"Quality Time": Wie geht das überhaupt?
Zwei Mal die Woche verbringt urbia-Autor Sven Heitkamp den Nachmittag mit seinen Kindern. Schnell packt ihn da das schlechte Gewissen, wenn die knappe Zeit nicht zum Baumhausbauen oder Musikmachen reicht. Wie macht man aus der gemeinsamen Vaterzeit wirkliche "Quality Time?
Endlich Zeit mit den Kindern...
Ein Dienstagnachmittag, ca. 15.50 Uhr, ich breche mit quietschenden Reifen auf vom Büro zum Kindergarten, der in wenigen Minuten schließt. Lasse holen. Dann weiter zur Schule, Hannah einsacken. Nach einer hektischen Stunde im Stadtverkehr sitzen beide endlich bei mir im Auto. So sieht mein Alltag zweimal die Woche aus, Samstage und Sonntage nicht mitgerechnet. Schön, wieder Zeit mit dem Kinde, könnte ich denken.
Doch statt Luft zu holen, fordert mich nun eine fiese Frage erst richtig heraus: Was tun? Spricht doch die halbe Welt jetzt von der „Quality Time“, die Papa und Mama mit ihren Kindern verbringen sollten. Wertvolle Zeit, die die Beziehungen der Familie stärkt!
Die perfekte Gelegenheit, ihnen etwas fürs Leben zu zeigen
Wenn die zwei Süßen, acht und vier Jahre, also nicht gerade ihr Freizeitprogramm oder andere Verabredungen haben und mich allenfalls als Chauffeur brauchen, fühle ich mich in der Pflicht, ihnen etwas Gescheites anzubieten. Mit bildungsbürgerlicher Beflissenheit beschleicht mich das Gefühl, jetzt sei doch die perfekte Gelegenheit, ihnen etwas fürs Leben zu zeigen: Drachen bauen vielleicht oder gleich ein Baumhaus! Instrumente basteln und Musik machen! Angeln, Schnitzen, Fußballspielen. Sachen, die Väter mit Kindern eben so tun. Und die mancher meiner Freunde schon mit ihren Opas gemacht haben – die ich kriegsbedingt nie hatte.
Doch so leicht ist das alles ja nicht. Es gäbe doch so viel anderes Dringendes zu tun. Die Wohnung entrümpeln, den Wagen waschen, einkaufen. Ein unerledigter Auftrag liegt noch auf dem Schreibtisch und die ungelesene Süddeutsche auf dem Beifahrersitz. Jetzt 'nen Milchkaffee und in Ruhe die Seite 3-Reportage lesen. Wieder bin ich hin und hergerissen. Hat sich in meinem Kopf doch die Sache mit der Qualitätszeit für Familien festgehakt: Ausflüge! Spielnachmittage! Gemeinsames kochen, das ganz bewusst gemeinsam erlebt wird! Einen Seitenhieb an die Adresse von Typen wie mich gibt es in einer Schrift der Familienministerin gleich dazu: „Reine Haushaltstätigkeiten oder Hobbys zählen nicht dazu.“ Schönen Dank auch.
Und ewig ein schlechtes Gewissen
Damit steht also wieder das ewige schlechte Gewissen im Raum: Tue ich genug für die Entwicklung von Sohn oder Tochter? Was will ich meinen Kindern mitgeben? Wie viel und welche Bildung schulde ich ihnen? Gott sei Dank bin ich mit der Frage nicht allein. Beinah täglich begegnen mir Artikel, Bücher, Sendungen zum Thema. Preisgekrönte Feuilleton-Redakteure schreiben ihren Kindern öffentliche Briefe, Blogs ermutigen zur Väterzeit, Experten geben Interviews und die Schlagzeilen brennen sich einem ins Gedächtnis ein: „Eia Popeia ist nicht genug!“ Ein Hirnforscher sagt: „Jedes Kind ist hochbegabt“ und nur ein sympathischer, professionelle Müßiggänger schreibt einen „Leitfaden für faule Eltern“.
Tatsächlich haben wir schon ein paar bemerkenswerte Fehlschläge hinter uns. Ich war mit Hannah einen Sonntag in der Kletterhalle, sie hat das toll gemacht. Aber als ich es wieder vorschlug, hat sie nur abgewinkt. Keine Lust. Lasse war etliche Male im „Spatz“-Kurs der Musikschule und in der Tanzgruppe seiner liebsten Kindergartenfreundin dabei. Und was hat er gemacht? Die ganze Zeit auf meinem Schoß rumgealbert. Was sollen wir uns da also abmühen.
Der Alltag als Bildungsort - ist das die Lösung?
Wenigstens Donata Elschenbroich hat mich an die Hand genommen. Die Kindheitsforscherin, heute selbst 67, hat vor zehn Jahren einen Bestseller verfasst. „Das Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können“. Ich habe es neulich im Bücherregal unserer Grundschule entdeckt und mich sofort draufgestürzt. Es ist Ermahnung und Ermutigung zugleich. Frau Elschenbroich sagt, man kann mit den Kindern den Alltag als „Bildungsort“ entdecken. Sie wissen ohnehin am besten, was sie interessiert. Und sie hat zusammen mit Dutzenden anderen Experten und Amateuren eine tolle, seitenlange Liste von Vorschlägen und Anregungen erstellt, die man nicht umsetzen muss. Aber kann:
Auf einen Baum klettern. In einen Bach fallen. Beeren vom Busch pflücken. Eine Frucht schälen. Einen Nagel einschlagen. Gewinnen und verlieren können. Zwei Sternenbilder kennen. Ein chinesisches Zeichen schreiben. Den Geruch eines Pferdes erkennen. Einem Erwachsenen etwas erklären. Etwas reparieren. Die Erfahrung, dass ein Lernfortschritt im Erwachsenen Behagen auslöst. Eine E-Mail schreiben und empfangen. Mit dem Vater putzen. Ihm eine ungerechte Strafe verzeihen. Und so weiter. Vier Seiten lang. Na also. Das ist doch mal was. Ein Kanon kurzer Alltagserlebnisse, die uns allen Gutes tun. Wenn mich wieder mal meine Bildungsbeflissenheit überfällt, werden meine Kinder oder ich schon was finden. Und ein bisschen „Quality“-Zeit für mich bleibt auch noch vor dem Abendessen.
Oder doch besser Langeweile als wichtige Erfahrung?
Kinder sollten doch sowieso mehr ihre eigenen Erfahrungen machen, Langeweile zum Beispiel, wie sie ihnen Frau Elschenbroich und der „Entschleunigungs-Philosoph“ Hartmut Rosa gönnen. Schließlich führt es auch zu neuen Ansichten und Einsichten, wenn man nur lange genug nichts mit sich anzufangen weiß. Am Ende bleibt für mich: Übertriebener Ehrgeiz hilft so wenig wie schludrige Nachlässigkeit. Die Gewissensfrage am Nachmittag darf also immer neu beantwortet werden. Ganz ohne schlechtes Gewissen.