Hilfe! Mein Kind rastet ständig aus
Manche Kinder geraten bei kleinstem Anlass von null auf hundert, vor allem wenn etwas nicht klappt. Sie toben, schreien, spucken oder schlagen um sich. Da liegen die Nerven der Eltern blank. Was "Wut-Kindern" dann wirklich hilft!
Frust und Wut kennt jedes Kind
Fast jedes Kind ist gelegentlich so wütend, dass es schreit, tobt oder Spielzeug auf den Boden wirft. Doch es gibt Kinder, bei denen die Wut extreme Ausmaße annimmt: Sie rasten beinahe täglich aus, schreien, beißen, spucken, schlagen oder beschimpfen die Eltern. Ihre Wutanfälle halten oft lange an, sie wirken abwesend und nicht ansprechbar. "Unser Sohn (2,5) neigt in den letzten Wochen zu extremem Wutausbrüchen. Dann fängt er richtig an zu brüllen. Er lässt sich überhaupt nicht beruhigen, sagt 'Mama geh weg!', schmeißt Spielzeug, haut sich mit dem Kopf auf den Boden", berichtet eine ratlose Userin im urbia-Forum, und eine andere erzählt von ihrer Tochter: "Sie schmeißt i hr Spielzeug aus dem Zimmer, schreit, haut vor die Tür, sabbert sich vor Wut komplett voll, versucht irgendwo 'reinzubeißen, auch schon in mein Bein. Sie macht dann absichtlich Pipi in die Hose. Oder sie versucht, sich zu erbrechen, indem sie stark hustet."
Kind kennt noch keine Alternativen
Oft beginnen solche Berichte in den urbia-Foren, wenn die Kinder etwa zweieinhalb sind. Aber auch Kinder im Grundschulalter sind manchmal noch betroffen. Was aber unterscheidet "Wut-Kinder" von anderen? Stimmt es, dass ihre Eltern etwas falsch machen oder nicht genug durchgreifen? Nein, sagt der Psychologe Dr. Ross Greene. Der Harvard-Professor forscht seit Jahren zu besonders "explosiven" Kindern und erklärt: "Diese Kinder wissen einfach nicht, was sie stattdessen Besseres tun könnten. Manche an sie gerichteten Forderungen übersteigen ihre Fähigkeit, angemessen zu reagieren." Die betroffenen Kinder hätten eine Schwäche in Sachen kognitive Fähigkeiten.
Aber was genau meint das? Zu den kognitiven Skills gehört die Fähigkeit zu lernen, zu planen, sich zu konzentrieren, sich etwas vorzustellen, sich zu erinnern oder auch: adäquat auf eine Situation zu reagieren. Und Letzteres ist bei explosiven Kindern der Knackpunkt. Vor allem Frustrationstoleranz und Flexibilität gegenüber sozialen und emotionalen Herausforderungen seien bei ihnen noch zu schwach ausgeprägt, sagt Professor Greene.
Warum Belohnung oder Konsequenz nicht hilft
Weil ein betroffenes Kind also noch keine Alternativen kennt, hilft es auch nicht, ihm zu sagen: "Wenn du jetzt nicht aufhörst, gibt es nachher kein Eis!" Ebenso wenig hilft es ihm, wenn Eltern eine Belohnung in Aussicht stellen. "Konsequenzen, egal ob von der belohnenden oder bestrafenden Sorte, bringen einem Kind keine kognitiven Fähigkeiten bei", stellt Greene klar. Diese Erfahrung machte auch eine urbia-Userin: "Meine Tochter war immer schon jähzornig und ist auch heute ca. zwei Mal am Tag total wütend. Meistens sind es nichtige Gründe. Sie soll sich die Hände waschen, oder der Bruder hat ihr etwas weggenommen. Ich habe sämtliche Konsequenzen und Belohnungsprogramme ausprobiert", und nichts habe geholfen.
Ruhig bleiben kann geübt werden
Doch was können Eltern stattdessen tun, damit der Nachwuchs auf heikle Situationen nicht mehr so überschießend reagiert? Was ein "junger Wilder" jetzt braucht, sagen Experten, ist ein wirksames Handwerkszeug für Frustsituationen. Ähnlich wie auch Feuerwehrleute regelmäßig für den Brandfall trainieren, muss dabei auch mit dem Kind immer wieder geübt werden. Zugleich können auch Eltern lernen, den Wutanfällen des Nachwuchses auf neue Weise zu begegnen. Denn oft steckt nicht nur Frust hinter dieser Wut, sondern auch der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung oder mehr Aufmerksamkeit.
