Dürfen Kinder nicht mehr nackt sein?
Ein Vater postet bei Facebook ein Foto von sich und seiner zweijährigen Tochter in der Wanne. Die Folge: Das Bild verbreitet sich rasend schnell im Internet, über den Dänen fegt ein Shitstorm hinweg. Diskutiert wird jetzt zwischen sexueller Hysterie und begründeter Vorsicht.
Eltern sind verunsichert
Mit derart heftigen Reaktionen hat der „Badewannen-Vater" mit Namen Torben Chris nicht gerechnet: Zwar macht sich der Comedian in seinen Shows gern über das anscheinende Problem seiner Landsleute mit Nacktheit lustig, dennoch dachte er sich angeblich nicht viel dabei, das Wannen-Foto auf seiner Facebook-Fan-Seite zu posten. Drei Stunden später ist das Bild 50.000-mal kommentiert und geteilt worden. In Hunderten Nachrichten wird er als „Kinderschänder" beschimpft, als „pädophil" und „pervers". Facebook löschte zwar das Foto eine Woche nach Erscheinen mit der Begründung, es „verstoße gegen die Richtlinien des Netzwerks", doch die Diskussion um öffentliche Nacktheit wird seither auch hierzulande fleißig weitergeführt.
Einerseits wird darüber zu Recht debattiert, ob solche privaten Fotos überhaupt in die Öffentlichkeit sozialer Netzwerke gehören. Der Tenor: Wer anderen derart intime und persönliche Einblicke in sein Privatleben erlaubt, ist selber schuld, wenn Menschen darauf sehr heftig und persönlich reagieren. Andererseits zeigen viele Reaktionen auch, wie groß der Grad der Verunsicherung vieler Eltern inzwischen darüber ist, wie viel Nacktheit und Vertrautheit zwischen Eltern und Kindern in Ordnung ist. Vielleicht ist ja die Zeit wieder einmal reif für eine Grundsatzdebatte, der nach dem Aufreger-Anlass etwas mehr Tiefgang gut tun würde. Anscheinend haben viele Menschen in unserer sexualisierten Gesellschaft das richtige Maß für Sexualität verloren und wissen nicht mehr, was normal ist. Außerdem wird vielfach das Gefährliche der Sexualität stark in den Mittelpunkt gestellt – von übergriffiger Nähe über Risiken für Krankheiten bis hin zur sexuellen Belästigung und sexuellem Missbrauch.
Streit um nackte Kinder in der Öffentlichkeit
Was ist denn eigentlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschehen, dass vom ehemals natürlichen Umgang mit Nacktheit nichts mehr übrig geblieben ist? Wir Eltern von heute erinnern uns noch gut: Was in unserer Kindheit in den 1970er und 80er Jahre noch selbstverständlich und kein Thema war, ist heute ein No-Go! Wer sein Kleinkind im Sommer nackt im Park oder im Schwimmbad herumlaufen lässt, erntet heutzutage besorgte Blicke oder wird sogar ermahnt. Wie etwa in einem Düsseldorfer Schwimmbad, wo eine Mutter ihrem zweijährigen Jungen keine Badehose anziehen wollte und deshalb gehen musste. Die Bädergesellschaft beeilte sich anschließend zu betonen, es sei vorranging nur um Hygiene gegangen - aber auch um den Schutz des Kindes. Doch müssen nackte Kinder heute mehr geschützt werden als noch vor 20 oder 30 Jahren?
Stärkeres Bewusstsein für Kindesmissbrauch
Wenn Experten versuchen, die Hysterie angesichts nackter Tatsachen im Netz und in der Öffentlichkeit zu erklären, spielen dabei auch bekanntgewordene Missbrauchsskandale um angesehene Persönlichkeiten wie den SPD-Politiker Sebastian Edathy, Leitung und Lehrer der Odenwald-Reformschule und zahlreiche Seelsorger der katholischen Kirche eine Rolle. „Diese Fälle und deren Endlosaufbereitung in den Medien haben viele Menschen so verunsichert, dass sie Gefahren sehen, wo keine sind", sagt der Frankfurter Sexualwissenschaftler Professor Volkmar Sigusch. Damit keine Missverständnisse entstehen: Es ist gut, wenn die Öffentlichkeit nicht wegschaut, einen lebhaften Diskurs führt und Sexualstraftaten auch entsprechend geahndet werden. So beschloss das deutsche Parlament im Jahr 2015 denn auch eine Verschärfung des Sexualstrafrechts. Nach aktueller Rechtslage ist es jetzt zum Beispiel auch strafbar, Kinder und Jugendliche nackt zu fotografieren, um die Aufnahmen zu verkaufen oder zu tauschen.
