Braucht mein Kind eine Therapie?
Jedes zweite Schulkind in Deutschland hat schon eine Therapie gemacht, und auch bei den Kleinsten sind „Ergo“ oder „Logo“ oft schon Alltag. Für Eltern ist es zuweilen schwierig, kindliche Besonderheiten von therapiebedürftigen Störungen zu unterscheiden. Wann aber braucht ein Kind wirklich eine Therapie?
Sind Kinder therapiebedürftiger als früher?
Der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Dr. Remo Largo klagt: "Ich befürchte, Kinder werden zunehmend verpathologisiert." Er bescheinigt vielen Eltern zu wenig Toleranz selbst für kleinste Abweichungen ihres Kindes von der Norm, aber auch zu große Ungeduld: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, ist eine seiner Kernaussagen.
Sind wir Eltern also zu ängstlich, zu therapiewütig und paralysiert vom Förderwahn? Dies trifft vielleicht in manchen Fällen zu. Es gibt aber auch sie: „Kinder, die den ganzen Tag vor dem Fernseher geparkt werden, denen niemand Geschichten erzählt, mit denen keiner Rad fahren übt, mit denen kaum gesprochen wird“, so der Berliner Kinderarzt Dr. Ulrich Fegeler. Diese Kinder würden weder sprachlich noch in ihrem Spiel- oder Sozialverhalten ausreichend gefördert. Hier sei die Anregung einer Therapie der verzweifelte Versuch, benachteiligte Kinder zu fördern.
Die meisten Eltern jedoch gehören zu denjenigen, die sich einfach die bestmögliche Unterstützung für die Entwicklung ihres Kindes wünschen. Woran erkennt man aber, wann tatsächlich eine Therapie angezeigt ist? Hier ist ein Schlaglicht auf häufige Entwicklungshürden nötig.
„Entwicklungshilfe“ fürs Baby
Die anderen Babys der Krabbelgruppe drehten sich mit sieben Monaten längst fröhlich vom Bauch auf den Rücken oder umgekehrt. Nur Baby Lars zeigte keinerlei Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun. Seine Mutter Susanne Mendel war beunruhigt. „Er versuchte es nicht einmal, sondern lag immer völlig zufrieden da.“ Der Kinderarzt von Lars konnte sie beruhigen, hier lag keine echte Entwicklungsverzögerung vor. Er zeigte Susanne einfache Griffe, mit denen sie ihr Baby zum Drehen animieren und es dabei unterstützen konnte.
Manchmal jedoch ist die Diskrepanz zu Gleichaltrigen so groß, dass eine Therapie nötig wird. Wie bei Oliver, der im Alter von einem Jahr noch nicht krabbelte, sondern fast den ganzen Tag auf dem Boden saß. Er war von der Mutter und den älteren Geschwistern zu sehr bedient worden, hatte alles gebracht und angereicht bekommen, worauf er zeigte. „Er hatte einfach keinen Grund, sich zu bewegen“, so Physiotherapeutin Sonja Meidow aus Karlsruhe, zu der Oliver und seine Mutter schließlich kamen. Oft seien es die Nesthäkchen einer Familie, die so ungewollt zur Passivität erzogen würden. Hier sei auch die Arbeit mit den Eltern wichtig. „Sie müssen durch eine anstrengende Phase großer Unzufriedenheit beim Kind hindurch, wenn sie aufhören, ihm alles anzureichen.“ Mit diesen Kindern muss die Fortbewegung dann schrittweise angebahnt werden. „Oliver musste in der Therapie erst lernen, wie man überhaupt vom Po auf alle Viere kommt.“
Stottern und Lispeln - wenn der Mund nicht will wie der Kopf
Mit dreieinhalb Jahren fing Max Reinberg* an, die Anfangswörter von Sätzen mehrere Male zu wiederholen. „Die Kinderärztin riet uns abzuwarten, dies sei nur das normale Entwicklungsstottern“, berichtet seine Mutter Andrea. Viele Kinder zwischen zwei und fünf Jahren erleben in ihrer Sprachentwicklung eine Phase, in der Denken und Sprechen nicht gleich schnell verlaufen. Dann wiederholen sie bestimmte Wörter, bis ihnen der nächste Begriff eingefallen ist („Das-das-das Müllauto kommt!“). Auch bei Max ging das Entwicklungsstottern nach einigen Monaten von selbst vorüber.
