Großfamilien: Fast schon Exoten
Wer mehr als drei Kinder hat, gilt heute in Deutschland fast schon als Exot. Denn Kindersegen wird immer seltener als Reichtum, sondern auch vor allem als Belastung erlebt. Wir haben einige Großfamilien befragt, warum sie sich dennoch dafür entschieden haben.
- Großfamilien in Deutschland: 'Waren die geplant?'
- Kinderreichtum macht reich – nur nicht finanziell
- Der Alltag - Spagat zwischen Fußballfeld und Kinderarztpraxis
- Viele Geschwister – Fluch oder Segen?
- „Musste das sein?“ - Die Kommentare der anderen
- Genug Platz – für Kinderreiche ein Luxus
- Wunschzettel einer Großfamilie
Großfamilien in Deutschland: 'Waren die geplant?'
„Habt ihr im Lotto gewonnen?“, „War das geplant?“ oder gar: „Sind die alle vom selben Mann?“ Susanne (32) und Stefan S. (35) aus Denkendorf, die in wenigen Wochen ihr fünftes Kind erwarten, haben sich schon Einiges anhören müssen. Kinderreichtum ist in Deutschland die Ausnahme, wer mehr als drei Kinder hat, gilt fast als Exot. Nur neun Prozent aller Familien haben vier oder mehr Kinder, das sind knapp 560 000 Haushalte. Eine Waschmaschine im Dauerbelastungstest, Großeinkäufe wie für eine halbe Kompanie und ein Lärmpegel ähnlich dem des Frankfurter Flughafens - natürlich verlangt Kinderreichtum viel Einsatz: „Ich bin morgens ab 4.30 Uhr auf den Beinen und mache schon mal diejenigen Hausarbeiten, die nicht laut sind. Mein Tag endet trotzdem nie vor 24 Uhr“, erzählt Doreen W. (36), Mutter von acht Kindern, die mit ihrer Familie in einer Kleinstadt bei Hildesheim lebt. Kinderreiche Familien beschrieben urbia, was für sie das Schönste am Kindersegen ist und wie sie den Alltag ihres „Familienunternehmens“ managen.
Kinderreichtum macht reich – nur nicht finanziell
Dass ab dem siebten gemeinsamen Kind eines Paares der Bundespräsident auf Antrag die Ehrenpatenschaft übernimmt und es 500 EUR gibt, ist sicher kein Grund, viele Kinder zu bekommen. Auch das Kindergeld – oft als Motiv für den Kindersegen unterstellt – deckt nicht wirklich die Kosten, die ein Kind verursacht: Ab dem dritten Kind steigt das Kindergeld von 194 auf 200 EUR monatlich, für jedes weitere Kind gibt es 225 Euro. Es steckt also so gut wie immer Herzblut dahinter, wenn Eltern viele Kinder bekommen. „Das erste Wort, das mir zu unseren Kindern einfällt, ist einfach ‚wunderbar’. Natürlich ist es manchmal stressig, aber es ist wunderbar, die Kinder zu haben“, erzählt Juliane F. aus dem Raum Erlangen, Mutter von vier Jungs im Alter von zweieinhalb bis zehn Jahren. „Das Schöne an einer großen Familie ist der Trubel. Man ist nie einsam, man hat immer jemanden um sich, und auch die Kinder haben immer jemanden zum Spielen“ beschreibt Doreen ihr Lebensgefühl. „Das Schönste ist, wenn wir zusammen etwas unternehmen, aber auch einfach, wenn alle Kinder beim Essen sitzen. Oder zu wissen, dass man etwas zusammen geschafft hat. Dass man stolz darauf ist, was man leistet, und wenn man Liebe zurück bekommt“ erzählen Susanne und Stefan. Ähnlich sehen es die Vierfacheltern Fabienne (27) und Andreas F. (28) aus Degersheim in der Schweiz: „Das Schönste ist, dass es einen Zusammenhalt gibt, dass man sich gegenseitig hilft, dass die Kinder sich zum Spielen haben“. Familien mit vielen Kindern sind sich also einig: Kinderreichtum macht reich – nicht finanziell, aber emotional.
Von vornherein geplant ist eine große Kinderschar übrigens nur selten. Viele Eltern erzählten urbia, sie hatten einfach „das Gefühl, dass noch etwas fehlt“, oder dass sie „immer nur von Kind zu Kind denken und schauen, was sich ergibt“. Hier und da ist es auch ein neuer Partner, der den erneuten Kinderwunsch weckt, oder eigene Kinder mit in die Beziehung bringt.