Zahl der Straftaten ist rückläufig
Dennoch zeigt aber ein Blick auf die Fakten, dass die Anzahl der Sexualdelikte an Kindern in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Laut Bundesamt für Statistik ist die Zahl von 2.484 verurteilten Straftaten seit dem Jahr 2007 stetig gesunken und auf 2.062 Fälle im Jahr 2013 zurückgegangen. Die Statistik des Bundeskriminalamtes spricht eine ähnliche Sprache: Demnach wurden im Jahr 2013 insgesamt 14.877 Taten registriert, das ist ein leichter Rückgang von 1,8 Prozent gegenüber 2012. Insbesondere die Zahl der Opfer unter sechs Jahren ist rückläufig: Waren 2012 noch 1957 Kinder von sexuellen Misshandlungen betroffen, waren es 2013 dann 1303.
Unbefangen mit nackten Kindern umgehen
Die unentwegten Diskussionen über Missbrauchsfälle haben viele Eltern vorsichtiger gemacht. Dana Urban, Sozialpädagogin von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, warnt dennoch davor, mit der Vorsicht die Unbefangenheit zu verlieren. Kinder ziehen sich ab einem gewissen Alter einfach aus und laufen nackt herum, das sei wichtig für das Körpergefühl und für ihren Drang, die Welt zu entdecken. „Sie kommen ja auch mit auf die Toilette und gucken einfach, was passiert." Als Eltern solle man keinesfalls mit „O Gott, O Gott, ziehen wir da mal etwas drüber!" reagieren. Solange es im geschützten Rahmen geschieht, könne man das Kind weiterhin nackt im Planschbecken im Garten hinter dem Haus spielen lassen. „Unbefangen an das Thema herangehen ist wichtig, das sollten Eltern sich bewahren", rät Urban. Dieser Ratschlag gelte allerdings nicht für die digitale Welt. Beim Hochladen von Filmen und Fotos ins Internet könne man nicht vorsichtig genug sein, sagt die Sozialpädagogin. Besser als die sozialen Netzwerke ist hier geschützter E-Mail-Verkehr oder eine gemeinsame Cloud.
Kita: Klare Regeln sind wichtig
Wenn man den Fall einer Mainzer Kita verfolgt, könnte man allerdings annehmen, dass zu große Vorsicht manchmal auch paranoid macht. Von einem Kita-Skandal war im Sommer 2015 die Rede. Der Vorwurf lautete, dass sich Kinder unter der Aufsicht der Erzieherinnen gegenseitig sexuell belästigt hätten. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft erhärtete sich der Verdacht im Laufe der nächsten Monate nicht. Die Vorwürfe der Eltern führten trotzdem zu Kündigungen von sieben Mitarbeiterinnen der Einrichtung. Die fühlten sich von ihrem Arbeitgeber ungerecht behandelt und klagten gegen den Rausschmiss. Waren die Anschuldigungen also nur heiße Luft? Bis heute weiß man das nicht genau.
Überwachte Kitas sind auch keine Lösung
„Solche Vorwürfe bringen die Erzieherinnen in eine sehr schwierige Situation", sagt Dana Urban. Dass sich Kinder in der Kita schon einmal ihre Genitalien zeigen oder den Körper des anderen genau anschauen, ist nicht das Problem, findet die Pädagogin. „Kinder brauchen Raum, um sich geschützt auszuprobieren und die Welt zu entdecken." Wichtig sei, dass es in der Kita klare Regeln für alle gebe. Wenn beispielsweise jemand Nein sagt, müsse das auch respektiert werden. Eltern, die sich unsicher oder unwohl fühlen, sprechen am besten mit den Erzieherinnen vor Ort über ihre Bedenken oder wenden sich an eine Erziehungsberatung. „Generell wünscht sich niemand eine Kita, die die Kinder dauerüberwacht", sagt Urban.
Vor allem die wenigen männlichen Erzieher haben es in einer solchen Atmosphäre schwer. Manche von ihnen trauen sich schon gar nicht mehr, Kindern die Windeln zu wechseln, weil sie sich sonst unter Generalverdacht gestellt fühlen. All diese Vorgänge und Entwicklungen der letzten Jahre haben den Blick auf Nacktheit von Kindern verändert. Eltern und Erzieher suchen neue Maßstäbe, um Kinder zu schützen. Dabei sollten sie allerdings nicht aus dem Blick verlieren, dass Gewalt gegen Kinder, entgegen dem medial vermittelten Bild, nicht zugenommen hat.