5 Gründe, warum Eltern faul sein dürfen
Damit ihre Kinder es im Leben weit bringen können, setzen Eltern sich rund um die Uhr eifrig für sie sein. Dabei lohnt derartiger Stress kaum, und auch Ängste sind oft unnötig. Fünf gute Gründe, sich mehr zurücklehnen und auf das Leben vertrauen.
Alle wollen nur das Beste
Wir lieben unsere Kinder, wollen nur das Beste für sie, dass es ihnen an nichts fehlt, dass sie glücklich sind, gern auch erfolgreich. Und wir wissen: Dafür brauchen sieAufmerksamkeit, Zuwendung, Unterstützung, Begleitung. Doch in der Praxis schießen wir zunehmend über das Notwendige und Angemessene hinaus: Wir schenken unseren Kindern nicht nur Aufmerksamkeit – wir lassen sie nicht aus den Augen, damit ihnen ja nichts passiert. Wir unterstützen sie nicht nur – wir halten möglichst alle Anstrengungen von ihnen fern. Wir begleiten sie nicht einfach – wir setzen auf maximale Förderung, immer früher, besser, mehr.
Eigene Erwartungen, Wünsche, Ängste plus gesellschaftliche Ansprüche
„Kinder werden heutzutage viel mehr geplant, sie werden zum Gesamtkunstwerk“, bestätigt Josef Kraus, Direktor eines Gymnasiums, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Autor des Buches „Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“. „Eltern bekommen später Kinder und weniger, auf diese konzentriert sich alles, wird alles projiziert, hier soll alles klappen“, nennt er einige wesentliche Faktoren für diesen Trend. Gleichzeitig „lastet auf den Eltern ein immenser gesellschaftlicher Druck, dass aus jedem der wenigen Kinder auch etwas werden muss“, ergänzt die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Luise Behringer, Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München in Benediktbeuren.
5 gute Gründe für mehr Muße in der Erziehung
So mögen uns unser unermüdlicher Einsatz und ausgeprägter Schutzinstinkt für diese wertvollen Wesen logisch und richtig erscheinen. Und doch fallen sie eher unter das zweifelhafte Prädikat „gut gemeint“: Sie basieren auf Fehlannahmen, und auch deshalb fruchten unsere Bemühungen längst nicht in dem Maße, das wir uns davon versprechen. Schlimmer: Sie haben auch negative Auswirkungen. Ein bisschen mehr Faulheit und Muße lohnen bewiesenermaßen viel mehr, denn:
1. Ängste sind meist unbegründet
Bedrohungen scheinen allgegenwärtig, für das körperliche Wohl unseres Kindes – Es könnte doch was passieren! – ebenso wie für sein zukünftiges Glück. „ Aber Angst ist immer ein schlechter Ratgeber“, sagt Josef Kraus. „Rational betrachtet sprechen alle objektiven Daten dagegen, dass Kinder gefährlicher leben als früher. Das sind letztlich oktroyierte Verzerrungen, die da entstehen, auch durch Medienberichte.“ In der Regel, in der Masse, gehen selbst riskantere Situationen doch glimpflich aus, mit einer Schramme, einem Schrecken. Und wie oft passiert – gar nichts!
Auch ein weiterer mächtiger Motor elterlichen Überengagements, „die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg, ist nicht begründbar. Der Zug ist keinesfalls abgefahren, wenn ein Kind nicht aufs Gymnasium geht, es gibt keine Sackgassen. Auch wenn der Knoten spät platzt, sind der Karriere keine Grenzen gesetzt“, betont der Pädagoge. „Kindheit sollte nicht die Basis für überschätzte Akademikerquoten und Abrichtung für den Markt sein.“
Wenn wir unser Handeln wieder stärker an Realitäten als an gefühlten Unsicherheiten ausrichten, können wir tiefer durchatmen und gelassener agieren.
2. Kontrolle und ständige Einmischung frustrieren – und machen krank
Immer für das Kind da sein, alle Mühen abnehmen, jeden Schritt überwachen, alles vorkauen: Was bleibt da noch für das Kind zu tun?
