernachten, es zu Hause besonders anhänglich ist oder panisch auf jede Trennung von den Eltern reagiert - dann sollten Eltern sich an einen Kinder- und Jugendpsychiater wenden. Adressen bekommt man z.B. beim eigenen Kinderarzt."

Doch wie begegnet man dem ganz normalen und nicht therapiebedürftigen Heimweh am besten, so dass man dem Nachwuchs weder zu viel, noch zu wenig zutraut? Dies hängt von Alter, Umständen und auch der Persönlichkeit des Kindes ab. Deshalb ist ein genauerer Blick auf die häufigsten Heimweh-Situationen nötig:

Alles ist so neu...

... der Kindergartenstart

„Alles ist so neu, ich kenn’ mich hier noch gar nicht aus. Alles ist (...) ganz anders als zu Haus’. Ich finde meine Schuhe nicht, weil doch hier so viele sind, und in der Nudelsoße ist mir zuviel Gemüse drin“, lässt Detlev Jöcker seine „Singemaus“ an ihrem ersten Kindergartentag seufzen. Das Kind zu Hause zu lassen, weil es am Anfang noch fremdelt, wäre keine Alternative. Die Hauruck-Methode, bei der sich Mama oder Papa zügig verabschieden und das Kind weinend der Erzieherin überlassen, aber auch nicht: „Erzwungenes Anpassungsverhalten wirft ein Kind nur zurück in seinen Entwicklungsschritten und verschärft die Trennungsängste. Das Trennungsproblem wird - trotz der wahrscheinlich einsetzenden Anpassung - in der Verdrängung aber immer größer. Es tritt beim nächsten Entwicklungsschritt, wie Einschulung oder Klassenfahrt, noch verschärft auf“, warnt Kinder-Psychotherapeut Dr. med. Rüdiger Posth in seinem Elternforum.

Hier ist die sogenannte sanfte Eingewöhnung die beste Methode, damit das Kind im Kindergarten heimisch wird. Eltern sollten schon bei der Wahl der Einrichtung darauf achten, dass diese dort praktiziert wird. Dabei bleibt ein Elternteil die ersten Tage oder sogar Wochen mit in der Gruppe. Zwischendurch geht man erst für sehr kurze, dann für längere Zeit weg. Diese schrittweise Ablösung dauert, bis das Kind Vertrauen zu einer neuen Bezugsperson gefasst hat. Die Erzieherinnen helfen dabei mit, indem sie das Kind immer wieder ein wenig von Mutter oder Vater weglocken, es mit anderen Kindern zusammen bringen. Es gibt keinen Zeitdruck, jedes Kind darf sich in seinem eigenen Tempo einleben.

... alleine bei der Oma bleiben

Dies gilt erst recht bei jüngeren Kindern, die in eine Krippe oder zur Tagesmutter gehen, oder von der Oma betreut werden sollen. Kinder unter drei Jahren sind oft besonders trennungsempfindlich. Deshalb sollte man schon mehrere Monate vor der Rückkehr in den Job mit der Eingewöhnung des Kindes beginnen und zeitlich nicht zu knapp kalkulieren. Auch sollte z. B. die Krippe oder die Tagesmutter die sanfte Eingewöhnung ermöglichen, also schon im Vorfeld danach ausgesucht werden.

Wurde die sanfte Eingewöhnung aber versäumt, weint ein Kind morgens schon auf dem Hinweg, oder will partout nicht mehr in die Krippe oder zur Oma, sollten Eltern überlegen, ob sie eine Pause machen oder mit der Auswärtsbetreuung noch etwas warten können. Ist dies aus beruflichen Gründen nicht möglich, kann es helfen, die Betreuungsperson zu wechseln, also zum Beispiel statt der Krippe lieber eine Tagesmutter zu nehmen. Sie muss sich um weniger Kinder kümmern und kann eher zu einer echten Bezugsperson werden. Ist die Betreuung durch die Großeltern das Problem, könnten diese eine Zeitlang zum Kinderhüten selbst in die elterliche Wohnung kommen (statt das Kind zu ihnen), so dass das Kind sich zu Hause fühlt.

... das erste Mal woanders schlafen

Am schönsten ist es für Kinder, wenn sie selbst entscheiden dürfen, wann sie das erste Mal auswärts übernachten wollen. Hier gibt es große Unterschiede: Viele wollen dies nicht vor dem Schulalter, manche aber verbringen schon als Baby völlig gelassen ein paar Tage allein bei den Großeltern. Manche Kinder überschätzen sich aber auch: Klang es für die Dreijährige bei Tage noch wie eine tolle Idee, bei der Lieblingsfreundin zu übernachten, bringt der Abend in der ungewohnten Umgebung und den unterschiedlichen Zubettgeh-Ritualen doch Ängste mit sich.

