Kolumne „Fröhliches Familienleben"

Abendliches Zähneputzen und andere Kapriolen

Was haben ein Schmetterlingsflügel, ein Verkehrsstau und ein ganz normaler Familienabend gemeinsam? urbia-Chaosforscherin Felicitas Römer geht derartigen Fragen in dieser Folge ihrer Kolumne auf den Grund.

Autor: Felicitas Römer

Was mein Familienleben mit Schmetterlingen und Wirbelstürmen zu tun hat

Zähneputzen
Foto: © Fotolia

Hast du schon mal was von der Chaosforschung gehört? Dann kennst du vielleicht auch die Theorie des „Schmetterlingseffekts“. Sie besagt, dass ein einziger Flügelschlag eines brasilianischen Falters in Texas einen Wirbelsturm auslösen kann.
Diese nobelpreisverdächtige Idee ist leider nicht auf meinem Mist gewachsen. Sie stammt von dem Meteorelogen Edward Lorenz, der sich mit der Wettervorhersage beschäftigte.

Felicitas Roemer

Minimale Unregelmäßigkeiten legen alles lahm...

Auch Mathematiker beobachteten schon länger, dass winzige Veränderungen der Ausgangsparameter bei manchen Systemen zu ungeahnten Folgen führen, die schwierig zu berechnen und daher kaum vorhersehbar sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Stau, der nicht immer durch Unfall oder Bauarbeiten entsteht, sondern oft aus dem vermeintlichen „Nichts“ heraus. Da braucht nur ein Autofahrer plötzlich die Spur zu wechseln, der Nachfolger bremst heftig ab – schon stecken Reisende und Berufspendler in einer stockenden Blechschlange fest. Verkehrsforscher sind also nicht anderes als Berechner chaotischer Systeme. Oder – in der Sprache der Mathematiker gesprochen: Sie sind profunde Kenner „nichtlinearer dynamischer Systeme“.

...eben auch das Familienleben

Und, weißt du was? Ich glaube, ein solches System ist meine Familie auch. Dynamisch sowieso. Und auch ziemlich nichtlinear. Will heißen: es geht eben nicht immer schön alles der Reihe nach, wie es so ungeheuer praktisch wäre. Oft genug geschieht ja alles gleichzeitig. Und manchmal gerät alles durcheinander, weil irgendjemand etwas tut, womit mal wieder keiner gerechnet hat. Wie der kleine Schmetterling eben. Und dann entsteht bei uns nicht nur das subjektiv empfundene, sondern das naturwissenschaftliche, also objektiv nachweisbare Chaos.

Das Wetter ist einfacher vorherzusagen als ein Familienabend

So will es mir auch nach vielen Jahren täglicher Übung immer noch nicht gelingen, den genauen Ablauf eines ganz normalen Familienabends vorauszusehen, geschweige denn zu berechnen. Na gut, ich bin weder Meteorologin noch Mathematikerin und muss glücklicherweise keine Vorhersagen treffen, die von allgemeinem öffentlichen Interesse sind.

Doch auch als Mutter hat man ja manchmal das Bedürfnis, bestimmte Entwicklungen absehen zu können, um für Eventualitäten mental gewappnet zu sein. Ich sammle schon seit über 20 Jahren Erfahrungswerte in Sachen Familie und meine erzieherische Requisitenkiste ist ganz gut bestückt. Trotzdem kommt fast jeden Tag unvermutet ein zarter Flügelschlag daher, der meinen klug durchdachten Plan durcheinanderwirbelt.

Das war eigentlich nicht der Plan

Nehmen wir ein Beispiel: Das Abendessen, das den Tag gemütlich ausklingen lassen soll, beginnt ruhig bis fröhlich. Dann der unvermutete kleine Flügelschlag – hier eher ein wenig zarter Seitenhieb von Schwester zu Bruder: „Wann lässt du dir endlich mal die Haare schneiden, du Pilzkopf?!“ – und das ganze bis dato harmonische Szenario nimmt eine dramatische Wende: „Das geht dich gar nichts an, du blöde Kuh“, erwidert der Angesprochene und streckt ihr die Zunge raus. Anschließend vernehme ich meine eigene Stimme, die das Ende des unschönen Intermezzos einfordert. Wütend blitzt mich meine Tochter an: „Ich hab ihn doch nur gefragt, was geht dich das jetzt an? Du brauchst dich gar nicht einzumischen“, springt auf und verlässt schnaubend den Tisch. Also das war eigentlich nicht der Plan. Jedenfalls nicht meiner.

Prophylaxe oder Philosophieren? Beides!

