Sexueller Missbrauch: So schützen Sie Ihr Kind
Nachrichten über Verbrechen an Kindern, besonders sexueller Missbrauch, versetzen Eltern immer wieder Angst und Schrecken. Die stellen sich natürlich die Frage: Wie kann ich mein Kind schützen? Unser Artikel gibt Antwort.
Eltern in Angst vor Triebtätern und Pädophilen
In vielen Eltern steigt eine bislang nicht gekannte Angst auf, wenn ihr Kind erstmals alleine beim Bäcker Brötchen kauft, wenn es sich beim Spielen immer weiter vom Haus entfernt oder fortan den Weg zur Schule ohne Begleitung meistern muss. Die selbst im Kindesalter vernommenen Warnungen vor dem bösen fremden Mann, der mit Bonbons lockt, steigen aus dem Gedächtnis auf und veranlassen Eltern, ihre Kinder vor Annäherungen Fremder ausdrücklich zu warnen. Wer Kinder hat, der weiß, wie jede Nachricht von einer Entführung, einem sexuellen Missbrauch oder einem Mord an einem Kind Eltern tiefe Angst um den eigenen Nachwuchs einjagt. Diese verständliche Sorge kann zum Beispiel dazu führen, dass man den Schutz für seine Kinder noch verstärkt und ihnen immer weniger die Möglichkeit gibt, unbeaufsichtigt zu spielen und ihre Selbständigkeit auch einmal unbegleitet zu erproben und zu erweitern.
Tatsächlich weist die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundesinnenministeriums für das Jahr 2015 11.808 erfasste Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern aus. Das ergibt im Vergleich zu 2014 zwar einen Rückgang um knapp drei Prozent. Allerdings ist die Dunkelziffer gerade in diesem Bereich enorm hoch. Vera Falck, Geschäftsführerin von Dunkelziffer e.V, einem Verein, der sich um Opfer sexuellen Missbrauchs kümmert, schätzt in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, dass es sich eher um 200.000 Fälle pro Jahr handeln könnte.
Ist aber die große Angst, dass das eigene Kind zum Beispiel auf dem Schulweg Opfer eines Triebtäters wird, in diesem Maße begründet? Kann man das Kind auf brenzlige Situationen vorbereiten, damit es sich unter Umständen gegen einen Missbrauchsversuch wehren kann? Und sehen besorgte Eltern die Gefahr eigentlich an der richtigen Stelle – nämlich beim
fremden Mann, der sich wahllos ein Opfer sucht?
urbia befragte hierzu den Oberstudienrat, Autor und Lehrbeauftragten Willy Hane, der im WEKA-Verlag den Ratgeber "Sexueller Missbrauch von Kindern. Diagnose und Prävention" veröffentlicht hat.
Täter meist aus dem Verwandten- und Freundeskreis
Man geht heute davon aus, dass jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebte bis achte Junge Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Was genau wird unter sexuellem Missbrauch verstanden?
Hane: Zunächst einmal ist es wichtig, sexuellen Missbrauch von liebevoller körperlicher Zuwendung zu unterscheiden. Das Wissen um die verbreitete Existenz sexueller Gewalt gegen Kinder darf nicht dazu führen, dass ein gesunder und notwendiger körperlicher Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern unterbleibt. Sexueller Missbrauch beginnt dort, wo körperliche Nähe eben nicht mehr Zuneigung ausdrückt, sondern von Erwachsenen dazu benutzt wird, eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Kinder und Jugendliche haben ein sehr genaues Empfinden dafür, wo diese Grenze überschritten wird. Sie spüren, dass die Übergriffshandlungen "nicht richtig sind". Sexueller Missbrauch ist also ein äußerst schwerwiegender Eingriff in die Intimsphäre, das Selbstbestimmungsrecht und den freien Willen des Opfers. Sexueller Missbrauch von Kindern ist darüber hinaus ein Vertrauensbruch, der neben körperlichen Folgen, demütigenden Handlungen Auslöser für lebenslange
Traumatisierung sein kann und zu eingeschränktem Lebensraum, Schuldgefühlen, depressiven Verstimmungen oder auch zu einem Mangel an Selbstsicherheit führen kann.
Eltern warnen ihre Kinder meist vor dem bösen fremden Mann. Entspricht dieses Bild heutigen Erkenntnissen vom typischen Täter?
