Kein kleiner Einstein
Turnen, malen, kleben, schneiden, matschen, Fahrrad fahren? Felicitas Römers jüngster Sohn findet alles das wunderbar - wenn es andere tun und er dabei zusehen kann. Ein besorgniserregender Fall?
Wie sich mein Sohn gut gemeinten Frühförderplänen erfolgreich widersetzt und einfach ein ganz normaler Junge sein will
Als mein jüngster Sohn noch sehr sehr klein war, ging ich mit ihm zu einem Baby-Massage-Kurs. Ich legte ihn auf ein kuscheliges Schaf-Fell, und wenn er nicht gerade hungrig oder müde war, genoss er diese Extra-Streicheleinheiten. Glaube ich jedenfalls, denn sagen konnte er es ja nicht. Da er aber er lachte und strampelte, interpretierte ich das als Freude. Beim Pekip-Kurs zeigte er sich genau so begeistert von den fließenden Tüchern, bunten Bällen und Luftballons wie alle anderen nackigen Wonneproppen auch.
Mit Vergnügen stummer Zuschauer
Als mein Nesthäkchen mit drei Jahren in die Kita kam, nahm er freiwillig weder Schere noch Knete noch Pinsel in die Hand. Lieber schaute er seinen Altersgenossen und -genossinnen geduldig beim emsigen Basteln, Kleben und Matschen zu. Auch das Plaudern gehörte seinerzeit nicht zu seinen Lieblingstätigkeiten. Wozu den Mund aufmachen, wenn man sich doch mit Kopfnicken oder -schütteln verständigen kann?
Er mache durchaus einen fröhlichen Eindruck, sagten die Erzieherinnen zwar. Und dennoch zeigten sie sich besorgt. Eine fürchtete, er habe schlechte Ohren. Die Sprachentwicklung meines Sohnes, beteuerte eine andere, sei noch nicht besorgniserregend. Und sie empfahl mir, Söhnchen in eine ergotherapeutische Förder-Gruppe zu geben. Von nun an durfte er sich mit anderen ausgewählten „Spätentwicklern“ einmal wöchentlich im Bällebad suhlen oder ausgiebig mit Wasser plantschen. Dass er sich auch hier zurückhaltend zeigte, wunderte mich nicht. Schließlich war sein älterer Bruder auch lange der Typ „Beobachter“ gewesen und der besucht mittlerweile erfolgreich das Gymnasium. Ich sah keinen Handlungsbedarf und übte mich in Gelassenheit.
Die Pädagogen im Kindergarten sahen das anders: „An der Feinmotorik müssen wir noch arbeiten. Der Kleine hält ja den Stift noch ganz falsch!“, sagte eine dritte Erzieherin ein paar Monate später. Es klang fast vorwurfsvoll. Er solle zu Hause häufiger etwas ausschneiden, malen und möglichst viel kneten. Na gut, ich probierte es immerhin. Mit Piraten-Malbüchern, Kreiden und dicken Buntstiften, mit Zick-Zack-Scheren und farbenfrohen Playdoo-Dosen. Sein Interesse hielt höchstens zwei Minuten, dann wurde er unruhig und wandte sich inbrünstig seinen Matchboxautos zu.
"Lassen Sie Ihn oft kneten"
Im zarten Alter von vier wurde er von der Grundschule zu dem obligatorischen Sprachtest einladen. Zwei fremde Damen versuchten ihn wortreich zu überreden, mit ihnen zu kommen, in einen Raum, der ihm ebenso fremd war. War ja klar, dass mein Süßer sich mindestens zehn Minuten an meinem Bein festklammerte, bis die Lehrerinnen den Unglücklichen mit Hilfe eines Bilderbuches endlich weglotsen konnten. Nach 20 Minuten kritischer Überprüfung meines Kindes durfte ich mir schließlich das Ergebnis anhören: „Mit der Feinmotorik hat er noch ziemliche Probleme. Schneiden kann er ja fast gar nicht. Und er weiß auch noch nicht, ob er lieber mit rechts oder links malen will.“, fassten die Pädagoginnen ernsten Blickes zusammen. Und dann – Sie ahnen es schon! – folgte der ultimative Tipp: „Lassen Sie ihn oft kneten!“ „So ein Quatsch“, meinte meine Lieblingserzieherin: „Das müssten die doch wissen, dass das bei Jungen manchmal ein bisschen länger dauert!“ Und meine Freundin – selber gestandene Grundschullehrerin – lachte laut auf: „Dass du jetzt bloß den armen Kerl nicht ständig mit Knete nervst!“
Das tat ich auch nicht. Statt ihn zu regelmäßigen Bastelstunden zu nötigen, ging ich mit ihm zur Turnstunde. „Möchtest du nicht auch mal über die Bank klettern?“, fragte der Trainer ihn freundlich. Nein, wollte er nicht. Er wollte auch keinen Purzelbaum ausprobieren und schon gar nicht „Plumpsack“ spielen. Er wollte einfach nur bei Mama auf dem Schoß sitzen und den anderen Kindern zuschauen, die fröhlich ihre motorischen Fähigkeiten schulten.
Zu seinem fünften Geburtstag bekam er von einer lieben Nachbarin ein gebrauchtes Fahrrad geschenkt. Er war begeistert! Draufsteigen wollte er aber nicht. Er blieb seinem Laufrad treu. Und kürzlich kramte er sogar sein klitzekleines Dreirad aus dem Schuppen hervor. Vor ein paar Tagen jedoch holte mein Sohn seine Schere aus der Schublade, um in mühseliger Handarbeit Druckerpapier in gleichmäßige kleine Dreiecke zu zerschnipseln. Fast eine halbe Stunde lang pflasterte er mein Büroparkett hingabevoll mit den kleinformatigen Ergebnissen seiner Schneidearbeiten. Dass er damit seine Feinmotorik schulte, war ihm natürlich völlig schnuppe.
Und gestern hieß es in einem Elterngespräch: „Ihr Sohn hat einen Riesensprung gemacht! Er kann sich toll ausdrücken, sich gut konzentrieren, er klettert viel und hat neue Freunde gewonnen. Und schneiden kann er mittlerweile auch ganz gut.“ Na also, geht doch: ganz ohne Nachhilfe in Malen und Kneten!