Wer auf Nummer sicher gehen will, wartet mit dem Übernachten bei Großeltern, Paten oder Freunden bis zum Vorschulalter – oder kalkuliert zumindest ein, das Kind in einer „Rettungsaktion“ spätabends zu holen. Für die erste Übernachtung sollte ein wenig Heimat mit im Gepäck sein: Das Kuscheltier, der Lieblingsschlafanzug, das eigene Kopfkissen, das Schmusetuch oder (bei Kleinkindern) auch ein T-Shirt, das nach Mama riecht. Vorher kann man mit dem Kind besprechen, was möglicherweise anders sein wird als zu Hause, weil jede Familie andere Gewohnheiten hat.

Schon einmal auswärts geschlafen zu haben, bereitet Kinder gut auf die erste Klassenfahrt vor, die in vielen Grundschulen schon im 1. Schuljahr ansteht. „Man sollte das auswärts Übernachten schon vor der Schule im Alter zwischen fünf und sechs Jahren einmal erprobt haben, und zwar am besten bei guten Freunden des Kindes. Es ist ein bedeutender Schritt in der sozialen Entwicklung, woanders ohne Eltern eine Nacht zu bleiben“ empfiehlt auch Dr. Posth.

... zuversichtlich auf die Klassenfahrt

Die meisten Kinder freuen sich auf Klassenfahrt, Pfadfinderfreizeit oder auch die Woche auf dem Ponyhof. Bei der turbulenten Abfahrt im Bus oder der Ankunft am Ferienort sind fast alle Kinder noch vergnügt und aufgekratzt. Doch mit schwindendem Licht macht es sich auf mancher Bettdecke breit: das Heimwehmonster. Damit es nicht zu mächtig wird, hilft etwas Vorbeugung schon zu Hause: Kinder sollten das Ziel der Fahrt bereits gut kennen, am besten aus dem Internet oder einem Prospekt. Diese Erkundung sollte mit den Eltern gemeinsam erfolgen, damit man sich gegenseitig auf schöne Details aufmerksam machen und über das Ziel sprechen kann.

Heimwehgefährdete Kinder können ein Foto der Familie einpacken. Auch eine CD oder MP3-Datei, auf der die Hintergrundgeräusche des normalen Alltags der Familie aufgenommen sind, kann mit auf die Reise gehen: Spülmaschinengeräusche, Stimmen beim gemeinsamen Essen, Staubsaugen, Geschirrklappern - solche Heimat-Schnipsel können oft die schlimmste Not lindern.

Manche Eltern müssen aber auch zuerst selbst ihren Trennungsschmerz in den Griff bekommen, damit ein Kind zuversichtlich abfahren kann. Denn wenn ihnen die Trennung schwer fällt, spürt dies das Kind und wird verunsichert. Unter keinen Umständen sollten Eltern übrigens schon vor der Fahrt dem Kind anbieten, es zurückzuholen, falls es sich nicht wohlfühlt, warnt Christopher Thurber. Denn so vermittelten sie dem Kind, dass sie es ihm nicht zutrauen, das Heimweh selbst zu bewältigen.

Mittel gegen Heimweh: Wenn ein Hilferuf kommt

Viele Lehrer verbieten Handys auf Klassenfahrten mit der Begründung, Telefonate nach Hause verstärkten das Heimweh und würden zu unkoordinierten, nächtlichen Abholaktionen besorgter Eltern führen. Zu Unrecht, wie Psychologe Christopher Thurber betont. Das Heimweh werde nicht stärker, wenn das Kind darüber sprechen dürfe. Das gilt auch für die erste Übernachtung bei den Großeltern oder beim besten Freund: Die Eltern sollten für Nöte des Kindes erreichbar sein. Auch der Umweg, dass ein Kind zuerst einen Lehrer ansprechen muss, bevor dieser ggf. zu Hause anruft, ist keine Alternative.  Viele Kinder wenden sich mit ihrer Seelennot gar nicht erst an einen Lehrer.

Falls dann tatsächlich abends das Telefon klingelt und das heimwehkranke Kind durch die Leitung schluchzt, können Eltern zunächst herausfinden, wie schlimm das Leid ist. Dabei hilft die direkte Frage „Wie groß ist denn dein Heimweh?“, denn Kinder können ihre Gefühle oft gut selbst einschätzen. Dann können die Eltern sagen, dass sie das Gefühl sehr gut verstehen können, und dass Heimweh etwas ganz Normales ist.