Hane: Der sexuelle Missbrauch von Kindern durch fremde Personen darf zwar nicht bagatellisiert werden, jedoch ist das Risiko größer, dass Kinder im Verwandten- und Freundeskreis sexuell ausgebeutet werden. In den aller meisten Fällen sind die Täter den Kindern schon vor der Tat bekannt. Mit Ausnahme der Exhibitionisten sind es verwandte oder bekannte Männer. Geschieht die Missbrauchshandlung im engeren Kreis der Familie, so kommen am häufigsten Onkel, Väter, Großväter, Brüder und Cousins als Täter in Frage. Ein weitverbreitetes Vorurteil besteht übrigens darin, dass sexuelle Ausbeutung die Tat eines Triebtäters sein soll. Das ist nur selten der Fall, denn meistens handelt es sich bei dem Täter um einen ganz "normalen" Menschen, mit tadellosem Ruf. Die Täter stammen aus der Nachbarschaft, dem Bekannten- und Freundeskreis, aus der näheren Verwandtschaft (60 bis 80 Prozent der Opfer kannten den Täter schon vor der Tat). Ein neuerdings häufiges Vorurteil besteht darin, dass immer mehr Frauen als Täterinnen vermutet werden. Sicher, manchmal wird Kindern auch durch Frauen sexuelle Gewalt zugefügt. Der weitaus überwiegende Teil der Täter sind jedoch Männer. Sexueller Missbrauch von Frauen ist insgesamt subtiler und schon deshalb schwieriger aufzudecken. Übereinstimmung besteht allgemein darin, dass Frauen im Zusammenwirken mit ihrem Partner (Ehemann, Freund) als Täterinnen nachweisbar sind. Sehr häufig handeln diese Frauen unter Zwang und der Macht des jeweiligen Partners.
Wo und wie findet der Täter also sein Opfer?
Hane: Die meisten Täter kennen ihr Opfer, kommen also aus dem sozialen Nahbereich der Kinder. Die Kinder kennen den Erwachsenen oft und vertrauen ihm.
Missbrauch: Kind wird zur Geheimhaltung gezwungen
Auf welche Weise nähern sich Täter ihren Opfern an und wie üben sie Druck aus?
Hane: Man hat mehrere Phasen des sexuellen Missbrauchs unterschieden. In einer Vorbereitsungsphase kümmert sich der Täter viel um sein potentielles Opfer, versucht sein Vertrauen zu gewinnen und beginnt nach und nach mit als Versehen getarnten Übergriffen – zum Beispiel scheinbar zufälliges Berühren am Po oder sich nackt zeigen. In den nächsten Phasen steigert der Täter seine Übergriffe zu eindeutigen sexuellen Gewalthandlungen und spricht Drohungen aus mit dem Ziel, das Kind zur Geheimhaltung der Übergriffe zu zwingen. Solche Drohungen können lauten: "Wenn du anderen davon erzählst, kommst du ins Heim", "dann bringe ich deine Mutter um" oder "dann komme ich ins Gefängnis".
Was sind Hinweise dafür, dass ein Kind Opfer eines Missbrauchs ist?
Hane: Ein wichtiger Hinweis kann schon sein, wenn sich Kinder aus ihrem Umfeld zurückziehen, Kontakt und Verhaltensschwierigkeiten haben, was vorher nicht der Fall war. Eindeutige Hinweise sind Entzündungen und Verletzungen im genitalen und analen Bereich oder im Bereich der Harnröhre. Anzeichen können sein, wenn Kinder sich sehr stark mit sexuellen Fragen beschäftigen oder - etwa beim Gewaschenwerden - plötzlich auf körperliche Nähe mit Abwehr reagieren. Oder ihr sexuelles Verhalten ist auffällig: Sie spielen ständig mit ihren Genitalien, zeigen sich zu Hause und im Kindergarten bewusst nackt, betonen, dass sie schon Erfahrungen hätten, und das Thema taucht im Spiel und in Zeichnungen auf. Es sind in der Regel immer mehrere Faktoren im gesamten Verhalten des Kindes, die Hinweise geben können und von den Kindern als Signale angeboten werden. Erwachsene sollten sensibel genug sein, diese wahrzunehmen, ohne gleich zu behaupten dass es sich um Missbrauch handelt. Aber sie sollten genauer schauen und hinhören und vor allem nicht meinen, es könnte in ihrem Umfeld nicht passieren.
Wenn Eltern einen Verdacht haben, wie sollten sie sich verhalten?
Hane: Eltern sollten das Vertrauen ihres Kindes gewinnen, indem sie ihm zu verstehen geben, dass sie voll und ganz auf seiner Seite stehen, dass sie ihm glauben und ihm helfen werden. Außerdem sollten sie dem Kind vermitteln: "Du hast keine Schuld an dem, was geschehen ist." Es ist wichtig, dem Kind ausdrücklich die Erlaubnis zu geben, über seine Erlebnisse zu sprechen und im Gespräch Ruhe zu bewahren. Daneben sollten sie ihren Verdacht einer sozialen Einrichtung oder der Polizei mitteilen.
