Psychosomatik: Das kann hinter Fieber, Allergien & Co. stecken

Was wollen Kinder durch Krankheiten sagen?

Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare, sagte der Dichter Christian Morgenstern. Bauchschmerzen aus Angst und Kopfschmerzen aus Überforderung sind die bekanntesten solcher Übersetzungen. Welche Probleme können andere Erkrankungen bei Kindern anzeigen – und wie werden sie behandelt?

Autor: Kathrin Wittwer

Wenn Kinderseelen Schmerzen haben

Kinderkrankheit: Kind liegt im Bett
Foto: © iStock, anandaBGD

Stress schlägt auf den Magen, Kummer geht an die Nieren, Angst schnürt die Kehle zu: Der Volksmund weiß seit Jahrhunderten, dass sich seelische Sorgen in körperlichen Symptomen niederschlagen und krank machen können. Das Kleinkind, das sich im Kindergarten nicht wohl fühlt und morgens über Bauchweh jammert, oder der Schüler, der vor Klassenarbeiten Durchfall bekommt, sind typische Beispiele für solche sogenannten psychosomatischen Reaktionen. Dies können leichte oder nur einmalige Vorgänge sein. Doch bleiben die seelischen Nöte, die dahinter stehen, dauerhaft unbeachtet, besteht die Gefahr schwerer und sogar chronischer Erkrankungen.

Damit es nicht soweit kommt, sind die richtige Diagnose und Einordnung eines Symptoms entscheidend. Hier ist die Medizin auf einem guten Weg, meint der Herner Kinderarzt Guido Bürk, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Psychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: Dass auf den Kinderstationen deutscher Kliniken zunehmend psychosomatische Störungen behandelt werden, ist für ihn nicht ausschließlich ein Zeichen für den Anstieg solcher Erkrankungen. „Mein Eindruck ist, wir werden auch sensibler, sie bei den Kindern wahrzunehmen und erkennen sie deshalb vermutlich immer öfter.“ Voraussetzung dafür ist die ganzheitliche Betrachtung der kleinen Patienten: „Bei jeder Erkrankung muss man davon ausgehen, dass stets sowohl biologische als auch psychische und soziale Komponenten beteiligt sind. Es wäre falsch, von vornherein nur einen Faktor anzuschauen“, weiß der Kinderarzt aus 25 Jahren Erfahrung. „Aber natürlich sind die drei Komponenten bei verschiedenen Krankheiten ganz unterschiedlich ausgeprägt, und oft reicht es, sich im Verlauf der Erkrankung vornehmlich auf einen Faktor zu konzentrieren. Ein Beinbruch zum Beispiel ist eindeutig eine körperliche Erkrankung. Aber man kann zusätzlich schauen, wie das Kind damit klar kommt oder ob es dazu neigt, sich zu verletzen, und warum.“

Warum wird man krank?

Diese Frage stellt sich für den Arzt und Psychotherapeuten Ruediger Dahlke grundsätzlich bei jeder Krankheit, egal ob Erkältung, Allergie oder Behinderung. Seit über 30 Jahren vertritt er, abgeleitet aus Erfahrungen in seiner Psychotherapie- und Beratungspraxis, einen umfassenden Psychosomatikansatz, nach dem ausnahmslos jedes Symptom ein Ausdruck dessen ist, wie es der Seele geht: „Ich gehe davon aus, dass alles, was Form annimmt, auch Bedeutung hat, denn es gibt nichts auf dieser Welt, das Form hat, aber weder Sinn, Inhalt noch Bedeutung.“ Als Haus der Seele zeigt der kranke Körper demnach an, wo genau etwas im Argen liegt. Probleme rund um die Lunge zum Beispiel stehen dabei für Schwierigkeiten im Kommunikationsbereich, die Haut spiegelt das Zwischenmenschliche, Kontakt und Grenzen. Diese Symbolfunktion macht Krankheiten laut Dahlke zu wertvollen Wegweisern, die Entwicklungs- und Lernaufgaben aufzeigen. Weil diese nach seiner Philosophie zur vollständigen Heilung gelöst werden müssen, ist die reine Beseitigung von Symptomen durch Medikamente für Dahlke sinnlos. So bringe es nichts, führt sein Buch „Krankheit als Sprache der Kinderseele“ aus, allergischen Hautausschlag nur weg zu cremen, ohne zu ergründen, wer oder was dem Kind „unter die Haut gegangen“ beziehungsweise „auf die Pelle gerückt“ ist, wo sich ein Kind so schlecht abgrenzen kann, dass es auf diese Weise aggressiv „bis aufs Blut kämpft“. Bei einem Asthma-Kind wäre zu hinterfragen, wovor es solche Angst oder worauf solche Wut hat, dass es keinen angemessenen Ausdruck dafür findet und es ihm stattdessen den Atem verschlägt. Von was hat ein erkältetes Kind „die Nase voll“? Was hängt einem Kind mit Halsschmerzen so zum Hals raus, dass es nicht mehr schlucken kann? Warum ist einem Bettnässer zum Heulen zumute? Warum muss sich ein Nägelkauer die eigenen Krallen stutzen?, findet der Arzt zu allen Symptomen und Auffälligkeiten Fragen, die oft die wortwörtlichen Bedeutungen von Redensarten aufgreifen.