1. Schritt zu mehr Ruhe: Den Ernstfall trainieren
Die erste Trainingsstufe setzt in einer ruhigen Minute an, wenn das Kind entspannt ist. Jetzt können Mutter oder Vater eine (!) typische Situation herausgreifen, in der ihr Kind leicht ausrastet. Das kann das Essen am Familientisch, der Einkauf im Supermarkt, eine Situation in der Schule oder der Geschwisterstreit sein. Sie können an den Wutausbruch erinnern und ihr Kind nach seinen Gefühlen fragen: "Du weißt ja, heute Abend musst du die Zähne putzen. Gestern hast du dabei ganz laut geschrien. Erinnerst du dich noch, warum du so sauer warst?" Oft können Kinder ziemlich genau sagen, was sie gestört hat: "Die Zahnbürste tat weh. Und ich kriege immer Schaum in den Hals." Jetzt kann man zusammen überlegen: "Was müsste denn anders sein, damit es besser geht?"
So macht der Nachwuchs die Erfahrung, dass man den Konflikt auch konstruktiv angehen kann. Und dass es dabei selbst Ideen einbringt, kommt auch seinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung entgegen. Die gefundene Lösung wird dann noch einmal zusammen gefasst ("Also, heute Abend machen wir das Zähneputzen dann so!") und wenn es soweit ist, in Erinnerung gerufen: "Weißt du noch, was wir dieses Mal anders machen wollten?" Solche "Trocken-Übungen" trainieren das Kind auch für heikle Situationen in Kiga oder Schule, in denen die Eltern nicht dabei sein können.
2. Schritt zu mehr Ruhe: Anzeichen erkennen
Die nächste Trainingsmöglichkeit bietet sich, wenn im Kindergemüt erste dunkle Wolken aufziehen. Eltern können Tochter oder Sohn jetzt auf Frühsymptome aufmerksam machen: "Du ziehst die Augenbrauen runter und ballst die Fäuste. Bist du sauer?" oder "Deine Stimme ist lauter geworden, ich glaube, du wirst gerade wütend!" Man kann Gesichtsausdruck, Körperhaltung oder Stimme des Kindes auch nachahmen, um sie sichtbar zu machen: "Schau mal, du guckst gerade ungefähr so!" Auf diese Weise lernt ein Kind, seine Wut früher wahrzunehmen, und wird nicht mehr so leicht von ihr überrascht.
Gemeinsam einen Ausweg suchen
Bei diesen ersten Vorboten der Wut können Eltern oft noch gut eingreifen. Dreierlei ist jetzt wichtig: Verständnis zeigen, den elterlichen Standpunkt erklären, einen gemeinsamen Ausweg suchen: "Ah, Du bist genervt, weil du die Legosteine nicht auseinander kriegst. Ich mag es aber nicht, wenn du sie dann herumwirfst. Du könntest mich einfach um Hilfe bitten" oder: "Ich weiß, dass du den zweiten Muffin auch noch essen möchtest. Aber er ist für deinen Bruder. Willst du mal in den Schrank schauen? Vielleicht entdeckst du etwas Anderes, das du magst."
Jedes Mal, wenn ein Wutanfall auf diese Weise abgewendet wird, lockert sich die automatisierte Verbindung zwischen Frust und Wut. Das Kind sieht, dass es auch durch Überlegen, Sprechen oder Ausprobieren aus dem schlechten Gefühl herauskommt. Akzeptiert der Nachwuchs im Moment keine Lösung, hilft manchmal auch Ablenkung: "Weißt du was, ich mach' jetzt erstmal die Musik an, die du so magst." Auch diese Ablenkung hat einen Lerneffekt. Das Kind erfährt: Ich kann dem Wutgefühl ein angenehmes Gefühl entgegensetzen!
