Spiel mit Tücken: Sprachtests im Kindergarten
In immer mehr Bundesländern finden flächendeckende Sprachstandsfeststellungen an Kindergartenkindern statt. Unsere Autorin, deren Tochter (3) am Test teilnehmen musste, berichtet von ihren Erfahrungen.
Allein in Nordrhein Westfalen 180.000 Kinder getestet
Um Sprachdefizite bereits rechtzeitig vor der Einschulung zu erfassen und auszugleichen, finden unter anderem in Nordrhein-Westfalen flächendeckende Sprachstandsfeststellungen an Kindergartenkindern statt. Unsere Autorin, deren dreieinhalbjährige Tochter am Test teilnehmen musste, berichtet über ihre Erfahrungen mit den unerwarteten Fallstricken des Verfahrens.
Ein Schreiben vom Schulamt? Wie aufregend! Zumal meine Tochter Emilia mit ihren dreieinhalb Jahren noch lange nicht schulreif ist. Der Brief enthält eine Einladung zur „Sprachstandsfeststellung“ in Emilias Kindergarten. Außer mir haben noch etwa 180.000 Mütter und Väter, die in NRW wohnen und deren Kind in zwei Jahren in die Schule kommt, diesen Brief erhalten.
"Eine gute Sache", denke ich mir, "da wird früh genug gefördert, wo Bedarf besteht“. Immerhin hat in Deutschland jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund. Ein großer Teil dieser Kinder spricht zum Zeitpunkt der Einschulung nicht gut genug Deutsch. Ohne genügende Sprachkenntnisse aber sind die Kinder schon bei der Einschulung im Nachteil, der Erfolg in der Schule bleibt aus. Die Kinder können sich schlecht mit ihren Mitschülern verständigen und werden zu Außenseitern. Auch nach der Schule haben sie es schwerer bei der Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Diese Kinder und natürlich auch die Muttersprachler mit sprachlichen Defiziten möchte man nun schon früher erfassen und rechtzeitig fördern - nicht erst kurz vor der Einschulung. Darin sind sich die Politiker bundesweit einig. Seit einiger Zeit haben alle Bundesländer das Thema Sprachförderung ganz oben auf ihrer Agenda und arbeiten an der besten Lösung des Problems. In Hessen beispielsweise bemüht sich das Gesundheitsministerium, in NRW hat sich das Schulministerium der Sache angenommen und ist nun Vorreiter bei der „verbindlichen und flächendeckenden“ Sprachstandserhebung.
Kritik an Teststress schon für Vierjährige
Vielleicht ist es gerade dieses Amtsdeutsch, das Eltern und Pädagogen im Kindergarten aufhorchen lässt. Denn, wie ich einige Tage später bemerke, kann man die Einladung des Schulamtes auch viel kritischer als ich auffassen. Bei einer Informationsveranstaltung in Emilias Waldorfkindergarten sind viele Eltern skeptisch. Die Leiterin Irene Stöber erklärt, dass sogar darüber nachgedacht wurde, ob man sich als freier Träger weigert, an der Sprachstandserhebung im Rahmen von „Delfin 4“- das steht für Diagnostik, Elternarbeit und Förderung der Sprachkompetenz 4-Jähriger in NRW - überhaupt teilzunehmen.
Sie hält es für bedenklich, dass Kinder nun auch schon im Kindergarten einer Testsituation ausgesetzt würden. „Was tut man Kindern in dem jungen Alter damit an?“ Der Test sei zwar als Spiel (Besuch im Zoo) verkleidet, sie sehe aber keinen Spielwert: „Was soll daran Spaß machen?“ Sie hält auch das Thema Zoo nicht geeignet für bestimmte Bevölkerungsgruppen: “Waren wirklich alle 3-4jährigen schon einmal im Zoo?“Außerdem wussten bis kurz vor dem Test weder Kindergärten noch die Lehrer, die zur Bewertung in die Einrichtungen geschickt wurden, wie Delfin 4 überhaupt ablaufen soll.
