Überstürzte Geburten und Sturzgeburten
Wer sich bei einer Geburt ewig mit Wehen quälen muss, beneidet Frauen, bei denen das ruckzuck geht. Allerdings haben extrem schnelle Geburten nicht nur Vorteile: Sie können Mutter und Baby sehr überrumpeln und, im Falle von Sturzgeburten, Verletzungsgefahren bergen. Was tun in solchen Situationen?
Sturzgeburt: So schnell kann's gehen
„Ich bin um 06.21 h wach geworden, weil ich dringend mal ‚aufs Töpchen' musste. Da war auch noch alles in allerbester Ordnung." So begann Catrin den Geburtsbericht ihres vierten Kindes. Bereits um 7:15 Uhr hielt sie Tochter Marlen dann schon im Arm. Geboren wurde die Kleine in der Badewanne, ohne jede Hilfe, während die anderen Kinder schliefen oder vorm Fernseher saßen. „Ich habe noch versucht, irgendjemanden anzurufen, der ganz schnell bei mir sein kann – vergeblich. Die erste Presswehe – die Fruchtblase quoll ein gutes Stück raus und platzte mit einem Knall. Die zweite Presswehe – das Köpfchen war da, der Rest rutschte so heraus."
Wer ist für Turbogeburten prädestiniert?
Was Catrin da erlebt hat, nennt man eine überstürzte Geburt, eine Geburt, die ab der ersten Wehe maximal drei statt (wie bei Erstgebärenden üblich) acht bis zehn Stunden dauert. „Statistisch gesehen passiert das etwa bei 1 von 1.000 Geburten", sagt Prof. Dr. Alexander Strauss, Stellvertretender Direktor der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am UNI-Klinikum Campus Kiel. Vorbeugen oder verhindern kann man überstürzte Geburten nicht. „Es gibt da keine pauschale präventive Behandlung", so Strauss. Zumindest mental darauf einstellen könnten sich Mehrgebärende. Da ihr Geburtskanal meist schon recht nachgiebig ist, „nimmt die Geburtsdauer in der Regel mit jedem Kind ab", so der Frauenarzt, deshalb kommen überstürzte Geburten bei ihnen häufiger vor. Eine zweite „Risikogruppe" sind unerfahrene Erstgebärende „und hier gerade solche, die ihre Schwangerschaft verdrängt, also nicht bemerkt haben", erklärt Strauss. Auch nach einer Kinderwunschbehandlung, bei zu frühen Plazentaablösungen, einer Gebärmutterhalsschwäche (Cervixinsuffizienz), bei sehr kleinen Kindern oder nach Geburtseinleitungen kann es mit dem Gebären unter Umständen unerwartet schnell gehen.
Was tun, wenn man es nicht mehr in die Klinik schafft?
Nicht immer ist man dann schon am gewünschten Geburtsort oder hat die vertraute Hebamme an der Seite. „Überstürzte Geburten passieren auch außerklinisch, also daheim oder auch auf der Autobahn oder im Taxi", sagt Prof. Dr. Strauss. Zwar findet man regelrechte Anleitungslisten, wie man sich jetzt am besten verhalten sollte. Das in so einem Moment abzurufen oder zu befolgen, ist für die werdenden Eltern allerdings oft nicht möglich – und am Ende zählen auch nur: „möglichst Ruhe bewahren, der Natur ihren Lauf lassen und den Notarzt rufen", meint der Arzt. „Beziehungsweise die Hebamme, vielleicht kann sie doch noch rechzeitig kommen, um die Frau zu unterstützen", ergänzt Cäcilie Fey, Leitende Hebamme an der Universitäts-Frauenklinik Freiburg und Beraterin beim Deutschen HebammenVerband, und betont ebenfalls: „In solchen Situationen ist es sicher schwierig, nicht in Panik auszubrechen. Aber, auch wenn manche Frauen es mit viel Willen sogar schaffen können, die Geburt hinauszuzögern, sollte man versuchen, den natürlichen Vorgängen zu vertrauen und anzuwenden, was man im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hat, vor allem zur Atmung."
Dem siebten Sinn vertrauen
Dass Catrin Ruhe und Nerven behalten hat, während ihr viertes Kind zur Welt kam, als sie mit den drei anderen Kindern allein im Haus war, schreibt sie zwei Dingen zu: „Zum einen war es wohl die Tatsache, dass ich in etwa wusste, was auf mich zukam. Wäre das bei der ersten Schwangerschaft passiert, hätte ich wohl nicht so ‚cool' reagiert." Außerdem habe sie ihrem siebten Sinn vertraut: „Ich habe während der Schwangerschaft ein paar Mal geträumt, dass die Geburt los geht und ich das irgendwie alleine managen muss. Ich war also innerlich auf diese nicht alltägliche Geburt vorbereitet und deshalb auch ruhig geblieben." Nur an einer Stelle musste sie passen: beim Versuch, schon unter Wehen in der Wanne liegend Hilfe herbeizutelefonieren. Ihr Handy hatte sie zwar geistesgegenwärtig dabei, aber „leider hatte ich von der Hebamme nur die Festnetz-Nummer gespeichert und konnte mir die angesagte Handy-Nummer nicht merken." Der nächste Anruf landete statt im Krankenhaus bei der Zeitung. Schließlich bekam ihr Mann per Telefon den Auftrag, Hilfe zu organisieren. „Warum mir nicht der Notruf in den Sinn kam – ich weiß es nicht!" Und so lauten konsequenterweise auch ihre Ratschläge für solche Situationen: „Die Zeichen richtig deuten und Ruhe bewahren natürlich und auf jeden Fall etwas zum Einwickeln für das Kleine parat haben. Ach, und vielleicht mal die 112 im Telefon eintippen."