Um eine Sprachtherapie kam er aber trotzdem nicht herum: „Er hat auch mit fünf Jahren immer noch gelispelt. Die Kinderärztin machte daraufhin einen kleinen Sprachtest mit ihm und überwies uns zum Logopäden.“ Dort stellte sich heraus, dass Max‘ Mundmuskulatur noch zu schwach war und er außerdem einen offenen Biss hatte. „Er konnte die oberen und unteren Schneidezähne also vorn nicht schließen“, berichtet Andrea. Spezielle Übungen stärkten die Sprechmuskulatur, Max‘ offene Biss schließt sich gerade von selbst (dies ist nicht immer der Fall, manchmal muss ein Kieferorthopäde nachhelfen). „Das Lispeln ist noch nicht weg, wir machen aber eine Therapiepause, um den Zahnwechsel der vorderen Schneidezähne abzuwarten“. In etwa der Hälfte der Fälle verschwindet das Lispeln, wenn die neuen Zähne kommen.
Wann zum Logopäden?
Wenn ein Kind mit fünf Jahren noch lispelt, sollte man die Ursachen abklären lassen. Die gilt auch, wenn ein Stottern länger als sechs Monate anhält, ein Kind mit vier bis fünf Jahren noch Buchstaben vertauscht oder nicht aussprechen kann und wenn es Worte abkürzt. Auch wenn ein Kind mit vier Jahren erst einen sehr kleinen Wortschatz hat, alltägliche Sätze schwer versteht oder die Grammatik erst sehr minimal beherrscht, kann logopädische Nachhilfe nötig sein.
Nicht alle Stolpersteine in der Sprachentwicklung aber müssen mit Expertenhilfe beseitigt werden. Zum Beispiel ist es normal, wenn anderthalb- oder zweijährige Kinder noch sehr wenig sprechen. Oft lernen sie dann plötzlich innerhalb weniger Tage viele neue Wörter. „Bei vielen Kindern wechseln sich Phasen von großen Fortschritten mit Phasen scheinbarer Stagnation ab. Die Sprachentwicklung verläuft sehr variabel, bei dem einen Kind früher oder schneller, bei dem anderen später und mühsamer“, beruhigt der Deutsche Bundesverband für Logopädie.
Das schweigende Kind
Manche Kinder aber können zwar gut sprechen, machen davon aber wenig Gebrauch. „Mein fünfjähriger Sohn spricht zu Hause viel und gern. Im Kindergarten aber redet er auch nach anderthalb Jahren immer noch kein Wort mit den Erzieherinnen. Und mit den anderen Kindern verständigt er sich oft lieber per Handzeichen als mit Worten“, berichtet eine Mutter in einem Online-Forum für Eltern. „Anfangs hieß es, er ist einfach schüchtern. Doch als sich gar nichts änderte, schickte der Kinderarzt uns mit der Diagnose ‚Mutismus‘ zu einem Kinderpsychiater.“
Spricht ein Kind in manchen Situationen überhaupt nicht, kann ein selektiver Mutismus (d.i. Schweigen in bestimmten Situationen) vorliegen. „Beseitigen kann man den Mutismus nur durch die Auflösung des zugrunde liegenden Konflikts. Im Kindergarten z. B. durch die Erkenntnis, dass etwas beim Übergang in den Kindergarten nicht optimal verlaufen ist und das Kind keine Ersatzbezugspersonen gefunden hat, insbesondere wenn es sich um frühe Fremdbetreuung handelt“, erklärt Kinderarzt Dr. Rüdiger Posth in seinem Beratungsforum.
Nicht jedes wortkarge Kind aber leidet an Mutismus. Experten schätzen, dass etwa eines von 100 Kindern betroffen ist. Bei Verdacht sollten Eltern mit Erzieherinnen oder Lehrern sprechen und den Kinderarzt befragen. Er kann an einen Psycho- oder Spieltherapeuten verweisen. Dieser soll langsam und mit großer Einfühlung zu einer neuen Bezugsperson für das Kind werden. So kann es Vertrauen gewinnen und allmählich seine Sprachlosigkeit überwinden. „Ich habe zuerst damit gehadert, mit meinem Sohn zum Kinderpsychiater zu gehen“, erzählt die Forumsmutter. „Inzwischen bin ich wirklich erleichtert darüber. Endlich wird nun das Problem angegangen, noch rechtzeitig vor der Einschulung.“
Stolpern und Anecken - nicht heimisch im eigenen Körper
Martin (5) soll bald eingeschult werden. Er fällt aber noch oft hin und wirkt insgesamt tollpatschig. Er ist außerdem etwas pummelig und mag sich nicht gern bewegen. Er sitzt oft vor dem Fernseher, seine Mutter lebt in Scheidung und arbeitet viel. Das Essen muss meist schnell fertig sein, weshalb es häufig Fastfood gibt. „Kinder wie er wirken oft schlaff und haben wenig Körperspannung. Ihnen fehlen wichtige Erfahrungen, die andere Kinder einfach auf dem Spielplatz machen: Klettern, balancieren, sich ausprobieren“, erläutert Physiotherapeutin Sonja Meidow aus Karlsruhe. „Kinder wie Martin brauchen einen geschützten Rahmen, wo sie dies nachholen und mit ihrem Körper experimentieren können, ohne wegen ihres Übergewichts gehänselt zu werden“. Dafür eigne sich Ergo- oder auch Physiotherapie.