Das Heimwehmonster zähmen

Anschließend kann man dem Kind Vorschläge machen, wie es das Weh bewältigen könnte: „Magst du unser Foto anschauen?“ „Schreib’ uns doch einen Brief und erzähle uns von deinem Tag. Den Brief schickst du morgen ab oder bringst ihn uns mit, wenn du wiederkommst!“ „Du könntest deiner Freundin/Freund erzählen, wie es dir gerade geht. Vielleicht hat sie/er auch gerade etwas Heimweh.“ „Wenn du magst, ruf’ uns morgen Abend wieder an. Wir können jeden Tag einmal kurz sprechen.“

Welche Mittel am besten helfen, ist unterschiedlich. Manche Kinder müssen einfach ein bisschen weinen, um sich hinterher entlastet zu fühlen. Manche möchten einmal am Tag mit Zuhause telefonieren. Manche ziehen sich lieber zurück und spielen eine Weile auf dem Smartphone oder lesen in ihrem Lieblingsbuch. Auch die „Rescue-Tropfen“ aus dem Bachblüten-Sortiment (die es für Kinder alkoholfrei gibt) können trösten  – auch ohne wissenschaftlichen Nachweis der Wirkung. Natürlich sollten Eltern vorher betonen, dass diese Tropfen eine besonders gute Wirkung bei Heimweh besitzen.

Ein Gastkind trösten

Nicht immer ist es das eigene Kind, das Hilfe braucht. Das Heimweh kann auch ein Gastkind treffen, das beim eigenen zu Besuch ist. Auch wenn eine Abholung hier logistisch meist leichter möglich ist als bei einer Klassenfahrt - ein paar Versuche, das Heimweh zu lindern, sollten die Gasteltern machen: Ein letztes Gutenacht-Märchen vorlesen, den Kindern ein mitternächtliches Brettspiel vorschlagen oder ein Kinderzimmer-Picknick mit Snacks und Taschenlampen erlauben. Für das Gastkind ist es ein schönes Erfolgserlebnis, das Heimweh besiegt zu haben. Und das eigene Kind hat erlebt, wie man solchen Gefühle konstruktiv begegnen könnte und kann dieses Wissen vielleicht eines Tages auch für sich selbst nutzen.

Unser Kind will zu Hause bleiben!

Manche Kinder aber, die schon Erfahrungen mit Heimweh gemacht haben, möchten erst gar nicht weg von zu Hause. Dies bringt Eltern in Entscheidungsnöte, vor allem bei Klassenfahrten: Sollte man das Kind trotzdem mitschicken oder es lieber zu Hause lassen? Diese Frage kann man zunächst offen lassen und die Monate bis zur Fahrt dazu nutzen, mit dem Kind an seinem Heimweh zu arbeiten. Der Mainzer Familientherapeut Ulrich Gerth rät dazu, mit dem Kind zusammen herauszufinden, wo seine Ressourcen sind, mit denen es das Gefühl bewältigen kann. „Eltern sollten mit ihrem Kind auf Entdeckungsreise gehen und herausfinden, was es tun kann“, so der Vorsitzende der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). „Kinder können nämlich ganz tolle Sachen, die werden nur viel zu selten gefragt“, findet der Diplom-Psychologe. Zu häufig beinhalteten die Heimweh-Gespräche das, was nicht gut gelaufen ist oder schief laufen könnte. „Das sollte andersherum sein“. Dieselben Strategien, die Kinder unterwegs anwenden können, wenn sie das Heimweh packt, können auch schon vorab besprochen werden und so die Angst vor der Fahrt lindern.

Wenn nur die Heimkehr heilen kann

Manchmal aber versagt jede Linderung der Angst vor einer Klassenfahrt, das Kind, das auf der Fahrt vom Heimweh gepackt wurde, kann sich nicht mehr beruhigen, oder das Gastkind hört nicht mehr auf zu weinen. Schon der Erfinder des Heimweh-Begriffs Johannes Hofer stellte trocken fest, das wirksamste Mittel zur Heilung des Heimwehs sei die Rückkehr in die Heimat. Behelfsweise empfahl er ein Klistier zur „Besserung der gestörten Einbildungskraft“. Letzteres ist heute eher keine vertretbare Maßnahme mehr. Doch die Heimkehr als letzte Therapie ist nach wie vor das Mittel der Wahl, wenn nichts mehr geht. Bis zur nächsten Auswärtsübernachtung können Eltern mit dem Kind weiterhin an Strategien gegen das Heimweh arbeiten. Mit etwas zeitlichem Abstand kann dann ein neuer Versuch gewagt werden – zum Beispiel zunächst eine einzelne Übernachtung bei Freunden oder Verwandten.