Was heißt das für die Behandlung?

Sein Ansatz bedeute jedoch nicht, sich ausschließlich auf den seelischen Faktor zu konzentrieren und körperliche Beschwerden völlig unbehandelt zu lassen, stellt Ruediger Dahlke klar: „Die Krankheitsbilder-Deutung lässt sich problemlos mit allen anderen Ansätzen verbinden von der Schulmedizin über die Homöopathie bis zur Naturheilkunde. Sie stellt auch keinen Alleinvertretungsanspruch. Gefährlich würde das Missverständnis, anderes nicht zu machen, weil man gedeutet hat. Es geht eher um das sowohl als auch.“ Dabei sollten Mittel gewählt werden, die bei der Lösung der dahinter stehenden Aufgabe helfen. Bei Fieberbeispielsweise führt „Krankheit als Sprache der Kinderseele“ aus, dass Kinder, die „innerlich kochen“ damit die Bereitschaft signalisierten, in einer Auseinandersetzung für sich selbst zu kämpfen. Diese „Hitze des Gefechts“, die nur ein gut funktionierender Organismus aufbringen kann, nicht zu unterbinden, sei wichtig, damit Kinder tatsächlich lernen, ihre Krisen zu meistern. Entscheidend seien dafür liebevolles Umsorgen, Begleiten und Unterstützen, viel Ruhe, Schlaf, gegebenenfalls passende homöopathische Mittel, Tees, eventuell Wadenwickel oder auch Fasten. Fiebersenkende Medikamente hingegen würden den Kampf abnehmen und damit verhindern, dass Kinder lernen, für sich einzustehen. „Man kann durch Unterdrückung von Symptomen, also den Ausschluss von Dingen, nicht heiler werden, dazu muss immer etwas bisher Fehlendes ins Leben integriert werden“, fasst Dahlke sein Prinzip zusammen.

Sprechende Medizin für die ganze Familie

Auch Kinderarzt Guido Bürk weiß: „Wenn ein Kind chronische Schmerzen hat, kann ich den Schmerz nicht einfach ersatzlos wegnehmen.“ Denn dann droht dieser, in anderer Form an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Bürk arbeitet deshalb, wo es geht, mit Psychologen und Psychotherapeuten zusammen und nutzt in seiner Praxis die sogenannte „sprechende Medizin“. Der Ausdruck steht für genaues Zuhören, individuelle Diagnostik, heilende Worte und hilfreiche Gespräche. Obwohl eine solche aufwändige Behandlung vom Gesundheitswesen nicht adäquat honoriert wird, sieht Bürk darin oft die einzige Chance, den Dingen wirklich auf den Grund gehen zu können. Auch Familienbetreuung gehört für ihn dazu: „Wenn ein Kind beispielsweise Angststörungen hat, ist es wichtig zu wissen, wenn dies bei der Mutter auch so ist. Man kommt nicht drumrum, nicht nur das Kind einzeln zu sehen, sondern sein Familiensystem mit zu betrachten“, erklärt der Arzt. Hält er es für notwendig, lädt er die ganze Familie zum Beratungsgespräch ein.

 