Der Alltag - Spagat zwischen Fußballfeld und Kinderarztpraxis
Es war eine wirkliche Überraschung: Keines der Elternpaare mit vier, fünf oder gar acht Kindern beklagte sich über zuviel Arbeit oder Hetze im Alltag. Wo sich Eltern von zwei Kindern oft schon am Rande des Nervenzusammenbruchs wähnen, finden sie höchstens, dass es manchmal „schon anstrengend“ sei. Das Geheimnis scheint eine sehr gute Planung zu sein. „Unsere Planung beginnt nicht erst am Anfang des Tages, sondern eigentlich schon am Anfang des Jahres“, erzählt Juliane F., Gymnasiallehrerin wie ihr Mann. „Wir bekommen dann beide unsere Stundenpläne. Danach informieren wir die Tagesmutter, denn sie hütet momentan noch unsere zwei jüngsten Söhne Patrick (4) und Sebastian (3). Der konkrete Tagesablauf sieht dann so aus, dass die Kinder morgens außer Haus sind und ich unterrichte. Nachmittags bin ich für die vier Jungs zuständig. Ich versuche zum Beispiel, durch Fahrgemeinschaften mit anderen Eltern die Fahrerei zu den Hobbys der Kinder (z.B. zu den Pfadfindern) in Grenzen zu halten. Zu den Hauptmahlzeiten kommen wir dann möglichst alle um unseren großen Esstisch zusammen.“ Weil Kinder andere geschmackliche Vorlieben haben, kommt es dabei schon mal vor, dass Juliane zweimal kocht: Einmal „kindgerecht“, und später „noch was, was nur wir Erwachsenen mögen, zum Beispiel Auberginen“.
Immer nur den einen Tag im Visier zu haben, das ist das Erfolgsrezept der achtfachen Mutter und ehemaligen Verwaltungsfachanstellten Doreen: Nach der Hausarbeit, mit der ich ab 4.30 Uhr anfange, bereite ich das Frühstück für die Kinder vor und mache die Brotdosen fertig. Um halb sieben werden die Kinder geweckt, es wird gefrühstückt, sich fertig gemacht für die Schule und den Kindergarten. Um 8 Uhr bringe ich Leonie und Shania in den Kindergarten. Danach heißt es dann, die Kleinsten zu versorgen und das Mittagessen vorzubereiten, es folgen Wäsche, Arztbesuche, andere Termine. Ungefähr um 13 Uhr kommen die Beiden aus dem Kiga und die Schule ist beendet. Nachmittags ist natürlich die Freizeit zu organisieren, ich muss am Fußballfeld stehen und Julians Mannschaft anfeuern oder mit den Kindern spielen. Nach dem Abendessen und Duschen, wenn alle im Bett sind, geht es mit der restlichen Hausarbeit weiter. Wenn dann aber alle selig in ihren Betten schlummern und ich noch mal bei jedem gucken gehe und sie alle zudecke, dann ist es ein total schönes Gefühl. Und ich bin stolz darauf, den Tag wieder mal gemeistert zu haben.“
Viele Geschwister – Fluch oder Segen?
Reicht die Liebe der Eltern? Geht das einzelne Kind nicht unter? Leiden die Kinder nicht, wenn sie Kleidung auftragen müssen? Solche Fragen stellen sich Viele, wenn sie einer Großfamilie ansichtig werden. Doreen ist sich aber sicher, dass Kinder von vielen Geschwistern nur Gutes mitnehmen: „Natürlich lernen Kinder mit vielen Geschwistern voneinander viel mehr. So konnten unsere Kinder alle mit 18 Monaten allein essen, mit zwei Jahren sogar mit Messer und Gabel. Auch das Durchsetzungsvermögen, das Selbstbewusstsein und die Hilfsbereitschaft sind stärker ausgeprägt.“ Susanne und Stefan S. können da nur zustimmen: „Unsere Kinder sind außerdem auch gar nicht sehr auf einen Bruder oder eine Schwester fixiert. Sondern suchen sich je nach Aktivität den passenden Spielpartner.“ „Natürlich hat man für das einzelne Kind weniger Zeit“, so Vierfachmutter Juliane F. „Aber man hat deshalb keineswegs weniger Liebe. Die Liebe würde für beliebig viele Kinder reichen.“ Wenn sie aber spürt, dass sich eines der Kinder momentan zu kurz gekommen fühlt, sucht sie Lösungen: „Letztes Jahr hatte ich den Eindruck, dass einer meiner Söhne längere Zeit nicht so recht glücklich war. Wir haben dann ein verlängertes Mutter-Sohn-Wochenende in der fränkischen Schweiz gemacht. Das hat unheimlich viel bewirkt, unser ganzes Verhältnis hat sich sehr verbessert. Vorher war er eher ein Papa-Kind gewesen.“