Das geht schon im simplen Spiel los: Statt selbst zu entdecken, was alles mit Bauklötzchen anzufangen ist, geben Erwachsene unmotiviert Eisenbahnen vor, wo das Kind doch grad friedlich Türmchen baut. „Solche Eingriffe, das ständige Drängen auf das Nächste, frustrieren Kinder, sie verlieren die Lust am Ausprobieren und hören auf. Es hat doch eine ganz andere Wirkung, wenn das Kind etwas selbst entdeckt, als wenn es nur nachmacht“, gibt Entwicklungspsychologin Behringer zu bedenken. „Es braucht kein Gegenüber, das ständig sagt, mach mal so oder so. Was nötig ist und reicht, ist ein Gegenüber, das Interesse zeigt, sich mitfreut und gerade soviel Unterstützung gibt, dass ein Kind aus eigener Kraft den nächsten Schritt schafft und so, ganz wichtig, seine Selbstwirksamkeit erfahren kann.“ Und ein Gegenüber, das die Erfahrung zulässt, dass nicht immer alles geht, dass jeder mal an Grenzen stößt. „ Kinder müssen lernen, mit Frustrationen umzugehen und erfahren, dass solche Situationen kein Weltuntergang sind. Oft finden sie das selbst auch gar nicht so schlimm, wie Eltern aus ihrem eigenen Gefühl heraus denken.“
3. Förderung wird überschätzt
„Unsere moderne Pädagogik macht weis, man kann aus jedem Kind alles machen“, kritisiert Josef Kraus, und so schauen Eltern oft eher darauf, wer ihr Kind sein könnte, als wer es wirklich ist, und erwarten Wunder von Fördermaßnahmen, die sich kaum erfüllen können.
„Der heutige Stand der Entwicklungspsychologie ist, dass Menschen eigenaktiv sind, sich aus sich selbst heraus entwickeln“, erklärt Prof. Behringer. „Ja, sie bringen Anlagen mit und leben in einer bestimmten Umwelt, die sich förderlich oder hinderlich auf ihre Entwicklung auswirken kann. Aber Kinder entscheiden auch mit, was sie von den Angeboten aus ihrer Umwelt aufgreifen. Sie haben einen inneren Bauplan, den wir unterstützen können, aber nicht beschleunigen.“ Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht, „und so ist aus Perspektive der Kinder das Engagement der Eltern oft zuviel.“
Und obendrein ineffektiv: Musikbeschallung für den Babybauch, weil das klug machen soll? Unsinnig – der sogenannte „Mozart-Effekt“ auf Babys ist ein Mythos. Fremdsprachenlernen schon im Krabbelalter? Nutzlos – von einem wöchentlichen Kurs bleibt bei einem Kind nichts hängen, dafür müsste es schon konsequent zweisprachig erzogen werden.
Das Argument, Förderung sei für den späteren beruflichen Erfolg nötig, entschärften bereits mehrere Studien, unter anderem mit Zwillingen und Adoptivkindern, führt der amerikanische Ökonomie-Professor Bryan Caplan ins Feld: Demnach haben die Förderbemühungen der Eltern nur einen minimalen und temporären Einfluss auf die Bildung und den Erfolg der Kinder, perspektivisch dominiert die Macht der Natur über die Erziehung. Allerspätestens, wenn die Kinder erwachsen sind und völlig auf ihren eigenen Beinen stehen, verpufft der Effekt der elterlichen Bemühungen. Dafür hat man sich dann jahrelang abgerackert, die Kinder getriezt, sich das Leben schwer gemacht.
4. Förderwahn macht Kinder krank
Vielleicht werden die Kinder, erwachsen, einmal verstehen, was Eltern zu ihrem Engagement getrieben hat, dass sie das Beste für ihr Kind wollten. Doch in erster Linie birgt es die Gefahr, „dass Kinder zu sehr als Objekt gesehen werden, das zu funktionieren hat, und dass sie es schmerzlich spüren, wenn Mama und Papa fürchterlich enttäuscht sind, wenn sie deren Erwartungen nicht erfüllen, was wiederum Erwartungsängste auslöst“, hat Josef Kraus in langjähriger Tätigkeit als Schulpsychologe von Heranwachsenden erfahren.
Kinder, die ständig umsorgt und kontrolliert werden, zeigen als junge Erwachsene zudem ein deutlich höheres Risiko für Depressionen, zeigen Studien: Die Abhängigkeit von den Eltern, das daraus entstehende Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit und Inkompetenz, weil die Eltern ihnen offenbar nichts zutrauen, drückt die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben erheblich. „Kinder müssen die Chance haben, Vertrauen in ihr eigenes Tun und die eigene Gestaltungskraft entwickeln, die Chance, auf etwas stolz sein zu können. Das geht nicht, wenn immer alles von den Eltern geregelt wird“, bekräftigt Josef Kraus.
Nicht zu vergessen: So, wie entspannte Kinder glücklicher und gesünder sind als die permanent gehetzten, gilt das auch für Eltern.
