Keine Kühlung für das Fußball-Fieber
Es existiert, das Fußball-Gen, und kommt vor allem in unserem männlichen Nachwuchs zur Ausprägung. Wie aber überzeugt eine Mutter ihre zwei Söhne während der WM, dass auch Hausaufgaben nicht ganz unbedeutend sind?
Jungs haben es wirklich - das Fußball-Gen
Bisher nahm ich es gelassen, dass es dem Schicksal gefallen hat, mir zwei Male ein kleines Wesen vom Mars in die Wiege zu legen. Okay, zwei Jungs, was soll's, ein wenig mehr Raum zum Toben, etwas intensivere Kämpfe um das abendliche Reinigungs-Ritual, und außerdem bleibt mir der Enthusiasmus für die Farbe Rosa, für Diddl, Barbie und Pferde erspart. So what? Was Jungs zu haben aber in allererster Linie bedeuten kann, das hätte ich auch meiner besten Freundin nicht geglaubt. Jungs, das weiß ich jetzt, sind verrückt, sind süchtig, sind absolut einseitig und nur auf eins fixiert: auf Fußball!
Statt eines freundlichen Morgengrußes schleudert mir mein Erstgeborener ein knappes "Zweieins" entgegen. Wie? Was? Worum geht es? Mensch Mama, natürlich um die Champions-League-Begegnung von Bayern München und Borussia Dortmund gestern Abend, wie kann frau auch so schwer von Begriff sein? Und Ribéry, dieser französische Witzbold, hat mal wieder richtig aufgedreht auf dem Platz. Ist ja auch kein Wunder, wenn erstmals zwei deutsche Mannschaften und dazu die härtesten Bundesliga-Rivalen in diesem internationalen Finale stehen. Und hast Du gehört, jetzt streiten die schon wieder um Mezut Özil. Wenn der Löw den nicht mit nach Brasilien nimmt, haben wir die WM doch jetzt schon verloren, geht die Stehgreif-Analyse zu Ende. Aha, na, das fängt ja wieder gut an, und was möchtest du frühstücken und hast du auch an dein Matheheft gedacht, so der mütterlich-ambitionierte Versuch, das Gespräch auf die wahrhaft bedeutsamen Themen des Lebens zu lenken. Mama, dürfen wir bei der WM alle Spiele gucken?, zerreißt der jüngere der beiden Ball-Verliebten meinen gerade gesponnenen Gesprächsfaden. Welt-meister-schaft, Mama, das ist doch was gaaaanz Besonderes, da muss man doch alles gesehen haben!
Anpfiff beim Aufwachen
So oder so ähnlich startet jeder Tag. Kaum hat einer der beiden Knaben die Augen aufgetan, geht es in medias res. "Wenn Kießling jetzt noch ein Tor schafft, ist er Torschützenkönig der Bundesliga", lautet etwa ein typischer erster Satz meines Jüngsten am Morgen. Oder er formt Halbsätze wie diesen: "Mama, war null langweilig, druckvolles Offensivspiel, jede Menge Glanzparaden!" Worte wie Lupfer, Grätschen, Übersteiger, Tunneln und Abziehen perlen ihm bei jeder Gelegenheit lustvoll über die Lippen, begleiten alle unsere Mahlzeiten und sonstigen Kontakte über den Tag, bis er am Abend die Augen schließt, nicht ohne vorher mit ernstem Gesicht kundzutun: "Bayern München ist die Mannschaft mit der besten Offensive und Köln die mit der schlechtesten Defensive!" Punkt, und dann Gute Nacht.