„Musste das sein?“ - Die Kommentare der anderen
„Dass die Kleinen den Größeren manchmal Sachen kaputt machen oder durcheinander bringen, dass die Großen zur Mittagszeit leiser sein müssen, dass man manchmal teilen muss“: Leon (10), Noah (7), Romy (4 ½) und Fiona (2) sehen zwar schon ein paar Nachteile. Trotzdem freuen sich die Kinder von Susanne und Stefan S. alle schon sehr auf ihr fünftes Geschwisterchen, das bald ankommen wird. Marion und Marco K.s Sohn Moritz (11) findet es nicht so gut, dass die Aufmerksamkeit der Eltern zwischen vier Kindern geteilt werden muss. „Und dass meine kleinen Geschwister immer mit meinen Spielsachen spielen.“ Er fordert jetzt ein Schlüssel für sein Zimmer, um abschließen zu können, wenn er nicht zu Hause ist. „Das billigen wir ihm auch zu“, sagt Marion. „Dass unsere Kleineren aber beispielsweise die Sachen von den Größeren auftragen, stört sie nicht, denn ich behalte immer nur die guten Sachen“. Fabienne und Andreas F. achten bewusst darauf, dass jedes Kind genug Aufmerksamkeit bekommt: „Wir machen abwechselnd etwas mit den Kindern, damit jedes mal ein Elternteil für sich hat.“ Kleine materielle Einschränkungen sehen sie nicht negativ: „Ab und zu die Kleider aufzutragen, finden die Kinder nicht schlimm. Und Geschenke kriegen sie auch so noch zuviel. Heute hat man ja alles im Überfluss“, so die Eltern von Justin (8), Michelle (6) ,Andrina (4) und Lia (1). Simone (28) und Jürgen (44) P.s vier Kinder sind noch zu klein, um sich über Nachteile zu beschweren. „Aber es kann nicht so schlimm sein, da sich unser Großer (Johann, 5) noch mehr Geschwister wünscht!“, sagt Simone aus Jiedlitz.
„War das ein Unfalll?“ musste sich Simone aber durch die Blume fragen lassen, als sie mit dem dritten Kind schwanger war. „Beim Vierten hat das keiner mehr gefragt, da war es wohl klar, dass es gewollt ist“, so Simone. Katja P. (32) und Stefan (41) aus der Nähe von Bayreuth haben jedoch zu ihren fünf Kindern auch schon Kommentare gehört, wie: ‚Oh Mann, man hat doch heutzutage nur ein Kind, am besten aber sogar gar keines und dafür lieber einen Hund’. „Die alten Leute aber freuen sich oft, wenn sie uns sehen und erzählen von ihrer Kindheit mit ihren vielen Geschwistern.“ Doch auch vier Kinder geben nach Beobachtung von Marion (33) und Marco (31) K. aus Lüchow-Dannenberg schon manchen Menschen Anlass für abschätzige Reaktionen: „Oft wird hinter unserem Rücken getuschelt oder es wird mit dem Kopf geschüttelt, obwohl meine Kinder immer gepflegt sind und man uns keinesfalls als asozial einstufen würde. Die Kommentare in der Familie, von Freunden und Bekannten fielen da auch sehr unterschiedlich aus: Die einen waren sauer und redeten erstmal zwei Wochen kein Wort mehr mit uns, wenn ich schwanger war. Sie meinten, das wäre doch ‚zu vermeiden’ gewesen. Oder: ‚So viele Kinder, musste das denn sein?’. Andere wieder freuten sich von Anfang an mit uns.“
„Ich habe noch keine negativen Kommentare gehört“, berichtet Juliane. Wenn ich mit vier Kindern allein in der Stadt unterwegs bin, kommt es schonmal vor, dass die Leute neugierig schauen.“ Es war eher die Verwandtschaft, die anfangs verwundert war: „Meine eigene Familie reagierte auf das dritte Kind mit Erstaunen, beim vierten Kind dagegen schon ganz entspannt. Mein Mann ist Chilene, dort ist das Kinderkriegen immer sehr positiv besetzt, also ganz anders als bei uns. Seine Familie hat sich deshalb immer gleich gefreut.“ Auch Doreen und ihr Mann erleben überwiegend freundliche Reaktionen: „Hier im Dorf bewundern die Leute oft, wie wir es schaffen, dass die Kinder immer ordentlich sind. Im Urlaub gab es schon Leute, die es witzig fanden, unsere kleinen Mäuse laut durchzuzählen. Da hat mein Mann dann gesagt ‚Ja, Sie haben richtig gezählt!’“. Negative Kommentare kommen eher aus der Familie: „Da wir überwiegend Mädchen haben, kommen dann schon so Sprüche wie, dass wir nun mal langsam aufhören können, es werde eh kein Junge mehr.“
