Langzeitstillen – warum Mütter sich dafür entscheiden
Über 90 Prozent aller Babys werden in Deutschland nach der Geburt gestillt. Doch wer seinem Kind auch noch mit einem Jahr oder länger Muttermilch gibt, rührt an ein Tabu. Die Tochter des ehemaligen Formel1-Chefs Tamara Ecclestone löste mit Fotos, auf denen sie ihre Dreijährige stillt, sogar einen regelrechten Shitstorm aus.
Stillst du immer noch?
Die Entscheidung lange zu stillen, sorgt nicht selten für Aufsehen – und manchmal sogar für einen regelrechten Shitsorm. Das musste auch die Tochter des ehemaligen Formel1-Chefs Tamara Ecclestone erfahren. Sie postete ein Foto von sich, auf dem sie ihre dreijährige Tochter stillt. Das Stillen sei eine starke Demonstration der Liebe, schreibt sie dazu. Doch das sehen längst nicht alle so: Sie wurde mit zahlreichen Hasskommentaren überschüttet. Einige Fans hielten jedoch dagegen und unterstützen ihre Entscheidung. Ja, das Thema Langzeitstillen ist ein hochemotionales – und es spaltet längst nicht nur die Netzgemeinde.
Ab wann spricht man vom "Langzeitstillen"?
Ab wann für sie „langes“ Stillen beginne, wurden Frauen im Rahmen einer Studie der Hochschule Ulm 2008 gefragt. Die Antworten umfassten eine Stilldauer zwischen nur einem und 96 Lebensmonaten (acht Jahre). Für die meisten Befragten aber fing das Langzeitstillen bei zwölf Monaten an. Was beim Stillen „lang“ bedeutet, ist nicht definiert und scheint eine Frage des Bauchgefühls zu sein. Dem wird die lebensnahe Definition von Hebamme Regine Gresens aus Hamburg vielleicht am besten gerecht: „Mütter fühlen sich meist dann als Langzeitstillende, wenn sie regelmäßig auf die Frage ‚Stillst du immer noch?’ antworten müssen. Oder wenn sie in ihrem Umfeld keine anderen Mütter mit gleichaltrigen Kindern mehr kennen, die ebenfalls noch stillen."
Mit Langzeitstillen ist dabei ein Stillen gemeint, das zusätzlich zur Beikosteinführung weitergeführt wird, nicht das ausschließliche Stillen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, Kinder vier bis sechs Monate voll zu stillen und nach Beikoststart noch beliebig weiterzustillen. Viele Ärzte und Hebammen raten auch, ein Kind vier bis sechs Monate voll zu stillen, unter anderem, um Allergien vorzubeugen.
Langes Stillen – das Natürlichste der Welt
urbia hat Langzeit-Stillmütter gefragt, warum sie länger stillen als viele andere Frauen. Dabei wurde deutlich: Die meisten von ihnen sehen das lange Stillen einfach als das Natürlichste der Welt an: „Für mich ist der Gedanke absonderlich, wenn man ein Kind abstillt, weil es schon X Monate alt ist - ihm aber dann noch Pré-Nahrung oder Ähnliches füttert, weil das Kind ja ‚die Milch braucht’“, wundert sich Sabine (40), die ihren älteren Sohn anderthalb Jahre, und ihren jüngeren Sohn sogar viereinhalb Jahre gestillt hat. „Solange ein kleines Kind noch täglich Milch braucht, ist meiner Meinung nach Menschenmilch das Richtige. Kuhmilch ist für Kühe, und sollte nur im Notfall für Menschenbabys benutzt werden.“
Melli (31) stillt ihren 19 Monate alten Sohn im Moment tagsüber noch zwei bis drei mal und nachts noch ein bis zwei mal. Sie genießt vor allem die innige Nähe zu ihrem Kind: „Am schönsten daran finde ich einfach die Kuschelzeit. Es wäre für mich auch okay, wenn mein Sohn einfach in meinem Arm liegen würde ohne Stillen, das wäre ebenso schön.“ Sie richtet sich aber hier ganz nach ihrem Sohn: „Stillen will ich eigentlich, solange mein Sohn will. Aber wenn er mal in den Kindergarten geht, dann höre ich wohl auf."
„Das Schöne am langen Stillen ist zum Beispiel, dass man seinem Baby auch in der Beikoststart-Phase immer noch ganz viel Nahrung und Nähe geben kann. Dann ist es auch noch Trost, Beruhigung, ‚Runterkommen’ nach einem stressigen Tag (für beide, Mutter und Kind). Und immer ist da auch noch diese unbeschreibliche Nähe, die man zum Kind hat“, schwärmt Tanja (39), die ihr drittes Kind mit 21 Monaten noch stillt und auch die ersten zwei Kinder lange gestillt hat. „Dazu kommt noch, dass es keine einfachere Methode gibt, ein Kind auch nachts wieder zum Schlafen zu bringen, und das ohne Schnullersuche, Herumtragen etc."
