Geschichten aus The Mighty

Warum mein Sohn nur zuhause ausflippt und nie in der Schule

In der Schule ist Michelles Sohn ein lieber und angepasster Junge, trotz seiner Autismus-Störung. Doch kaum kommt er nachhause, flippt er regelmäßig aus. Jahrelang fragt sich Michele, ob sie etwas falsch macht. Bis sie eines Tages versteht, was wirklich los ist.

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Foto: © The Mighty

In der Schule ist Michelles Sohn ein lieber und angepasster Junge, trotz seiner Autismus-Störung. Doch kaum kommt er nachhause, flippt er regelmäßig aus. Jahrelang fragt sich Michele, ob sie etwas falsch macht. Bis sie eines Tages versteht, was wirklich los ist.

Als mein Sohn heute aus der Schule nachhause kam, wusste ich es sofort. Er musste gar nichts sagen oder tun. Ich wusste es einfach. Du kann es mütterliches Bauchgefühl nennen oder einfach praktische Erfahrung über die Jahre, aber ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Er hat sich fast sieben Stunden lang zusammengenommen. Dann kommt er durch die Tür und – bäm! Er ist in vertrauter und sicherer Umgebung, und er kann dem Druck nicht länger standhalten. Es kriecht aus jeder Zelle seines Körpers. Sein Gesicht ist angespannt und er seine Wangen glühen. Sein Körper ist steif und ungelenk. Er spricht schnell und laut, und er ist aufgeregt. Er hat Hunger, er hat keinen Hunger. Er möchte etwas essen, aber nicht das, was da ist. Also wird er sauer und fängt an zu fluchen, weil er seinen Körper nicht mehr kontrollieren kann. Er möchte die Hunde begrüßen, aber ihre ausgelassene Freunde ist zu viel für ihn, also stößt er sie weg und ist dann wütend auf sich. Ich frage ihn, wie es ihm geht, und es ist, als wäre er von rotem Nebel eingehüllt. Er kann nicht verarbeiten, was ich sage. Seine Schwestern kommen herein, sie reden und lachen. Für ihn hört es sich an wie eine ganze Gruppe, und er schreit sie an, sie sollen leise sein. Sie geben ihm Kontra, wie nur Schwestern es tun, und dann bäm! Der Vulkan bricht aus. Zusammenbruch. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück. Jetzt muss alles raus.

"Dann kommt die Erschöpfung – seine und meine. Er kann nicht drüber reden, weil einfach alles zu viel ist."

 

Dann kommt die Erschöpfung – seine und meine. Er kann nicht drüber reden, weil einfach alles zu viel ist. Jetzt muss er erst einmal auftanken, genauso wie ich. Das ist für uns alle schwer. Aber ich kann mir kaum vorstellen, wie es erst für meinen Sohn sein muss.
Als seine Mutter weiß ich, dass da über den Tag verräterische Anzeichen gewesen sein müssen. Aber sie sind leicht zu übersehen, weil er im Allgemeinen folgsam und nett ist. Deshalb hat wahrscheinlich niemand gemerkt, dass es irgendein Problem gab. Aber ich weiß: Im Laufe des Tages wird er dann immer blasser, und mit jeder Stunde, die vergeht, wird er immer kraftloser.

Es kann sein, dass er trotz seiner Ängste noch versucht hat, sein Mittagessen zu essen. Wahrscheinlich hat er nervös gekichert, als seine Lehrer versucht haben, mit ihm zu sprechen. Er hat im Unterricht seinen Kopf auf die Tischplatte gelegt oder hat seinen Oberkörper immer vor und zurückbewegt, um sich zu beruhigen. Und während der Druck stieg und die Uhr in Richtung Nachhause kommen vorrückte, hat er wahrscheinlich an seinen Fingern gepult und an den Bündchen seines Pullovers herumgekaut.