Kinder halten uns den Spiegel vor

Für den Heilungsprozess spielt eine Schlüsselrolle, wie einfühlsam es Eltern gelingt, zu verstehen, was ihr Kind bedrückt und die angemessenen Wege zu finden, den Konflikt zu lösen. „Ohne die Mitarbeit der Eltern geht gar nichts“, bekräftigt Bürk. Nicht zuletzt, weil die Probleme sie eben oft selbst angehen beziehungsweise Kinder die Sorgen der Erwachsenen spiegeln. „Wenn wir sehen, dass Probleme wie Depressionen oder Burn-outs bei den Erwachsenen zunehmen, dass viele überfordert sind zum Beispiel mit dem Leistungsdruck, dann ist es wohl ganz logisch, dass Kinder als schwächstes Glied in einer Kette in Mitleidenschaft gezogen werden können“, gibt der Kinderarzt mit Blick auf ähnliche Auffälligkeiten schon bei Kindern zu bedenken. Für Ruediger Dahlke ist ADHS ein typisches Zeichen solcher Vorgänge: „Aus meiner Sicht nimmt die Hyperaktivität deutlich zu, weil diese ganze Gesellschaft immer hyperaktiver wird und Kinder eben sensible Spiegel sind.“ Im Buch „Aggression als Chance“ beschreibt er, wie alle nervtötenden Verhaltensweisen von hyperaktiven Kindern letztlich genauso in der Gesellschaft zu finden sind: die ständige Beweglichkeit, das Nicht-Abwarten-Können, die hohe Geschwindigkeit, der Zwang, immer Erster sein zu wollen, der Drang nach Auffallen und Aufmerksamkeit, die ständige Suche nach immer neuen Reizen, die zu Überforderung führen. „Nerven sie uns dabei etwa so stark, weil wir in der Karikatur unserer eigenen Lebensziele, die sie unfreiwillig bieten, deren Widersinn erkennen und das partout nicht wollen?“ stellt der Therapeut in den Raum.

Es geht immer um Entwicklung, nie um Schuld

Allerdings ist es für Eltern nicht immer einfach, solchen Argumentationen zu folgen.„Am leichtesten kann man es immer bei den anderen nachvollziehen und am schlechtesten bei sich selbst und wohl auch den eigenen Kindern auf Grund der Eigenblindheit. Und natürlich ist es bei leichten Symptomatiken leichter, weil da die anstehenden Aufgaben überschaubarer sind“, weiß Ruediger Dahlke. Vor allemaber erschreckt die vermeintliche Schuldzuweisung, die Eltern darin sehen, dass ihrKind krank sei, weil sie dieses oder jenes getan oder nicht getan haben, weil dieses oder jenes in der Beziehung zum Kind oder zwischen Mutter und Vater nicht stimmt. Eine solche Auffassung ist für Dahlke jedoch ein Missverständnis: Nach seiner Philosophie sind Krankheiten keine Schläge des Schicksals oder Strafen, sondern stets Chancen für Entwicklung und dabei grundsätzlich frei von Schuld, Wertung oder Urteil. „Tatsächlich geht es um Verantwortung in dem Sinne, dass wir Antworten finden müssen auf die Herausforderungen des Lebens, zu denen eben auch Krankheitsbilder gehören“, betont er. Die Frage „Warum (immer) mein Kind?“ ist also berechtigt – im Sinne einer ernsthaften Suche nach den Ursachen, nach der Lösung der Charaden, die Kinder ihren Eltern aufgeben, wie der Dichter Christian Friedrich Hebbel sagte. Eine Aufgabe, der man sich zu entziehen versucht, wird sichlaut Dahlke immer wieder neu stellen: „Das weiß schon das Sprichwort: Wer sich alles ersparen will, dem bleibt nichts erspart.“

Was brauchen Kinder, um gesund zu bleiben?

Der Volksmund weiß aber auch: Vorbeugen ist die beste Medizin. Ruediger Dahlkes Ratschläge dafür decken sich in wesentlichen Teilen mit dem, was jeder Schulmediziner rät: Eine gesunde Ernährung, viel Bewegung und frische Luft gehören einfach dazu, Kinder fit zu machen. Doch nicht nur der Körper, auch die untrennbar zu ihm gehörenden Geist und Seele brauchen ein „anregendes, mutiges und offensives Leben“, wird in „Krankheit als Sprache der Kinderseele“ betont. Sind Eltern bezüglich der Bedürfnisse und Nöte ihrer Kinder achtsam und lassen sie sich individuell entfalten, ist das nach Dahlke das potenteste Vorbeugemittel, denn: „Wer inneres (Seelen-) Leben zulässt, braucht nicht so viel lebendige Keime in sich einzulassen. Wo schon viel Leben ist und keimt, haben von außen kommende Erreger wenig Chancen.“

  • Ruediger Dahlke, Vera Kaesemann: Krankheit als Sprache der Kinderseele. Be-Deutung kindlicher Krankheitsbilder und ihre ganzheitliche Behandlung. Goldmann. 2010. ISBN 13: 978-3442156610. 11,99 Euro.

  • Götz Blome: Heile Dein Kind an Körper und Seele. Der medizinisch fundierte, ganzheitliche Elternratgeber. VAK Verlags GmbH. 2008. ISBN-13: 978-3935767200. 19,90 Euro.