Macht Stillen schusselig?
Wenn stillende Mütter in den Wochen nach der Geburt den Teller zum "Dings" machen, Autotüren über Nacht sperrangelweit offen lassen oder Termine immer wieder vergessen, wird schnell die Diagnose "Still-Demenz" in den Raum geworfen. Was ist dran an diesem Phänomen, von dem so viele Mütter, die stillen, berichten?
Schlimmer kann’s nicht werden, hat Judith gedacht. Wenige Wochen vor der Geburt ihres ersten Kindes wollte die 30-Jährige mit Freunden einen DVD-Abend planen. Viermal vereinbarte sie einen Termin, immer wieder musste sie bei ihren Freunden anrufen und fragen, was sie denn nun ausgemacht hatten. Dann hat ihr Mann die Sache übernommen. Inzwischen ist Baby Henri fast zwei Monate alt und Judith schusselt sich durch den Alltag. Sie verwechselt beim Einkaufen ihre alte PIN-Nummer mit der neuen, vergisst schon während eines Gesprächs, worum es geht und weiß nach dem Stillen nicht mehr, welche Seite zuletzt dran war.
Ähnliche Erfahrungen machen viele Schwangere und junge Mütter. Schwangerschafts-Alzheimer oder Still-Demenz wird dieses Siebkopf-Phänomen genannt. Extreme Vergesslichkeit, Konzentrationsmangel und Wortfindungsstörungen sind die Symptome. Bei einigen (künftigen) Müttern sind sie stark ausgeprägt, während andere kaum oder gar nicht davon berichten können. Rund um dieses Phänomen gibt es reichlich Mythen, Meinungen und Mutmaßungen. Handelt es sich wirklich um eine Krankheit im klassischen Sinne?
Verbreitete Erklärungen für die Ausfallerscheinungen
„Der Begriff Still-Demenz ist fast eine Frechheit gegenüber den wirklich Dementen“, sagt Professor Dr. med. Klaus Vetter. „Demenz ist eine Krankheit, bei der es zu einem unumkehrbaren Gedächtnisverlust kommt. Die so genannte Still-Demenz hingegen geht vorüber. Hier gehen weder Erinnerungen noch Fähigkeiten auf Dauer verloren“, meint der Sprecher der Nationalen Stillkommission, die im Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin angesiedelt ist.
Gängige Erklärungen für die geistigen Ausfallerscheinungen sind die Hormonlage und Vitaminmangel. Besonders den Hormonen Kortisol, Prolaktin und Oxytocin wird gerne die Schuld in die Schuhe geschoben. Kortisol, das den Geburtsschmerz vergessen machen solle, würde auch andere Informationen in Vergessenheit geraten lassen. Prolaktin und Oxytoxin regen die Milchproduktion an und richten den Blick der Mutter auf das Kind – und zwar derart, dass alles andere in den Hintergrund trete und dann eben auch vergessen werden könne. Besonders bei stillenden Müttern wird ein Mangel an Vitaminen wie Vitamin B12 und Folsäure unterstellt, der für das schlechte Gedächtnis mitverantwortlich sei. All diesen Erklärungen kann Professor Vetter nichts abgewinnen: „Natürlich sind Schwangere und junge Mütter auch durch Hormone gesteuert. Dass diese Hormone jedoch für alle Vergesslichkeit verantwortlich gemacht werden, kann ich nicht nachvollziehen. Das ist alles nicht bewiesen.“ Auch der Vitaminmangel-Theorie steht er skeptisch gegenüber.
Überforderung und Übermüdung sind die wahren Gründe
Die Welt aus den Angeln sieht Professor Vetter als die eigentliche Ursache für mütterliche Schusseligkeit an. „ Das Leben wird durch ein Baby komplett auf den Kopf gestellt. Es gibt keine Routinen mehr. Die Dinge, die sonst wichtig sind, geraten in den Hintergrund, alles läuft aus dem Ruder. Da ist das Kurzzeitgedächtnis einfach mal blockiert.“ Auch schon in der Schwangerschaft richte sich der Fokus auf das Kind, so dass die werdenden Mütter nach und nach ihren bisherigen Alltag verlassen. Schlafmangel ist nach Vetter ein zweiter Grund. „Der Akku ist einfach leer“, meint er und fährt fort: „Kein Grund zur Sorge, denn nach einiger Zeit, wenn die Mütter sich an die neue Situation gewöhnt haben und nicht mehr auf der Felge fahren, kehren die gewohnten Gedächtnisleistungen zurück.“ Diese „Konzentrationsschwäche wegen Überforderung und Übermüdung“, wie Vetter die Still-Demenz lieber nennt, habe auch sehr viel mit selektiver Wahrnehmung zu tun. Nicht alle Mütter leiden unter diesem Phänomen. „Diejenigen, die betroffen sind, berichten darüber und die anderen eben nicht.“ Dass aber Schwangere und junge Mütter grundsätzlich nicht ganz zurechnungsfähig seien, hält Vetter für ein Ammenmärchen.