Mein Sohn drückt Stress vor allem durch Körpersprache und Gesten aus. Er kann seine Bedürfnisse nicht immer in Worte fassen, deshalb kann man sie leicht übersehen. Das ist ein übliches Problem für Kinder mit Autismus Spektrum-Störung. Manche Kinder können ihre Gefühle den ganzen Schultag lang verbergen, und die Lehrer sind sorglos, weil sie nicht bemerken, dass es ein Problem gibt. Aber der Level an Stresshormonen im Kind steigt immer weiter an. So entsteht eine Situation, die unglaublichen Druck auf die Familie aufbaut – ganz besonders, wenn Lehrer nicht verstehen oder nicht glauben, was die Eltern berichten. Deshalb würde ich die Situation gerne mal anders schildern:

Jahrelang habe ich mich schlecht und allein gefühlt, wenn Lehrer zu mir sagten: „Wir können das gar nicht verstehen! Hier in der Schule flippt er nie aus!"

 

Stell dir vor, du bist eine Flasche voll Sprudelwasser. Weitere Zutaten sind Autismus, Wahrnehmungsstörungen, ADHS und eine versteckte Sprachverzögerung. Die Welt ist ein verwirrender Ort, und viele wissen nicht, dass du Schwierigkeiten hast, deshalb gibt es nicht viele Menschen, die die Dinge aus deiner Perspektive sehen können. So sieht dein Tag aus:

In die Schule zu gehen macht dir einfach nur Angst ... Schon wird die Flasche geschüttelt.
Du kommst an und dein Lehrer sagt: „Lasst uns mit einem neuen Thema anfangen". Was bedeutet das? ... Und noch ein Schütteln.
Du verstehst nicht, was du machen sollst ... Noch mal schütteln!
Du machst einen Fehler ... Schüttel schüttel, schüttel!
Die Deckenlampe surrt so komisch, und es irritiert dich total ... Wieder ein bisschen schütteln!
Es gibt ein Treffen in der Aula. Du muss stillsitzen, obwohl alles in dir zappelt ... Schüttel!
Der Stundenplan wird kurzfristig geändert, jetzt ist nicht Mathe, wie gewöhnlich, sondern Musik ... Und wieder wird die Flasche geschüttelt.
Auf dem Rückweg gibt es einen Stau und der Radiosender im Auto ist nicht der vertraute ... Und das bedeutet, dass die Flasche noch mal kräftig geschüttelt wird.
Und dann kommst du nach Hause, und der Druck lässt den Deckel von der Flasche fliegen.

Das ist der Verzögerungseffekt. Den gibt es wirklich. Jahrelang habe ich mich schlecht und allein gefühlt, wenn Lehrer zu mir sagten: „Wir können das gar nicht verstehen! Hier in der Schule flippt er nie aus!" Oder ich hörte „Hier bei mir kann er sich benehmen – vielleicht sind Sie zu nachgiebig mit ihm?" Ich hatte viele schlaflose Nächte, in denen ich mich fragte, ob es an mir liegt. War es mein Erziehungsstil? Aber ich bin seine Mutter, und mein Bauchgefühl liegt immer richtig. Ich wusste, dass mein Kind mit etwas kämpft, und ich musste nichts weiter tun, als auf sein Verhalten zu achten und was es mir sagt.

Mein Kind flippt bei mir zuhause aus, weil er sich hier sicher fühlt. Ich bin ruhig und vorhersehbar, und zuhause kann er er selbst sein. Hier wird er akzeptiert, wie er ist. Seit ist das verstanden habe, weiß ich: Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, die Stresshormone in Kindern wie meinem Sohn nicht so aufstauen zu lassen. Man muss ihnen mehr Sicherheit geben und sie so akzeptieren, wie sie sind. Und das bedeutet, ihre individuellen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Und nicht nur zu versuchen, einen runden Stöpsel in ein viereckiges Loch zu pressen.

Michele Myers

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