Postpartale Depression: So kam ich wieder raus
Auf die große Freude nach der Geburt eines Kindes folgen bei vielen Frauen einige Tage der Traurigkeit und Unsicherheit – der „Babyblues“. Bleibt dieses Gefühl als dauerhafte Trauer bestehen, spricht man von einer postpartalen Depression. Ein Erfahrungsbericht.
Vom Babyblues zur Depression
Endlich ist es da – das lang ersehnte Wunschkind. Die Neu-Mama ist erleichtert über die überstandene Geburt und sprüht vor Freude und Liebe für den neuen Erdenbürger. So steht es zumindest in den zahlreichen Büchern über das Kinderkriegen. Doch die Realität kann auch eine andere sein. Schlafentzug, Hormonchaos und Unsicherheiten drängen dann die Glücksgefühle beiseite und sorgen bei vielen Müttern für ein tränenreiches Stimmungstief – den sogenannten Babyblues. Hat sich nach einigen Tagen aber der Körper regeneriert und der Hormonhaushalt sich stabilisiert, kehren auch die Freude und die gute Laune zurück. Doch es gibt auch Ausnahmen. Bei etwa 10 bis 15 Prozent der Mütter bleiben die negativen Gefühle bestehen und entwickeln sich zu einer postpartalen Depression, auch postnatale oder Wochenbettdepression genannt.
Eine Mutter berichtet
Nicole Kempe* ist 33 Jahre alt und Mutter eines Sohnes. Als sie nach langen Kinderwunschjahren endlich schwanger wird, kann sie ihr Glück kaum fassen. Die Schwangerschaft verläuft problemlos und täglich stellt sie sich vor, wie schön es sein wird, ihr Baby bald in den Armen zu halten. Die typischen „Heultage" nach der Geburt kennt sie aus den Erzählungen ihrer Freundinnen. Sie ist sich sicher, dass dieses kurze Stimmungstief ihre große Freude nicht schmälern wird. Doch dann kommt alles anders als erwartet. Für urbia schildert Nicole Kempe ihre Gefühle in den Monaten nach der Geburt und den Weg heraus aus der Depression.
Schlafmangel statt Babyglück
Da lag er nun, selig schlummernd in seinem kleinen Bettchen und mein Mann und ich waren überglücklich. Doch die Freude währte nicht lange. Schlaflose Nächte, Schmerzen und Frust über das Stillen, das nicht richtig klappen wollte, forderten ihren Tribut. Mit jedem Tag, den Luis auf der Welt war, wurde ich erschöpfter und gereizter. Gleichzeitig wuchsen die Zweifel, ob ich dem Ganzen überhaupt gewachsen war. Luis war von Anfang an sehr wach, schrie häufig von morgens bis abends und hatte alle ein bis zwei Stunden Hunger – auch nachts. Der Schlafmangel machte mir sehr zu schaffen. An manchen Tagen war ich so müde, dass ich mich für zehn Minuten weinend unter der Decke verkrochen habe, um Luis' Schreien nicht mehr hören zu müssen. Ich hegte sogar einige Male den Gedanken, ihn in eine Babyklappe zu legen. Anschließend plagte mich sofort das schlechte Gewissen und ich fühlte mich wie eine Rabenmutter.
Für meinen Mann war die Situation sehr schwierig. Er fühlte sich oft machtlos und wusste nicht so recht, wie er mit meinen Gefühlen umgehen sollte. Zwar unterstützte er mich, soweit es seine Zeit zuließ, doch den größten Teil des Tages war ich mit Luis allein.
Der einsame Alltag einer Mutter
Als nach etwa zwei Wochen die Wunden der Geburt verheilt waren, fing ich an, den Haushalt zu schmeißen. Schließlich wollte ich nicht nur eine gute Mutter, sondern auch eine gute Hausfrau sein. Sobald Luis eingeschlafen war, was nicht häufig vorkam, sprang ich auf und saugte, putzte und faltete die Wäsche. Ich ließ mir keine Zeit zum Ausruhen oder um mal ein wenig Schlaf nachzuholen. Die Erschöpfung wuchs und mit ihr auch eine große innere Leere und Trauer. Ich weinte sehr viel und war oft antriebslos. Ich überlegte, wann ich das letzte Mal mit einem Erwachsenen gesprochen hatte, abgesehen von meinem Mann. Mir fehlten meine Freundinnen und ich stellte mir vor, wie toll es wäre, mein altes Leben zurückzuhaben. Wieder meinem Job als PR-Beraterin nachzugehen und etwas – in meinen Augen – Sinnvolleres zu tun. Ich war neidisch auf meinen Mann, der jeden Tag zur Arbeit fahren und dem „Wahnsinn" entfliehen konnte.
Für diese Gedanken schämte ich mich sehr und sprach mit niemandem darüber. Die anderen sollten nicht denken, ich hätte als Mutter versagt. Lediglich bei meiner Mutter weinte ich mich regelmäßig aus. Doch sie konnte meine Gefühle nicht nachvollziehen und sagte immer nur, ich solle mich zusammenreißen. Schließlich hätte sie es sogar mit zwei Kindern und einem Vollzeitjob geschafft. Auch wenn sie es nie aussprach, so stand immer der Vorwurf im Raum: „Du wolltest doch unbedingt ein Kind. Warum freust du dich jetzt nicht?" Das nahm mir mein letztes bisschen Selbstbewusstsein.