Wie lange voll stillen: Von Vor- und Nachteilen
„Das Stillen ist für die meisten dieser Frauen schlicht eine beglückende Zeit“, fasst Hebamme Angelika Josten die Gefühle der Langzeitstillerinnen zusammen, die sie im Rahmen ihrer Arbeit kennenlernt. Die Vorsitzende des Landesverbandes der Hebammen in NRW empfiehlt Frauen, ihr Kind ein Jahr oder länger zu stillen. „Klar bedeutet das die ein oder andere Einschränkung, wenn man zum Beispiel in seiner Mobilität ein wenig reduziert ist. Aber ich sage den Frauen immer: ‚Es ist doch nur ein Jahr im Leben Ihres Kindes. Das geht so schnell vorbei, und man kann seinem Kind in dieser Zeit etwas ganz Besonderes mitgeben.’“
Doch nicht nur die Innigkeit zwischen Mutter und Kind spricht für längeres Stillen. Wissenschaftler konnten zeigen, dass dieses auch gesundheitliche Vorteile hat: Kinder erhalten so – zusätzlich zur Beikost - besonders wertvolles Eiweiß, Kalzium und verschiedene Vitamine und Spurenelemente in leicht verwertbarer Form. Außerdem enthält die Muttermilch auch im zweiten Lebensjahr des Kindes noch Antikörper, Abwehrzellen und Enzyme – gute Waffen gegen Infekte. Das hat auch Tanja festgestellt: „Als wir die Rota-Viren hatten, war ich sehr froh, dass ich meine Tochter (damals knapp zwei) noch gestillt hatte, denn mein älterer Sohn lag fast zwei Wochen flach und war kurz vor der Klinik-Einweisung. Meine Tochter aber war nach drei Tagen Vollstillens wieder fit.“
Als sicher gilt, dass längeres Stillen das Risiko für späteres Übergewicht sowie Allergien und Asthma senkt. Manche Studien sprechen auch dafür, dass längere Muttermilchernährung das Auftreten bestimmter kindlicher Krebsformen oder späterer Darmerkrankungen unwahrscheinlicher machen könnte.
Wie gefährlich sind Schadstoffe in der Muttermilch?
Gegen das Langzeitstillen haben dennoch viele Menschen noch Bedenken. „Da gibt es zum Beispiel die Idee, die manchmal etwas wässrig aussehende Muttermilch enthalte vielleicht nicht mehr genug Nährstoffe“, so Josten. Dabei sei die Muttermilch immer optimal auf die Bedürfnisse des Stillkindes eingestellt. „Auch, dass die Muttermilch zu viele Schadstoffe enthalte, spukt immer noch in den Köpfen herum, obwohl dies als überholt gilt.“ So betont auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in ihren Empfehlungen: „Muttermilch ist nur noch gering mit Pflanzenschutzmitteln belastet. Mütter können deshalb bei geeigneter und ausreichender Beikost (...) so lange weiterstillen, wie Mutter und Kind es wünschen.“ Auch die WHO betont, es gebe keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass unerwünschte Auswirkungen bei Säuglingen aufträten durch die Aufnahme bestimmter Schadstoffe durch die Muttermilch.
Langzeitstillen und Karies
Manchmal warnen Kinder- oder Zahnärzte vor einem Zusammenhang zwischen längerem Stillen (vor allem abends) und Karies. Studien hierzu kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Die Autoren einer Übersichtsstudie, die die vorhandenen Ergebnisse auswertet, kommen zu dem Schluss, dass das Stillen nach Bedarf lange beibehalten werden kann, wenn es von einer gründlichen Zahnhygiene begleitet werde. Auch die WHO, die DGE und andere Institutionen raten vom Langzeitstillen nicht wegen erhöhten Kariesrisikos ab. „Sobald ein Kind aber Zähne bekommt, sollte es nicht ständig gefüttert werden, egal ob aus der Flasche oder der Brust. Für die Zähne ist beides schädlich“, so Dr. Jacqueline Esch von der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGK). „Entscheidend ist, wie oft das Kind trinkt. Muttermilch enthält Milchsäure und Milchzucker. Dies kann bei Dauernuckeln zu Karies führen.“ Deshalb sollten Eltern schon den ersten Milchzahn des Nachwuchses nicht nur putzen, sondern den Zähnen Pausen zwischen den Mahlzeiten gönnen.
Gefühlte Einschränkungen
Wenn Frauen eines Tages lieber abstillen, liegt dies oft eher an gefühlten Einschränkungen. „Zum Beispiel sagen viele irgendwann: 'Ich will jetzt wieder mir selbst gehören'“, berichtet Hebamme Angelika Josten. So ging es auch Sabine: „Meinen Sohn habe ich vor kurzem mit viereinhalb Jahren abgestillt, weil es mich genervt hat, dass er mich am Wochenende immer weckt, wenn er morgens nuckeln will. Ich hatte ihm ein paar Mal gesagt, dass er ruhig noch länger gestillt werden kann, wenn er wartet, bis ich aufwache. Das hat nichts genutzt, darum habe ich für mich die ‚Reißleine gezogen’."