Nach der Veranstaltung denke ich, dass da wohl ziemlich geschludert wurde im Ministerium und beim Schulamt. Trotz der offensichtlich schlechten Kommunikation und Organisation finde ich es aber trotzdem besser, das Projekt nicht ganz perfekt noch in diesem Jahr zu beginnen, als bestens vorbereitet erst im nächsten Jahr zu starten. Immerhin geht es laut Lilian Fried um etwa 27000 bis 54000 Kinder, die dringend sprachliche Förderung benötigen. Sie muss es wissen, denn sie ist Professorin für die Pädagogik der frühen Kindheit an der Uni Dortmund und Entwicklerin des Tests “Delfin 4“.
'So einen Blödsinn spreche ich nicht nach'
Zu Hause angekommen, bin ich neugierig geworden und schaue mir doch einmal das Video an, in dem der Test gezeigt wird. Ich sehe vier Kindergartenkinder, die gemeinsam mit ihrer Erzieherin ein Brettspiel mit dem Namen „Besuch im Zoo“. spielen. Die Kinder müssen im Verlauf des Spiels sinnentleerte „Quatschsätze“ und Kunstwörter nachsprechen, sie müssen Tiere an eine bestimmte Stelle setzen und zuletzt frei erzählen, was sie auf den Bildern sehen. Dabei werden sie von einer weiteren Pädagogin beobachtet, die sich Notizen auf ihrem Bewertungsbogen macht. „Na also, das ist doch ein harmloses Spiel, vielleicht wirklich nicht besonders lustig, aber daran werden unsere Kinder sicherlich keinen Schaden nehmen“, denke ich.
Dann ist der Tag im März gekommen – Emilia und drei andere Mädchen aus ihrer Gruppe spielen das Zoospiel mit ihrer Erzieherin Michaela Flamang. Beim Abholen am Mittag frage ich die Kindergärtnerin eher beiläufig, ob alles glatt gegangen sei. Und dann die unerwartete Antwort: „Emilia hat den Mund nicht aufgemacht. Solange der Lehrer nicht dabei war, hat sie geplappert wie ein Wasserfall und sobald er im Raum war – nichts mehr. Sie muss zum zweiten Screening.“
Was, meine Emilia, bei der ich mich manchmal insgeheim frage, ob sie vielleicht auch mal die Klappe halten kann und die mich gerade an diesem Morgen wieder damit überrascht hat wie sie aus einer tückischen würde-hätte-Konjunktiv- Konstruktion grammatikalisch richtig wieder herausgefunden hat? Frau Flamang erzählt weiter: „Die anderen drei übrigens auch. Tina meinte bei dem Satz „Die schlafende Couch trinkt den Tisch“: “So einen Blödsinn spreche ich nicht nach“ damit ist sie auch durchgefallen.“ Und Anke, die Mama der Zwillinge erzählt: „Malte hat Finn geholfen, aber selber nichts gesagt. Nun muss Malte zum zweiten Test.“ Nicoles Felix war zu schüchtern und auf Clemens Zettel steht: „Eine Beurteilung konnte nicht stattfinden, da die Aufgaben nicht in ausreichendem Maß gestellt wurden.“
Huch, das scheint ja doch nicht so leicht zu laufen wie auf dem Video. Auch aus anderen Kindergärten wird mir von schüchternen Kindern erzählt, die lieber mal nichts gesagt haben ob der merkwürdigen Situation.
Von Lehrern ist zu hören, dass sie sich komisch fühlten, weil sie den Erzieherinnen vorgesetzt werden, die doch die Kinder viel besser kennen. Die Erzieherinnen fühlen sich komisch, weil auch sie sich geprüft fühlen. Die Kinder schließlich fühlen sich komisch, weil sie die Unsicherheiten der Erwachsenen spüren und merken, dass es eben nicht nur ein Spiel ist.
Führt das zu aussagekräftigen Ergebnissen?