Das „Kind" bekommt einen Namen
Ich fraß meinen Frust immer weiter in mich hinein. Ich war wie ein brodelnder Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Doch nach wie vor war ich nicht auf die Idee gekommen, dass etwas mit mir nicht stimmen könnte. Bis zu dem Tag, an dem ich mich selbst wachrüttelte. Luis war vier Monate alt und ich wollte ihn zum ersten Mal mit Brei füttern. Er weigerte sich vehement, seinen Mund zu öffnen und meine Ungeduld wuchs heran zu unbändiger Wut. Nach unzähligen missglückten Versuchen, ihm den Löffel in den Mund zu stecken, machte ich meinem Ärger Luft. Ich fluchte, stampfte auf den Boden und schrie Luis mehrfach an, er solle endlich den Mund öffnen. Ich ließ allen Frust heraus, der sich in den vergangenen Wochen angestaut hatte. Luis war wie erstarrt und schaute mich verängstigt mit großen Augen an. Als mir bewusst wurde, was ich da getan hatte, sackte ich weinend zusammen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich psychologische Hilfe benötigte.
Sofort begann ich, unzählige Therapeuten anzurufen, von denen mir aber keiner in naher Zukunft einen Therapieplatz anbieten konnte. Ich war verzweifelt und fühlte mich komplett alleingelassen. Schließlich gab mir eine Psychologin den Tipp, in eine Klinik für Psychotherapie zu fahren, die auch Notfallsprechstunden anbietet. Also habe ich Luis eingepackt und mich sofort auf den Weg gemacht. Nach einem intensiven Gespräch mit einem der Ärzte wusste ich endlich, was mit mir los war: Ich bekam die Diagnose „schwere postpartale Depression".
Schritt für Schritt aus der Depression
Der Arzt bot mir an, mich und Luis auf der Mutter-Kind-Station aufzunehmen, aber ich entschied mich für eine ambulante Therapie. Unter der Bedingung, dass ich meinen Alltag komplett „umkremple". Auslöser für die Depression war bei mir in erster Linie der gravierende Schlafmangel, der seit Luis Geburt an meinen Kräften und Nerven zehrte. Der Arzt riet mir daher dringend dazu, meinen Alltag zu entschleunigen und so viele Ruhepausen wie möglich einzulegen, um Körper und Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Er verordnete mir eine Haushaltshilfe, ganz viel Unterstützung durch meine Verwandten und Freunde sowie kurze Nickerchen, während Luis schlief. Unterstützend bekam ich ein leichtes Antidepressivum, das meine Stimmung anheben und gleichzeitig die innere Unruhe reduzieren sollte. Außerdem legte er mir ans Herz, mit mir nahestehenden Menschen über meine Krankheit zu sprechen, um ihnen so die Chance zu geben, ein Verständnis für meine Situation zu entwickeln und mich auf meinem Weg zu unterstützen.
Ich war unglaublich erleichtert, endlich jemanden gefunden zu haben, der mir dabei half, mein Leben und meine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Allein diese Tatsache zog mich bereits ein Stück weit aus meinem tiefen Loch und gab meinem Leben wieder eine Perspektive.
In den darauffolgenden Wochen hielt ich mich strikt an die Anweisungen des Arztes und lernte, zwischendurch immer wieder einfach mal nichts zu tun. Ich schlief mehr und wurde dadurch Stück für Stück ausgeglichener. Auch meine Stimmung hob sich und ich begann, trotz der anstrengenden Tage und Nächte Liebe für meinen Sohn zu empfinden.
Die Umstellung meines Tagesablaufs wurde begleitet von regelmäßig stattfindenden Therapiegesprächen – anfangs wöchentlich, später monatlich. Trotz einiger kleiner Rückschläge ging es in den darauffolgenden Monaten stetig bergauf.
Nach einiger Zeit vertraute ich mich auch meiner Mutter an und erzählte ihr von meiner Krankheit. Sie hatte starke Schuldgefühle, dass sie meine Gefühle nicht ernst genommen und mich nicht unterstützt hatte. Sie lud Luis und mich ein, eine Zeit lang bei ihr zu wohnen und von ihr umsorgt zu werden. Das tat mir sehr gut. Auch meine Schwiegermutter kam von nun an regelmäßig, um mich im Alltag tatkräftig zu entlasten.
Etwa ein Jahr nach der Diagnose konnte ich schließlich das Antidepressivum nach und nach weglassen. Ich fühlte mich gestärkt und kehrte kurze Zeit später voller Motivation in meinen geliebten Job zurück. Das Allerwichtigste aber für mich war: Ich konnte mich wieder an meinem Kind erfreuen, das ich mir so sehr gewünscht hatte.
*Namen von der Redaktion geändert