Missbrauch vorbeugen: Kinder stärken und aufklären
Die Vorbeugung oder in der Fachsprache "Prävention" sexuellen Missbrauchs setzt heute andere Akzente als früher. Würden Sie diesen Wandel bitte beschreiben?
Hane: Der Begriff Prävention stammt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie vorbeugend, schützend eingreifen. Althergebrachte Prävention, die darauf basiert, Kinder vor fremden Männern zu warnen (der böse schwarze Mann), verursacht Angst und Panik. Sie verunsichert Mädchen und Jungen, schränkt ihre Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit ein und verstärkt ihre Wehr- und Rechtlosigkeit. Dadurch wird geradezu ein Nährboden für sexuellen Missbrauch geschaffen, denn fehlinformierte, unsichere, angepasste und zu Abhängigkeit neigende Kinder sind für Täter/Täterinnen ideale Opfer. Ziel präventiver Arbeit ist eine Erziehungshaltung, die Mädchen und Jungen stärkt und das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung über ihren Körper fördert. Durch Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, aus eigensinnigen und willensstarken Kindern brave, angepasste Kinder zu machen, wird das kindliche Selbstbewusstsein erheblich reduziert und die machtlose Position geradezu verfestigt. Prävention zielt darauf ab, Kindern die eigene Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Umgebung zu ermöglichen, ihrer Einschätzung zu vertrauen, ihre Selbstbestimmtheit, ihren Eigenwillen und ihre Empfindungen zu respektieren.
Was hat die Prävention sexuellen Missbrauchs mit moderner Sexualerziehung zu tun?
Hane: Kinder, die eine altersgemäße Sexualerziehung erhalten, sind weniger leichte Opfer. Hinweise zu den wichtigsten Grundsätzen einer präventiven Sexualerziehung habe ich in der Bildgeschichte "Ich bin ich und du bist du" aufgelistet. Sie lauten:
- Für Kinder darf das nackte Aussehen von Kindern und Erwachsenen kein Geheimnis sein.
- Kinder lernen, dass sie sich nur im vertrauten Kreis ausziehen.
- Kinder lernen, dass ihre Geschlechtsorgane besonders wichtig sind. Deshalb sind sie meist bedeckt, und niemand darf sie anfassen, der nicht auch sonst das Kind pflegt.
- Kinder lernen, dass sie niemals zu jemandem oder mit jemandem gehen, ohne dass die Eltern dies wissen.
- Kinder lernen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern verboten sind, weil sie hierzu noch zu klein sind, weil sie den Kindern schaden und auch Schmerzen bereiten.
- Kinder lernen, dass sie weglaufen, wenn ein Erwachsener ihnen die Geschlechtsorgane zeigt und will, dass sie diese anfassen.
- Kinder lernen, dass sie immer ihren Eltern Bescheid sagen, wenn ein Erwachsener sie am Geschlechtsteil berührt oder möchte, dass sie mit ihm irgendwohin gehen sollen.
Was können Eltern sonst noch vorbeugend tun, um ihren Kindern bestmöglichen Schutz vor sexuellem Missbrauch mitzugeben?
Hane: Wichtig ist eine Erziehungshaltung, die das Selbstbewusstsein von Kindern stärkt und ihnen Selbstbestimmung über ihren Körper zuerkennt. Dazu gehört, dass die Gefühle des Kindes grundsätzlich ernst genommen werden und dass Kinder nein sagen dürfen, wenn sie von einem Erwachsenen nicht berührt, gestreichelt oder auf den Arm genommen werden wollen. Außerdem ist es von Bedeutung, Kindern beizubringen, dass es auch schlimme Geheimnisse gibt und dass man diese nicht für sich behalten braucht, sondern sie mitteilen darf. Und nicht zuletzt sollten Kinder stets ermutigt werden, bei Problemen, die sie allein nicht bewältigen können, bei Vertrauenspersonen Hilfe zu holen.
Lesen Sie dazu auch: Wie sag ich's meinem Kinde?
Literatur zum Thema:
"Sexueller Missbrauch von Kindern, Diagnose und Prävention" von Willy Hane, WEKA, 2003, ISBN 3-8276-4194-2
"Ich bin ich und du bist du. Mein Körper gehört mir und dein Körper gehört dir." von Willy Hane, Weka, 2003, ISBN 3-8276-4193-4
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