Manche Kinder stolpern aber auch deshalb oft oder stoßen sich, weil sie Wahrnehmungsprobleme haben. „Typisch für solche Kinder ist unter anderem, dass sie zu wenig Raumgefühl haben. Sie können zum Beispiel nicht abschätzen, ob ein Ball, der auf sie zu rollt, sie treffen wird. Oder ob eine Tür, die sich öffnet, sie nicht verletzen wird“, so Meidow. Diesen Kindern helfe die Sensorische Integration (SI) besonders gut, eine Unterform der Ergotherapie.
Unsicherheit kann auch von Sehfehler kommen
„Als Bea knapp vier Jahre alt war, erzählte mir die Erzieherin im Kindergarten, dass meine Tochter häufiger gegen Tischkanten laufe, die sie anscheinend oft gar nicht sehe“, erzählt Marion Mantschuk. „Das hat mich beunruhigt, ich dachte an ein motorisches Problem. Als wir mit meiner älteren Tochter zum Augenarzt mussten, habe ich Bea gleich mit untersuchen lassen, was aber eher Zufall war. Zu meinem Erstaunen stellte sich heraus, dass sie einen Sehfehler mit 3 und 3,5 Dioptrien hatte. Jetzt verstand ich auch, warum Bea immer so lichtempfindlich war.“
Auch der Berufsverband der Deutschen Augenärzte weist darauf hin, dass Anstoßen oder das verspätete Erkennen von Objekten häufig auf einen Sehfehler hinweisen. Jedes Kind solle daher bis zum Alter von dreieinhalb Jahren einmal augenärztlich untersucht werden. „Es ist sinnvoll, das Sehvermögen dann vor der Einschulung noch ein weiteres Mal zu prüfen“, rät Verbandsmitglied Dr. Arndt Gutzeit, „denn möglicherweise treten im Zuge des Wachstums Fehler, die eine Sehschwäche auslösen, erst später auf.“
Nicht jeder „Hans Dampf“ hat ADHS
Die Brüder Julius und Nils (4 und 3 Jahre alt) können keine Sekunde still sitzen. „Sie hüpfen den ganzen Tag über Betten und Stühle, sie sind wie Gummibälle“, seufzt ihre Mutter Patrizia Wörner. „Ich werde oft gefragt, ob ich schonmal über ADS nachgedacht hätte. Doch unser Kinderarzt konnte uns beruhigen.“ So wie ihr ergeht es vielen Eltern: Über einem sehr unruhigen Kind sehen viele Erwachsene schnell das graue Gespenst AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) schweben. Doch Impulsivität, mangelnde Konzentration und starker Bewegungsdrang sind bei jüngeren Kindern normal. Und auch eine echte Verhaltensauffälligkeit hat jetzt oft andere Ursachen: „Mit vier Jahren kann man keine Diagnose ADHS stellen. Das liegt daran, dass Entwicklungsprobleme, frühe Bindungsstörungen und genetische Anlagefaktoren jetzt das Verhaltensbild weit mehr bestimmen, als irgendeine spezifische Störung im Bereich des Dopamin-Transports (wie bei ADHS)“, erläutert Kinderarzt Dr. med. Rüdiger Posth Eltern in seinem Forum.
ADHS-Kinder fallen meist durch weitere Symptome auf, wie schlechtes Sozial- oder gefahrenträchtiges Verhalten, Aggressionen, schnelle unvorhersehbare Handlungswechsel oder ausgeprägte Trotzreaktionen. Ihr Verhalten entspricht oft nicht ihrem Alter. Bei Verdacht kann der Kinderarzt an Fachleute für weitere Tests verweisen.