Auch weiß ich nie so ganz genau, was mich erwartet, wenn ich meinen Jüngsten zum Zähneputzen überreden muss: Manchmal beschäftigt er sich nämlich im Badezimmer lieber mit philosophischen Themen als mit seinem borstigen Reinigungswerkzeug. Fragen wie „Wann stirbt eigentlich Papa?“, „Kann man, wenn man tot ist, noch Bauchweh haben?“ oder „Wie kommen denn die Babys in den Bauch von der Mama? Wie kommen sie da wieder raus?“, bringen mich dann doch kurzfristig aus dem Konzept. Ernsthaftes Nachdenken und mußevolles Sinnieren fällt mir zugegebenermaßen zu dieser späten Stunde schwer, zumal ja der Abwasch auf mich wartet und das Kind bald und möglichst sauber ins Bett soll. Trotzdem versuche ich natürlich, während gründlicher Kariesprophylaxe in kindgerechter Sprache über die Folgen des Exitus, natürliche Geburtsmethoden und die geschlechtliche Vereinigung zu plaudern. Etwas anderes bliebe auch dem renommiertesten Chaosforscher in einer solchen Situation nicht übrig.

Haben Chaosforscher das Gästeklo erfunden?

Es kommt aber auch schon mal schlimmer, wenn nämlich das Beißerchen-Säuberungsritual vom ohrenbetäubendem Gebell unseres Hundes unterbrochen wird, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass irgend jemand schon seit geraumer Zeit vor unserer Haustür steht. Kaum hingerannt und dem Nachbarn die gewünschte Säge aus dem Keller gekramt, bimmelt das Telefon, das ich partout nicht finden kann. Treppen also wieder rauf, unter dem Kopfkissen meiner Tochter werde ich endlich fündig. Keuchend rufe ich meinen Namen in das Mobilteil, es tutet traurig in meinen Gehörgang. Kurz verschnaufen, dann wieder zum Söhnchen eilen, der seine Milchzähne bestimmt schon halb weg geschmirgelt hat. Das Badezimmer ist jedoch leer. Aber auf dem Hochbett im Kinderzimmer thront ein kleiner Pirat in Unterhose, die Zahnbürste zwischen die gefletschten Zähne geklemmt und „Siebzehn Mann auf des Totenmanns Kiste, jojojo“ schmetternd. Dass er dabei die schäumende Zahnpasta quer über der Bettwäsche verspritzt, macht ihm gar nichts. Mir mittlerweile auch nicht mehr.

"Ich muss aber pischern ... gaaanz dringend"

Heiß wird mir allerdings beim Blick auf die Uhr: Schließlich muss der Junge morgen in der Vorschule wieder volle Konzentration zeigen. Also den Seeräuber noch mal rasch einfangen. Der quengelt und will auf seinem Hochsee-Piraten-Segelschiff bleiben, weil Zähneputzen einfach „total wangleilig“ ist. Na gut, da hat er Recht, wer würde schon behaupten, Gebissreinigung sei ein reizvolles Unterfangen. Aber Pipi muss er dann plötzlich auch, und so zieht er freiwillig mit mir in Richtung Waschraum. Leider ist die Badezimmertür fest verschlossen, von drinnen dringt verdächtiges Rauschen. Töchterchen duscht. „Ich muss aber pischern“, mein Sohn trampelt von einem Bein auf das andere, „gaaanz dringend“.

Ich bin seitdem ziemlich sicher, dass Gästeklos von Chaosforschern erfunden wurden. Oder von Mathematikern, die in einem Anflug von Geistesgegenwärtigkeit mal ausgerechnet haben, wie viele Stunden weibliche Teenies täglich voraussichtlich und durchschnittlich im Badezimmer verbringen. Auf jeden Fall bin ich sehr dankbar für diese wunderbare Erfindung, die unseren Abend dann einigermaßen rettete, obwohl die Sauberkeit der Kauwerkzeuge meines Mini-Kapitäns sicher zu wünschen übrig ließ.

Wer Kinder hat, braucht keine Chaosforschung

Äußerst ungern erinnere ich mich an den Abend, an dem während des Zähneschrubbens ganz gemächlich die Waschmaschine auslief, mein größerer Sohn hektisch alle Badezimmerschränke nach Haarspray durchsuchte, meine Tochter hereinspazierte, weil sie „nur noch mal eben kurz“ die binomischen Formel erklärt haben wollte und mein Mann im Hintergrund lautstark verkündete, dass mein PC, an dem er herumbrokelte, um diverse Dateien zu retten, nun endgültig den Geist aufgegeben habe. Und deshalb verschone ich dich auch mit Details dieser Szenerie. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich in diesen 20 Minuten um gefühlte dreieinhalb Jahre gealtert bin.

Um eins aber noch mal klar zu stellen: Nie würde es mir einfallen, einem so zart besaiteten Wesen wie dem Schmetterling die Schuld an meinen familieninternen Wirbelstürmen zu geben. Aber um zu begreifen, dass das ganze Leben ein „nichtlineares dynamisches System“ ist, dafür braucht man wirklich kein Chaosforscher zu sein. Um das zu wissen, muss man einfach nur ein paar Kinder haben!