Wenn es um sein Auto geht, kennt Reimer kein Pardon. Von der Konzentrationsschwäche seiner Frau, die vor fünf Monaten ihr zweites Kind bekam, weiß er ein Liedchen zu singen. Ein Liedchen über Autos und offene Türen. „Knapp 24 Stunden lang stand der Wagen neulich mit sperrangelweit geöffneter Tür in der Tiefgarage in unserer Wohnanlage. Still-Demenz hin, Still-Demenz her, das geht nicht!“, meint er und ergänzt: „Gar nicht zu erwähnen: Die zahllosen „nur“ unabgeschlossenen Nächte des Wagens oder das vergessene Baby im Treppenhaus. Diese Still-Demenz muss es einfach geben, denn so blöd kann man doch nicht sein! Oder ist das alles doch nur eine Ausrede?“
Hilfreiche Möglichkeiten, einen klaren Kopf zu bekommen
Gibt es wirksame Maßnahmen gegen diesen Geistesnebel? Professor Vetter: „In erster Linie rate ich betroffenen Müttern zu einem vernünftigen Zeitmanagement mit dem Kind als Taktgeber.“ Es sei zumindest anfangs erheblich leichter, sich am Rhythmus des Kindes zu orientieren, als zu versuchen, das Kind dem eigenen Rhythmus anzupassen. Wenn das Kind schläft, solle die Mutter, soweit es geht, auch ruhen. Erstmal Kaffee machen und den Fernsehen anschalten, sei weniger schlau.
Es gibt einige weitere Maßnahmen, um der Überforderung und dem daraus resultierenden Stress Herr zu werden:
- Der Haushalt ist kurz vor der Geburt des Kindes und erst recht nach der Geburt nicht so wichtig. Es muss nicht alles perfekt sein und notfalls kann man Verwandte bitten, einmal kurz durchzusaugen.
- Auch junge Mütter brauchen gelegentliche Auszeiten. Familie und Freunde sind sicher bereit, auch mal eine Stunde lang auf das Baby zu achten, während die Mutter schläft, ein Buch liest oder sich in der Badewanne entspannt.
- Kein Baby nimmt Schaden, wenn die Mutter es einen kleinen Augenblick schreien lässt. Wenn die Mutter sich die Zeit nimmt, eine angefangene kleine Tätigkeit zu beenden, bevor sie zum Baby geht, kann das zur Entspannung beitragen. Manche Mütter fühlen sich dann weniger ausgeliefert.
- Auch der Vater hat ein Interesse daran, dass es dem Baby gut geht. Ihn nicht einzubeziehen, ist ein Fehler, den sich keine Mutter leisten sollte.
- Der Austausch mit anderen Müttern vermittelt das Gefühl, nicht alleine dazustehen. Schwierige Situationen besprechen zu können und Tipps zu erhalten aber auch zu geben, stärkt.
- Nur wer seine grauen Zellen trainiert, hält sie fit. Natürlich soll das Hauptaugenmerk auf dem Baby liegen. Das heißt aber nicht, dass es nicht mehr möglich ist, sich mit anderen Dingen zu befassen. Die Tagesschau sehen, Zeitung lesen, Vokabeln lernen oder mit alten Kollegen über die Arbeit sprechen, können als geistige Herausforderung das Hirn auf Trab halten.
- Natürlich ist auch auf die Ernährung zu achten. Eine vitaminreiche Kost mit genug Mineralstoffen, Eiweißen, gesunden Fetten und Kohlenhydraten, wie sie in Nudeln, Brot und Reis zu finden sind, dient der körperlichen und geistigen Fitness.
- Ein kleines Notizbüchlein, in dem auf die Schnelle Termine, Pläne, Ideen und Einkaufslisten notiert werden können, erleichtert den Alltag.
Wer all diese Tipps beherzigt und trotzdem noch die Schlüssel verbummelt und Termine verbaselt, der sei getröstet. Denn junge Väter, weiß Hebamme Isabell Frehsdorf*, leiden mitunter auch an der einen oder anderen geistigen Ausfallerscheinung. Ein Vater hat sie besonders beeindruckt. Kurz nach der Geburt des Kindes lag die Mutter mit dem Neugeborenen noch im Kreißsaal. Der Vater saß direkt daneben auf einem Stuhl und las „Harry Potter und der Feuerkelch“. Dazu Hebamme Isabell: „Für den Mann war das so ein grenzwertiges Ereignis, dass er sich in eine ihm bekannte Welt zurückziehen musste.“ Eben in die Magische.
*Name von der Redaktion geändert