Wo ist deine Jacke?
Kennen Sie das? Mützen, Handschuhe, Jacken, Radiergummis, Uhren, Sportbeutel - fast alles scheint ein Eigenleben zu führen und immer häufiger einfach zu verschwinden. Werden unsere Kinder immer schusseliger?
Weg, verschwunden, unauffindbar, vom Erdboden verschluckt
Wenn Kinder den geschützten Rahmen des Elternhauses und des Kindergartens in Richtung Schule verlassen, tritt ein besonderes Phänomen ins Leben von Familien: Schwund. Nicht dass es zuvor gänzlich unbekannt gewesen wäre. Sandspielsachen zum Beispiel vermehren sich selten, leider neigen sie eher dazu, sich umgekehrt proportional zu jedem Spielplatzbesuch um mindestens eins der Lieblingsförmchen zu reduzieren. Oder Socken an Babyfüßen. Welche Mutter hat schon mal drei Tage nacheinander erlebt, dass sich nach dem Spaziergang noch beide Söckchen am richtigen Platz befanden? Im besten Fall finden sie sich später im Kinderwagen in den Tiefen des Schlafsack-Decken-Gewirrs wieder, viel häufiger jedoch liegen sie als niedliche Wegmarken am Straßenrand. Dass Dinge ein Eigenleben entwickeln und sich selbständig machen, ist also Eltern von Kleinkindern nicht ganz unbekannt. Mit dem Beginn der Schulzeit tritt das Phänomen jedoch in ein nie gekanntes Stadium ein.
Ein sonniges "Hallo Mama" rufend, stürmt Julian* durch die Haustür. Die Freude über die Rückkehr des stolzen Erstklässlers wird durch einen Blick auf seine rotgefrorenen Ohren abrupt gedämpft. "Wo ist deine Mütze?", höre ich mich ahnungsvoll fragen und weiß doch längst Bescheid: Die Antwort lautet "weg". Weg, verschwunden, abhanden gekommen, unauffindbar, vom Erdboden verschluckt! Auf unerklärliche Weise, ohne Julians Zutun und ohne den Funken einer Ahnung, wann und unter welchen Umständen sich das gerade noch teuer erstandene Accessoire verflüchtigt hat. Zutiefst ratlose und unschuldige Augen signalisieren dem Mutterherz, dass Vorwürfe und Strafpredigten hier vollkommen fehl am Platze wären. Aber was tun? Morgendliche Mahnungen - "pass auf deine Mütze auf, denk an deine Sporttasche, verlier deine Uhr nicht, vergiss nicht, deine Jacke mit nach Hause zu bringen, steck die Handschuhe gut ein, wenn du sie ausziehst, lass dein Sweatshirt nicht auf dem Schulhof liegen, achte auf deine Brotdose, steck den Radiergummi wieder ins Mäppchen..." – scheinen als rein akustisches Rauschen durch die Gehörgänge des Sprösslings zu strömen, ohne vom Gehirn entschlüsselt zu werden und dazu passende Handlungen in Gang zu setzen.
Helfen logische Konsequenzen?
Also nicht reden, handeln? Vielleicht auf Basis der Zauberformel "logische Konsequenzen", was bedeutet, verlorene Mützen werden zumindest zum Teil vom eigenen Geld des Kindes nachgekauft oder wenn der Schal weg ist, muss man eben frieren. Einen Versuch war es wert, der Erfolg eher zweifelhaft. Denn Julians überraschende Konsequenz der logischen Konsequenz: Er nimmt einfach gar nichts mehr mit. Die Uhr bleibt auf dem Nachttisch liegen, Handschuhe und Mützen werden auch bei Minustemperaturen sorgfältig in der Schublade gehütet und Jacken selbst in überhitzten Räumen einfach nicht mehr ausgezogen. Die Gefahr, eines der losen Objekte könnte sich wiederum verselbständigen und einen neuerlichen Zugriff auf den Inhalt der Spardose nach sich ziehen, ist einfach zu groß.
Und jetzt? Jetzt meldet sich - wie so oft - das mütterliche Gewissen: Was habe ich falsch gemacht, warum hat mein Kind keine Ruhe und Zeit, nach der Schule seine sieben Sachen einzupacken? Ist es die allgemeine Hetze, unser wahnwitziges Lebenstempo? Habe ich ihm die Wertschätzung von Dingen nicht ausreichend vermittelt, hat es als typisches Konsum-Kid das Gefühl, alles sei jederzeit ersetzbar? "Mama", durchschneidet Julians fordernder Ton den selbstkritischen Gedankenstrom, "ich finde meine Schuhe nicht!"
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*Name geändert