Langes Stillen kann natürlich auch mit dem Wiedereinstieg in den Job kollidieren. Zwar sieht der Gesetzgeber vor, dass stillende Frauen Anspruch auf Stillpausen haben oder zum Beispiel nicht auf Dienstreisen über das Wochenende geschickt werden dürfen. „Doch in der Praxis nutzen viele Frauen diese Rechte nicht aus Angst vor Repressalien oder davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren“, beklagt Hebamme Josten.
Die Umwelt reagiert oft mit Vorurteilen
Obwohl kaum etwas gegen, vieles aber für längeres Stillen spricht, müssen sich Langzeitstillende nicht selten mit Vorurteilen herumplagen. Ein Bekannter sagte vor wenigen Tagen zu Melli, es sei „pervers“, dass sie ihren anderthalbjährigen Sohn noch stille. „Er war richtig angewidert“, erzählt sie verletzt. Tanja erlebte ebenfalls schon Unverständnis: „Es kommen schon mal Reaktion wie ‚Was? Du stillst immer noch?’ oder ‚Na, das ist ja bewundernswert, dass du dir das so lange antust!’ Aber es sind auch immer wieder sehr positive Reaktionen dabei,“ erzählt die 39-jährige, die ihre ersten Kinder 14 und 24 Monate lang gestillt hat und ihren Jüngsten mit 21 Monaten momentan noch stillt.
Dass Außenstehende oft mit Befremden reagieren, wenn eine Frau länger stillt, liegt nach Ansicht von Hebamme Regine Gresens unter anderem an einer Sexualisierung der weiblichen Brust durch Medien und Werbung. Dabei werde ihre biologische Funktion als Nahrungsquelle und Trostspender für das Kind oft vernachlässigt. Das führe dazu, dass Mütter es - vor allem bei älteren Kindern – kaum noch wagten, dieses in der Öffentlichkeit zu stillen, denn das werde oft als abstoßend empfunden.
Rückhalt in der Familie ist wichtig
Viele Väter sind stolz darauf, dass ihre Partnerin das Baby lange stillen kann. Mit dem selbstbewussten Satz „Tja, wer hat, der hat!“ pflegt zum Beispiel der Mann der Userin eines Elternforums zweifelnde Bemerkungen von Verwandten abzuschmettern. Doch auch das Gegenteil gibt es, so die Erfahrung von Angelika Josten. „Ich habe selbst einen Vater erlebt, der wörtlich zu mir sagte: ‚Sie machen mir nicht meine Spielwiese kaputt!’, als ich seine Partnerin zum Stillen beriet." Auch gegenüber Müttern, Schwiegermüttern oder Freundinnen müssen sich länger stillende Frauen oft behaupten. „Von meiner Mutter kommen ab und zu kleine Seitenhiebe. Wenn ich zum Beispiel mal krank bin, dann kommt ein: ‚Naja, und das Stillen zehrt ja zusätzlich!’“. Der Rückhalt einer Frau in ihrer Umgebung sei aber sehr wichtig, damit sie sich zum langen Stillen entscheiden könne, betont Josten.
Welche Stilldauer ist „normal“?
Eine Begrenzung der Stilldauer empfehlen heute weder die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) oder die Nationale Stillkommission der Bundesregierung, noch die WHO oder die meisten Ärzteverbände.
Zur Orientierung hilft vielleicht ein Blick auf die so genannten Naturvölker, wo das Abstillalter nach einer amerikanischen Studie bei durchschnittlich knapp drei Jahren liegt. Dieser Durchschnittswert wird aber zum Teil stark überschritten. Die amerikanische Anthropologin Katherine Dettwyler errechnete, dass das biologische Abstillalter bei maximal sechs bis sieben Jahren liege. Meist stillten sich Kinder zwischen zwei und vier Jahren selbst ab.
Im Rahmen der Ulmer Hochschulstudie gaben die befragten Frauen im Mittelwert an, für sie sei das Stillen ab einem Alter von drei Jahren nur noch schwer vorstellbar. Es wurden aber vereinzelt auch Werte bis zu 120 Monaten (zehn Jahre) als „normal“ genannt. Und gut 40 Prozent der Teilnehmerinnen wollten sich hierzu lieber gar nicht festlegen. Am besten fahren Mütter wohl, wenn sie sich einfach an die Empfehlung der DGE halten, wo es heißt: „So lange, wie sie es wünschen“ sollten Mütter ihre Kinder stillen. Und die Überzeugungstäterinnen unter den Müttern sehen das genauso, betonen dabei aber auch, dass hier auch ihr Kind mit entscheidet: „Schon bei meiner Tochter hab’ ich mir nicht mehr reinreden lassen, und auch jetzt werden wir die Stillbeziehung dann beenden, wenn einer von uns beiden nicht mehr mag“, erklärt Tanja.