Ist der Partner vor Ort, bleibt diesem nicht viel zu tun, außer einfach für die werdende Mutter da zu sein und ihr Mut zu machen, meinen sowohl Prof. Dr. Strauss als auch Cäcilie Fey. „Bei der Geburt schaltet frau dann ohnehin auf Autopilot, da muss der Mann nichts tun. Wer mit dem Auto unterwegs ist, sollte natürlich anhalten, wenn das Baby tatsächlich kommt", sieht der Arzt es ganz pragmatisch. Hebamme Fey rät der Frau, sich für die Geburt wenn möglich auf einem untergelegten Handtuch in den Kniestand zu begeben, „weil man da besser agieren kann als im Liegen." Selbstverständlich sollte das Baby nicht unsanft zu Boden plumpsen.
Warm und trocken halten: Das ist wichtig fürs Baby
Und wenn der Wurm dann da ist? „Ich habe mir meine kleine Maus geschnappt, auf den Bauch gelegt und in das Handtuch gewickelt. Alles in Ordnung? Sie macht Geräusche und atmet, alles klar", beschreibt Catrin die ersten Minuten nach der Badewannengeburt von Tochter Marlen. Trocken und warm halten und auf eine freie Nase achten – genau das sind in der Tat die allerwichtigsten Punkte nach der Geburt, sagen Arzt und Hebamme. Mehr ist in den meisten Fällen nicht notwendig, und in der Regel ist zu diesem Zeitpunkt auch Unterstützung eingetroffen. Ansonsten gilt: Eine um den Hals gewickelte Nabelschnur wird mit dem Finger unterhakt und vorsichtig über den Kopf gehoben. Sollte es doch Probleme beim Atmen geben, müssen die Nasenwände nach unten ausgestrichen werden, damit sich eventuell in der Nase befindliches Fruchtwasser ablaufen kann. Das Durchtrennen der auspulsierten Nabelschnur kann die Hebamme oder der (Not-)Arzt übernehmen.
Welche Konsequenzen kann eine überstürzte Geburt haben?
Catrin hat sich anschließend in die Klinik bringen lassen, „um noch zwei, drei Tage Ruhe zu haben und Zweisamkeit mit Marlen zu genießen." Das steht jeder Frau frei. Ein Muss ist das Krankenhaus nach einer überstürzten Geburt, wenn es Komplikationen gab, aber diese kommen eher selten vor, sagt Prof. Dr. Strauss. „Probleme könnten gegebenenfalls ein Dammriss oder andere Verletzungen bei der Mutter sein. Sehr schnell geborene Kinder haben manchmal Anpassungsstörungen, zum Beispiel vorübergehende Schwierigkeiten mit dem Atmen. Sie sind einfach überrascht davon, dass es so schnell raus ging." Das geht den Müttern ebenso, weiß Hebamme Fey: „Viele sind überrumpelt, fragen sich, was passiert ist und können kaum realisieren, dass das jetzt tatsächlich ihr Baby ist. Da kann es zu Problemen kommen, das Kind wirklich anzunehmen. Auf jeden Fall haben die Frauen einen enormen Gesprächsbedarf, auf den man eingehen muss." Gegebenenfalls sollte dazu die Unterstützung eines Psychologen organisiert werden. Später kommt bei den Müttern aber natürlich auch berechtigter Stolz auf ihre Leistung auf, ergänzt Cäcilie Fey.
Ein Fall für sich: Sturzgeburten
Oft berichten Frauen, deren Baby sehr schnell kam, von ihrer „Sturzgeburt". Diese landläufig übliche Bezeichnung für Turbogeburten steht im medizinischen Fachjargon allerdings für etwas anderes: „Eine Sturzgeburt bezeichnet den Vorgang, dass das Baby wirklich regelrecht aus dem Geburtskanal herausstürzt und nicht mehr aufgefangen werden kann", erklärt Prof. Dr. Strauss. „Das ist völlig unabhängig davon, wie lange die Wehen vorher gedauert haben, oder ob vielleicht mit einer Wehe das Köpfchen kam und mit der nächsten erst der Körper. Es geht bei Sturzgeburten nur darum, dass man den Moment verpasst, in dem das Baby kommt und es deshalb nicht halten kann."
Eine überstürzte Geburt ist also nicht das Gleiche wie eine Sturzgeburt, kann aber in einer solchen enden – „bei etwa der Hälfte kommt das wohl vor", meint Prof. Dr. Strauss aus Erfahrung. Passieren kann eine Sturzgeburt in der Klinik genauso wie daheim oder bei den berühmten öffentlichen Toilettengeburten. Die Hauptsorge gilt dann natürlich dem Kind und möglichen Verletzungen, die es beim Sturz davongetragen hat, wenn es nicht zufällig doch weich gelandet ist. Wie überstürzte Geburten kommen Sturzgeburten vor allem bei Mehrgebärenden oder bei unerfahrenen Müttern vor, die die Geburtsanzeichen nicht richtig deuten oder ihre Schwangerschaft bis dato gar nicht bemerkt haben.