Wenn man von all diesen Erfahrungen hört, klingt das eher nach einer Durchfallquote von 70 Prozent als nach der von Prof Fried erwarteten von 15 bis 30 Prozent. Wie viel Zeit und Aufwand kostet es wohl, so viele Kinder noch mal einzeln zu prüfen und diesmal nicht nur 25, sondern 35 Minuten lang? Außerdem frage ich mich, ob der zweite Test unsere Kleinen redseliger werden lässt. Zumal die nächste Stufe nicht im eigenen Kindergarten, sondern in einem fremden Gebäude, der nächstgelegenen Grundschule, stattfindet. Wenn die Kinder stumm bleiben oder weiter revoltieren, dann wird die Sprachförderung von zum Teil nicht förderungsbedürftigen Kindern eine teure Angelegenheit für das Land und damit den Steuerzahler. 350 Euro bekommt der Kindergarten zur Förderung des Kindes pro Jahr für jedes Kind, das auch beim zweiten Screening „auffällt“
Aber von Freunden aus anderen Kindergärten höre ich, dass die Erhebung problemlos über die Bühne gegangen ist. Dort konnten sich die Erzieherinnen schon vorab mit dem Spiel und die Kinder mit dem Lehrer vertraut machen. Außerdem haben die Lehrer sich bei schweigsamen Kindern etwas mehr auf das Urteil der Erzieherinnen verlassen, wenn diese sagten, das Kind würde normalerweise gut sprechen. Inwieweit die Lehrer trotz auszufüllendem Formular Handlungsspielraum haben, ist nicht klar formuliert.
Es scheint also – logischerweise - in den Kindergärten besser gelaufen zu sein, in denen die Kinder sich wohl gefühlt haben, die Lehrer flexibel auftraten und Erzieher und Lehrer vertraut miteinander umgingen. Frau Stöbers Frage liegt daher nahe: „Warum kann nicht die gesamte Sprachförderung ohne Testverfahren und fremde Personen ganz in die Hand des Kindergartens gelegt werden?“
Wichtig wäre eine wirklich entspannte Atmosphäre
Prof Fried hält davon wenig. Sie ist überzeugt, dass nur mit Hilfe des Tests genau analysiert werden kann, ob das Kind sprachlich weit genug ist. Beispielsweise können Kinder die so genannten Quatschsätze nur dann behalten, „wenn sie schon in der Lage sind, die dahinter stehende grammatische Struktur zu erfassen. Insofern zeigen diese Sätze quasi in "Reinform", wo ein Kind in Bezug auf diese Sprachfähigkeit gerade steht“, erklärt die Professorin.
Deshalb mein Vorschlag: Um ein von Schüchternheit und persönlichen Animositäten befreites Ergebnis und trotzdem die Eindeutigkeit eine standardisierten wissenschaftlichen Tests zu erhalten, müssten die Grundschullehrer eher eine ganze Woche im Kindergarten hospitieren. Anschließend könnte man in einer entspannten Atmosphäre den „Besuch im Zoo“ zusammen spielen. Das Ergebnis könnten die Lehrer dann noch mit ihrer eigenen Erfahrung abgleichen. Die Sprachstandserhebung wäre dann zwar noch aufwendiger und damit teurer, aber das würde sich lohnen, wenn dafür die Sprachförderungsgelder auch wirklich nur in die Kinder investiert würden, bei denen es von Nöten ist.
Fest steht, dass in diesem Jahr bisher so einiges schief gelaufen ist. Aber das Projekt steckt eben noch in den Kinderschuhen.
„Delfin 4 - Phase 1“ wird derzeit ausgewertet, ab Mai geht’s dann in die zweite Runde. Wenigstens dürfen die Eltern diesmal mit dabei sein – solange sie dem Kind nicht helfen. Ich bin sehr gespannt, Emilia hingegen findet: „Wenn wir nicht zu dem Spiel in der Schule gehen, könnten wir Anton abholen und zusammen ein Eis essen gehen“. Höchste Zeit für die Sprachförderung, oder?!
Anmerkung der Redaktion: Nach der Auswertung von "Delfin 4 - Phase 1" steht inzwischen fest, dass 43 Prozent (62.000) der beteiligten Kinder - und damit viel mehr als von der Landesregierung erwartet - in die zweite Prüfungsrunde müssen. Dazu kommen 33.000 Kinder, die keinen Kindergarten besuchen und daher direkt zur Testphase 2 eingeladen werden. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und die Erziehungsgewerkschaft GEW bekräftigten anhand dieses Ergebnisses ihre Kritik am Testverfahren.
Quellen und Links zum Thema
Infos über das Sprachstandsfeststellungsverfahren gibt es auf den Seiten des
Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen:
Hier klicken!
Außerdem beim Schulministerium NRW unter Einschulung
Webkontakt von Frau Prof. Dr. Lilian Fried
Kritische Stimmen der Waldorfkindergärten