Genug Platz – für Kinderreiche ein Luxus
Wer mit großem Tross durchs Leben zieht, hat es in Deutschland schwer, denn Wohnungen sind hierzulande meist im 08/15-Maß, heißt: nur für zwei Kinder gebaut. Wer sechs Zimmer oder mehr braucht, kann lange suchen. Für Doreen, Jens (38) und ihre acht Kinder muss es schon ein Restbauernhof sein, damit alle Platz finden. „Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, was uns sehr wichtig ist, damit jedes Kind seine Rückzugsmöglichkeiten hat. Trotz allem werden wir im nächsten Frühjahr bauen. Wir bekommen als kinderreiche Familie von der Gemeinde ein Grundstück geschenkt“, berichten sie. „Wir bräuchten auf jeden Fall auch ein Haus, aber wir haben nicht genug Eigenkapital, deshalb wohnen wir in einer Mietwohnung“, erzählt Juliane. „Unsere beiden Jüngsten müssen sich da ein Zimmer teilen“. Simone und Jürgen haben mit ihren vier Kindern zwischen drei Monaten und fünf Jahren ebenfalls einen kleinen Bauernhof. „Wir haben Bienen, Kaninchen, Hühner und dadurch ab und zu einen kleinen Dazuverdienst. In den Urlaub fahren können wir nicht unbedingt, auch durch die Tiere. Aber wir machen schon mal einen Tagesausflug mit Picknick.“ Stefan und Katja haben gebaut, obwohl auch sie sparen müssen. „Aber das kommt uns immer noch günstiger als eine Miete. Dafür machen wir nur einmal im Jahr auf einem Bauernhof Urlaub in der Ferienwohnung. Wir haben uns außerdem einen billigeren Stromanbieter gesucht und auch preiswertere Versicherungen“, erzählt die fünffache Mutter und gelernte Bäckereifachverkäuferin, die stundenweise putzt, um das Budget aufzubessern.
Lebensqualität jenseits von Konsum und Markenklamotten
„Die Kinder tragen keine Markenklamotten. Wir fahren nur eine Woche in den Urlaub pro Jahr, zusätzlich gibt’s manchmal ein verlängertes Wochenende. Kinderkleidung kaufe ich oft secondhand auf einem Basar, an Fahrrädern kaufen wir qualitativ hochwertige, aber gebrauchte Räder“, berichtet Juliane. Fabienne (27) und Andreas F. (28) gönnen sich mit ihren vier Kindern zwar mehrere Urlaube im Jahr, sparen aber, indem sie im Wohnwagen übernachten. „Bücher und Spiele für die Kinder holen wir außerdem in der Bücherei. Wir machen auch viele Ausflüge, da gehen wir Wandern und Grillen - das ist auch nicht teuer und macht allen Spaß. Wir sparen auch, in dem wir im Ausverkauf Kleider, Schuhe oder Skier kaufen.“ Marion (33) und Marco K. (31) aus Lüchow-Dannenberg wohnen im eigenen Haus, sparen aber ebenfalls in vielen Bereichen: „Urlaub können wir uns momentan nicht leisten, aber zwei oder drei Tage an der See sind schon drin. Wir wohnen dann halt in einer Jugendherberge. Wir kaufen außerdem im Angebot an, vergleichen oft Preise. Und bei uns nur bei den preiswerten Discountern eingekauft, das gilt auch für Klamotten.“
Wunschzettel einer Großfamilie
Das Jammern und Klagen liegt kinderreichen Familien meist überhaupt nicht. Dennoch gibt es einige Dinge, die sie sich wünschen. Auf einen Wunschzettel an Vater Staat würden Viele zum Beispiel einen Ehe-Kredit schreiben, wie es ihn in der ehemaligen DDR gab: Man konnte ein Darlehen zur Gründung eines eigenen Hausstands aufnehmen. Je Kind wurde dann ein Teil der Rückzahlung erlassen. Auch geringere Steuern und eine bessere Steuerklasse für Großfamilien einschließlich höherer Freibeträge, die Wiedereinführung der Eigenheimzulage, kostenlose Krankenversicherung, ein gestaffeltes, ansteigendes Kindergeld auch ab dem vierten Kind stünden darauf. Dass Familienkarten für Zoos oder Museen mehr als nur zwei bis drei Kinder vorsehen, eine kostenlose Haushaltshilfe für einige Stunden pro Woche kommt, es kostenlose Schulbücher bzw. kostenfreies Schulessen gibt – das sind weitere unerfüllte Wünsche derjenigen Familien, die dem ungünstigen demografischen Wandel (zu wenige Kinder, zu viele Rentner) den Mut zu einer großen Kinderschar entgegenstellen.