Nun gut, ich habe mich daran gewöhnt, dass jeder Gesprächsanlass, egal von welchem Ausgangspunkt, über geheimnisvolle Umwege stets, aber unter Garantie wieder hin zum runden Leder führt. Ich finde nicht mehr viel dabei, dass Taschengeld nur dafür da zu sein scheint, Trikots, sündhaft überteuerte Fanartikel, Fußballsticker oder einschlägige Magazine zu erwerben und diese einer Bibel gleich von der ersten bis zur letzten Zeile gleichsam zu inhalieren. Es ist mir nicht mehr neu, dass mein Jüngster, wenn er gerade einmal nicht von den Ballkunststückchen eines Cristiano Ronaldo schwärmt, pausenlos die Geräuschkulisse eines Stadions stimmlich zu simulieren sucht und sich auf dem Weg vom Ess- ins Badezimmer mehrere Male wie ein waschechter Manuel Neuer mit weit ausgestreckten Armen zu Boden wirft. Es ist inzwischen Alltag geworden, dass es für meine einst durch ihre vielseitigen kreativen Interessen zu mancherlei Hoffnungen Anlass gebenden Söhne heute nichts Schöneres mehr gibt, als am PC zwei virtuelle Mannschaften in täuschend echten Stadien gegeneinander antreten zu lassen und zum Beispiel per Tastendruck jedem Spieler seine ganz individuelle und höchst ausdrucksstarke Jubelgeste zuzuweisen. Und es amüsiert mich zuweilen, mit welcher Ehrfurcht sich meine Brut am frühen Samstagabend vor dem Fernseher einfindet, um gemeinsam die wichtigste Kulthandlung der Woche zu vollziehen: der ARD-Sportschau beizuwohnen.
Türöffner für Männerbünde
Manchmal kann ich dem ganzen Brimborium sogar etwas abgewinnen. Bin ich doch seit einiger Zeit auch in Männerrunden um Smalltalk-Themen nicht mehr verlegen. Denn ist der Gesprächsstrom einmal versiegt, reichen nur minimale Anstöße - "Ob der Abwärtstrend bei Bremen wohl so anhält?" "Hat bei dieser Dominanz von Bayern München überhaupt noch eine andere Mannschaft Titel-Chancen?" oder "Ist Neuer wirklich sicher genug, um den Kasten bei der WM sauber zu halten?"-, um gelangweilte Mienen männlicher Kollegen unversehens aufzuhellen und in ihnen das Gefühl zu hinterlassen, ein wirklich äußerst produktives Meeting gehabt zu haben. Möglicherweise werden auch die mathematischen Fähigkeiten meiner heranwachsenden Fußball-Fans geschult, wenn sie nun eingehend über Statistiken zu Kopfballtoren, Torschusshäufigkeit, Transferpreisen oder Platzverweisen brüten. Ganz zu schweigen von ihren Berufsperspektiven als Profifußballer, Schiedsrichter oder Sportmoderatoren sowie den vielfach beschworenen, durch den Kampf ums runde Leder zu erwerbenden sozialen Kompetenzen wie Fairness und Mannschaftsgeist.
Wie kompatibel sind Schule und die Fußball-WM?
Aber ganz ehrlich, eine Frage bereitet mir Sorgen. Wie kompatibel sind Schule und die immer häufiger werdenden Fußball-Übertragungen im TV? Wie werde ich alleine es schaffen, zwei enthusiastische Fußball-Fans von der Notwendigkeit zu überzeugen, rechtzeitig ins Bett zu gehen, wenn es nun bei der WM für unsere Nationalelf zu kinderfeindlichen Uhrzeiten am Abend ums Ganze geht? Wie wird es mir im Dauer-Diskurs über Gruppen, Mannschaften, Tabellen und Tor-Wahrscheinlichkeiten gelingen, Antworten auf meine Fragen nach der letzten Deutschtest-Note zu erhalten? Wie die Fußball-Maniacs davon überzeugen, dass auch Klavier- und Trompetespielen durchaus unterhaltsame Beschäftigungen sein können und woher nehme ich die Kraft und das Geschick, die beiden immer wieder angesichts schlimmer Niederlagen oder Schiedsrichter-Fehler psychologisch zu betreuen? Cool bleiben, den Ball flach halten, würden mir meine Knaben im Fußball-Jargon sicher raten oder wie Olaf Thon einmal mit der Fußballspielern eigenen Sprachgewandtheit gesagt haben soll: "Wir lassen uns nicht nervös machen, und das geben wir auch nicht zu!"