3. Schritt zu mehr Ruhe: Nähe, bevor es kracht
Wenn es ein Eltern-Kind-Konflikt ist, der gerade dabei ist, in einen Wutanfall zu münden, kann man auch überlegen: Ist die Situation wirklich so wichtig, dass ich mich durchsetzen muss, auch wenn das Kind gleich ausrasten wird? Das heißt nicht, dass Eltern immer nachgeben sollten. Aber nicht jeder Konflikt zwischen Klein und Groß ist bei genauerem Hinsehen so gravierend, dass er auf Biegen oder Brechen ausgefochten werden müsste. Auch wenn alles nicht greift und die Sicherungen beim Kind schon rotglühend sind, gibt es manchmal Rettung in letzter Sekunde: eine große Extraportion an Liebe und Mitgefühl: "Oje, das ist aber auch wirklich Mist! Komm mal her zu mir!" Dass eine Umarmung Wunder wirken kann, weiß auch eine urbia-Mutter: "Ich habe das Gefühl dass meine Tochter (6) allein aus der Wutschleife nicht rauskommt. Wenn sie einen Wutausbruch bekommt, hilft es meistens schon, wenn ich sie in den Arm nehme und einfach nur halte und streichle. Dann fängt sie sich, und wir können normal reden, bzw. besprechen, warum sie gerade so wütend ist."
Im Auge des Sturms Ruhe bewahren
Es wird zwar seltener werden, aber hier und da noch passieren: Das Kind rutscht in die emotionale Kernschmelze. Solange die Wutattacke dauert, will es nicht mehr angesprochen oder umarmt werden. Eltern sollten deshalb einfach abwarten. Verbale Wütereien des tobenden Sprösslings ("Ich hab' dich nicht mehr lieb!", "Du sollst tot sein!") darf man ruhig überhören. Auch auf drastische Verhaltensweisen wie Spucken, würgendem Husten oder Beißen sollte man gelassen reagieren. Attackiert das Kind die Erwachsenen, können sie es auf Armeslänge entfernt halten, ohne zu schimpfen oder es festzuhalten.
Bleiben Sie mitfühlend
Wichtig ist, beim Kind zu bleiben und sich mitfühlend zu zeigen. Auch mit Blicken kann man dem Nachwuchs sagen: 'Ich weiß, dass du von der Situation gerade überfordert bist und dass sich das schlimm anfühlt!' Damit machte auch eine urbia-Userin gute Erfahrungen: "Wir haben festgestellt, dass unser Sohn (4) sich einfach ausweinen musste. Haben wir ihn zu schnell abgelenkt oder getröstet, war er wie eine Bombe, die jeden Moment wieder hochgeht." Deshalb hätten sie sich zunächst immer einfach neben ihr Kind gesetzt und gar nicht gesprochen. "Irgendwann haben wir gefragt: Möchtest du auf den Schoß? Kam ein Ja, haben wir ihn auf den Schoß genommen und einfach im Arm gehalten, bis er nur noch geschluchzt hat. Dann war es meist gut."
Wenn die Eltern wütend werden
Dramatische Wutanfälle beim Kind sind auch für Erwachsene eine emotionale Herausforderung und können das Nervenkostüm sehr belasten. Wenn Eltern an sich beobachten, dass sie stark auf die Wut des Kindes anspringen, wenn sie es anschreien, schütteln oder schlagen möchten, dann ist es Zeit, sich Hilfe zu holen. Aber auch wenn Sohn oder Tochter sich in der Kita oder Schule bereits selbst ausgrenzt, oder ErzieherInnen bzw. LehrerInnen Alarm schlagen, sollten Eltern sich beraten lassen. Kostenlose Elternberatung gibt es bei der Caritas, der Diakonie, dem Kinderschutzbund und den Erziehungsberatungsstellen der Jugendämter.
Zum Weiterlesen:
- Ross W. Greene: "Das explosive Kind", Verlag Edition Spuren, ISBN-13: 978-3905752250 (für Eltern).
- Geisler, Dagmar: "Wohin mit meiner Wut?", Loewe Verlag,
- ISBN-13: 978-3785575789 (für Kinder von 4 bis 6 Jahren).
- Bartram, Angelika / Rogge, Jan-Uwe / Swoboda, Annette: "Kleine Helden - Riesenwut: Geschichten, die stark machen", Verlag rororo, ISBN-13: 978-3499213717 (für Kinder von 4 bis 8 Jahren).
- Schwarz, Britta / Tophoven, Manfred: "Das kleine Wutmonster", Annette Betz Verlag, ISBN-13: 978-3219115291 (für Kinder von 4 bis 6 Jahren).