5. Ruhe und Muße sind gesund und legen Kreativität frei
In seinem Buch „Selfish Reasons To Have More Kids“ plädiert Wirtschaftsexperte (und Vierfachvater) Caplan dafür, sich stets drei Fragen zu stellen, bevor man anfängt, etwas für sein Kind zu tun: Macht es mir Spaß? Macht es meinem Kind Spaß? Bringt es einen langfristigen Nutzen? Wenn nicht, kann man es lassen – das ist nicht nur einfacher, sondern auch sinnvoller: „Zu entspannen, wenn sich eine Mühe nicht auszahlt, ist nicht faul, sondern eine weise Entscheidung, sich wertvolle Anstrengungen aufzusparen.“ Besser als auf die Zukunft zu schielen, sei es demnach, das Hier und Jetzt mit den Kindern zu genießen, denn Erziehung sollte nicht schwere, stressige Arbeit sein und Familienzeit sollte als Freizeit betrachtet werden – die Wissenschaft gäbe Eltern jedes Recht, sich mehr zurückzulehnen.
Auch Josef Kraus argumentiert für ein ruhigeres Leben, das Kindern die Möglichkeit bietet, sich selbst zu reflektieren und zu finden: „Es sind glücklichere Kinder, die man nicht diesem Machbarkeitswahn, dieser Planung, der Beschleunigung unterwirft. Das werden kreativere Menschen, denn Muße und Müßiggang sind Voraussetzungen für die Entwicklung von Kreativität und Natürlichkeit. Sonst werden aus den Kindern nur Funktionsfuzzis.“
Müßige Eltern und Kinder: Anregungen für ein schöneres Familienleben
Im englischsprachigen Raum sind rund um den Grundgedanken, runterzuschalten, die Kinder in Ruhe zu lassen, auf das Leben zu vertrauen statt sich permanent Sorgen zu machen, inzwischen regelrechte Bewegungen entstanden: die müßigen Eltern („Idle Parent“) des Briten Tom Hodgkinson, das „Slow Parenting“, unter dem sich die Gedanken von Carl Honoré, ebenfalls Engländer, verbreiten, „Slow Family Living“ oder auch „Free-Range Children“. Das ist zwar alter Wein in neuen Schläuchen, meint Prof. Behringer, „dass man den Alltag von Kindern nicht durchtakten sollte mit Kursen, dass sie auch Zeit brauchen zu spielen, sich zu entfalten“, aber wer noch nach Praxisanregungen sucht, wird sie unter diesen Stichworten sicher finden.
Bummeln, während ringsum alle auf der Überholspur unterwegs sind?
Und das Gefühl bekommen, mit dem Wunsch nach einem ruhigeren Leben nicht allein zu sein. Denn gegen den Strom zu schwimmen, während ringsum allgemeine Förderbegeisterung herrscht, ist schwer – auch weil das eigene Kind nicht immer außen vor bleiben will. „Wenn alle zum Kurs sind und es hat niemanden zum Spielen, wird das Kind auch zum Kurs wollen“, sagt Prof. Behringer. Sich hier strikt zu verweigern, tut ebenso wenig gut, wie jeden Tag ein Programm abzuspulen.
Am allerbesten wäre es, aktiv nach Gleichgesinnten zu suchen, in der Kita, in der Schule, in der Nachbarschaft, raten sowohl Prof. Behringer wie auch Josef Kraus. Kurse und Ratgeber halten beide nur für eingeschränkt hilfreich. „Angemessen sind solche, in denen Eltern nicht alles nur erzählt bekommen, sondern selber entdecken können“, so Prof. Behringer. Überhaupt sei es das Wichtigste, dass Eltern wieder zu ihren intuitiven Kompetenzen zurückfinden. „Die gehen verschüttet, wenn ich nur Ratgeber lese. Aber wenn ich mich darauf einlasse, mein Baby zu beobachten, dann kann ich das wieder freilegen.“
Und, so Josef Kraus mit einem Augenzwinkern: „Als mich mal eine Mutter fragte, was sie selbst gegen ihre Helikoptererziehung tun kann, hab ich gesagt: ein zweites und drittes Kind anschaffen.“ Mehrere Kinder reduzieren nicht nur die Quantität an Aufmerksamkeit für jeden Einzelnen auf ein natürlicheres Maß – sie bringen auch die Erkenntnis: Meine Erziehung hat nicht auf alle die gleiche Wirkung, jedes Kind ist eben anders. Und geht, vielleicht halt mal mit Umwegen, auch ohne ständiges Umkreisen und Anschubsen seinen Weg.
Zum Weiterlesen
- Wolfgang Bergmann: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung.
- Tom Hodgkinson: Leitfaden für faule Eltern.
- Carl Honoré: Kinder unter Druck. Rettet die Kindheit vor Schule und Übereltern.
- Josef Kraus: Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung.
Auf Englisch
- Susan Sachs Lipman: Fed Up with Frenzy. Slow Parenting in a Fast-Moving World.
- Kim John Payne: Simplicity Parenting. Using the Extraordinary Power of Less to Raise Calmer, Happier, and More Secure Kids.
- Lenore Skenazy: Free-Range Kids. How to Raise Safe, Self-Reliant Children (Without Going Nuts with Worry).