Wenn die Seele um Hilfe ruft
Ella (9) hat keinen Hunger. „Sie hat keinerlei Interesse am Essen, und es gibt nur wenig, was sie überhaupt mag“, erzählt Ihre Mutter Sabine Warenberg. „Das Essen ist bei uns inzwischen ein großes Thema, weil Ella dünn ist und wir uns Sorgen machen.“ Auslöser für Ellas Essprobleme war ihre anfangs unentdeckte Gluten-Unverträglichkeit (Zöliakie). Essen war für sie lange mit Schmerzen verbunden. Doch auch nach der Diagnose wurde es nicht besser, obwohl Ella seit langem kein Bauchweh mehr hat. „Inzwischen belastet das auch unsere Ehe, denn es gibt am Tisch oft Streit. Mein Mann ist dafür, ihr keine Alternativen anzubieten, wenn sie etwas nicht mag. Ich aber kann und will das nicht.“
Der Kinderarzt empfahl schließlich eine Psychotherapie für Ella. „Er glaubt, dass sie ihre Essensverweigerung einsetzt, um zu zeigen, dass für sie etwas in unserer Familie hakt“, erzählt Sabine. Dies vermutet auch die Kindertherapeutin, zu der Ella nun seit einigen Wochen geht. „Sie sieht sich als Vermittlerin: Wir Eltern sollen verstehen lernen, was Ellas Botschaft hinter dem Essensproblem ist.“ Es sei noch zu früh, um zu sagen, wie der Erfolg sein wird, „aber es ist für uns entlastend, dass das Problem jetzt angegangen wird, und zwar bevor Ella vielleicht in der Pubertät eine Magersucht entwickelt.“
Nicht jede Auffälligkeit muss therapiert werden
Ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen leidet laut der Kinder-Gesundheitsstudie KIGGS des Robert-Koch-Instituts unter psychischen Auffälligkeiten. Dies können Essstörungen, Tics, Zwänge, Einnässen, Selbstverletzungen, Störungen des Sozialverhaltens, aber auch Ängste und Depressionen sein. Nicht jede Auffälligkeit aber muss therapiert werden. So betonen Kinderärzte, dass leichtere Tic- oder Zwangsstörungen bei jüngeren Kindern meist nach wenigen Monaten von selbst verschwinden. Ebenso sind irrationale Ängste, wie z. B. vor Schnee, vor Tieren oder vor „Monstern“ im Vorschulalter normal, und nicht jedes Wieder-Einnässen deutet auf eine seelische Störung hin. Wiederum gilt: Bei Unsicherheit mit dem Kinderarzt sprechen.
Entwicklungsverzögerungen – Ursache oft unbekannt
Die Beispiele zeigen: Viele Hürden in der Entwicklung nehmen Kinder selbst, manchmal aber ist eine Therapie nötig. Behandlungsbedürftige Störungen können dabei in allen Bereichen auftreten. Dabei sind - besonders was eine verlangsamte Entwicklung angeht - die Ursachen oft unklar. Bei einem Viertel der betroffenen Kinder gab es Schädigungen des Gehirns während der Schwangerschaft, der Geburt (z. B. durch Sauerstoffmangel) oder in der frühen Kindheit (Unfälle). Es kommen aber auch Erkrankungen des Nervensystems sowie erbliche Stoffwechselerkrankungen infrage. Auch traumatische Erlebnisse können ein Kind ausbremsen, ebenso ein zu kleines Angebot an Reizen und Erfahrungen oder eine gestörte Beziehung zwischen Eltern und Kind. Bei drei Vierteln aller Fälle aber kann gar keine Ursache gefunden werden. Die kindliche Entwicklung ist so komplex – so die Erklärung von Experten – dass hier einfach zu viele ungeklärte Mechanismen ruhen.
Bei Verdacht ist Teamwork gefragt
Um Störungen frühzeitig zu erkennen, ist es wichtig, dass Eltern die U-Untersuchungen wahrnehmen und Auffälliges mit dem Kinderarzt besprechen. Bei Verdacht auf eine verlangsamte Entwicklung oder eine seelische Störung sind Kinderärzte, Psychologen, Kinderpsychiater, Ergo- oder Physiotherapeuten, Logopäden und Heilpädagogen gefragt. Besonders bei einer Entwicklungsverzögerung sollten gleich alle Bereiche der Entwicklung des Kindes (Motorik, Wahrnehmung, Sprache, kognitive Eigenschaften) genau geprüft werden. Besonders gut funktioniert diese Abklärung quer durch die Disziplinen in sogenannten Frühförderzentren oder sozialpädiatrischen Zentren. Hierhin kann der Kinderarzt überweisen.
*Alle Namen geändert