Gemeinsam in der Schule

Inklusion - lernen unter einem Dach

Möglichst alle Kinder mit Behinderung sollen künftig eine Regelschule besuchen. Bisher ist es erst etwa jedes vierte. Was muss Schule können, damit die Inklusion gelingt?

Autor: Gabriele Möller

Die Idee: Keiner bleibt außen vor

Lehrer Schule Inklusion
Foto: © Fotolia.com/ Christian Schwier

Inklusion heißt: mit einschließen. Gemeint ist, dass auch Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf", wie es im Amtsdeutsch heißt, an regulären Grund- und weiterführenden Schulen lernen dürfen. Es geht um knapp eine halbe Million Kinder in Deutschland. Darunter sind solche mit Behinderungen, aber auch mit ADHS, Autismus, Lernschwierigkeiten sowie anderen Besonderheiten der körperlichen, sprachlichen oder emotionalen Entwicklung. Viele Experten wünschen sich, dass ein Großteil der knapp drei Milliarden Euro, die Deutschland pro Jahr für separate Förderschulen ausgibt, künftig in die Inklusion gesteckt wird. Der Weg zur Inklusion ist dabei unumkehrbar, denn im Jahr 2009 haben alle deutschen Bundesländer die Behindertenrechtskonvention der UN unterzeichnet. Darin verpflichten sie sich, Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zum allgemeinen Schulsystem zu verschaffen.

Umsetzung klappt nur holprig

Zwar lernen laut der Kultusministerkonferenz schon etwa 25 Prozent der behinderten Kinder an Regelschulen. Doch gibt es bei den Bundesländern große Unterschiede: Während in Bremen und Schleswig-Holstein schon mehr als die Hälfte dieser Schüler eine Regelschule besuchen, sind es in Niedersachsen nur 11 Prozent. Auch ist der Rechtsanspruch auf Inklusion noch nicht in allen Ländern gesetzlich verankert. Woran der holprige Start liegt, ist schnell gesagt: Es mangelt an Personal, Ausbildung und Geld. Lehrer und Wissenschaftler fordern zum Beispiel, dass in den I-Klassen (Inklusionsklassen) immer mindestens zwei Lehrer anwesend sind. Aber kein Bundesland kann (oder will) das bezahlen. So gibt es meistens nur für wenige Stunden in der Woche eine zweite Lehrkraft. Viele Lehrer fühlen sich hier allein gelassen. 

Lehrer sind hin- und hergerissen

"Ich komme jeden Tag aus der Schule heraus und habe das Gefühl, keinem Kind gerecht geworden zu sein", klagt Lehrerin Friederike Struss aus Köln. "Für unsere beiden Förderkinder bekomme ich nur für sieben Wochenstunden einen Sonderschulkollegen an die Seite gestellt. Also stehe ich in vielen Stunden allein vor der Klasse, und die Zerrissenheit beginnt: Kümmere ich mich vorrangig um die beiden Förderschüler, die eigentlich Hilfe rund um die Uhr brauchen? Um andere Schüler, die zwar keinen Förderbedarf, aber auch Probleme haben? Oder um die Leistungsstarken?", so die Lehrerin in einer Rundfunksendung. Sie sei eine Unterstützerin der Inklusion, aber die Umsetzung sei zu schnell und konzeptlos vor sich gegangen. Sie selbst sei in nur zwei Mal vier Stunden Fortbildung "vorbereitet" worden. Und damit steht sie nicht allein: Viele Lehrer werden kaum auf die Förderkinder vorbereitet. 

Eltern wünschen sich ihr Kind in erfahrenen Händen

Auch die Eltern der Förderkinder hatten sich das mit der Inklusion oft anders vorgestellt. Obwohl schon vor Monaten geplant, sei wegen Krankheit, Ferien und Vorbereitungswochen bisher noch gar keiner der Lehrer an der Grundschule ihres Sohnes zur Fortbildung gewesen, berichtet die Mutter eines autistischen Kindes in einem Onlineforum anonym. Weil die Lehrerin nicht geschult sei, könne sie mit den besonderen Fähigkeiten, aber auch Nöten des Jungen nicht adäquat umgehen: "Gestern musste ich meinen Sohn abholen, weil er sich vor Aufregung mehrmals übergeben hatte. Er sollte vor gleich zwei versammelten Klassen einen Aufsatz auswendig wiedergeben - als 'Anschauung', um den anderen Kindern mal zu zeigen, wie schnell man etwas auswendig lernen kann", erzählt sie kopfschüttelnd. [Manche autistischen Kinder haben eine ungewöhnliche Begabung beim Auswendiglernen, Anm. d. Red.].

Barrierefreie Schule - noch nicht selbstverständlich

Außerdem sind viele Schulen noch nicht rollstuhlgeeignet, besitzen keine Rampen oder Aufzüge für gehbehinderte Kinder. An diesen Schulen wird die Aufnahme von Kindern mit Behinderungen mit Hinweis auf die fehlende Ausstattung oft abgelehnt. Doch auch innere Barrieren müssen abgebaut werden: Fachleute wie Prof. Gerald Hüther betonen, dass noch nicht an allen Schulen ein Klima herrscht, in dem Kinder, die anders oder schwächer sind, sich aufgehoben und nicht ausgeschlossen fühlen.

Nicht für alle Kinder gleich gut geeignet

Auch am Konzept selbst gibt es Zweifel. Einige Experten verweisen darauf, dass nicht alle Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in einen Topf geworfen werden könnten, dazu seien ihre Einschränkungen oder Behinderungen zu unterschiedlich. Viele sind hier der Ansicht, dass vor allem Kinder mit nur leichten Lernschwierigkeiten von der Inklusion profitieren. Nicht im Sinne der Erfinder ist aber auch, dass die Zahl der Kinder an Sonderschulen bisher durch die Inklusion nicht gesunken ist. Ursache: Es wird häufiger als früher ein erhöhter Förderbedarf attestiert, die Zahl betroffener Kinder steigt also. Es wird daher vermutlich auch langfristig noch separate Förderschulen geben.

Gemeinsames Lernen kommt allen zugute

Aber ist die Inklusion dann wirklich eine gute Idee? Viele Fachleute sagen eindeutig: Ja! Sie betonen, dass die Vorteile des gemeinsamen Lernens überwiegen. So wirkte es sich bei Untersuchungen nachweislich auf die Intelligenz, das Lernen und die Entwicklung aus, wenn behinderte Kinder Kontakte nicht nur zu Förderkindern hatten. Der Hirnforscher Prof. Gerald Hüther erklärt: "Wir Menschen machen als Kinder unsere wichtigsten Erfahrungen mit anderen Menschen. Daher ist es günstig, wenn Kindern Gelegenheit geboten wird, mit Menschen in Beziehung zu treten, die anders sind als sie selbst, die unterschiedliche Begabungen besitzen, manches besser, anderes schlechter können." Und das heißt, dass auch für die Kinder ohne Förderbedarf der gemeinsame Unterricht Vorteile bietet. Sie trainieren aber nicht nur ein gutes Sozialverhalten und mehr Toleranz. Sondern sie profitieren nebenbei auch von den kleinen Klassen und der individuellen Förderung an inklusiven Schulen. 

Die Erfolge der Förderkinder beim Lernen und in der Entwicklung wiederum stärken deren Selbstwertgefühl, das bei integrierten Kindern laut einer Untersuchung besser ist als das von Sonderschulbesuchern. Sie machen denn nicht zufällig auch öfter einen Schulabschluss sowie eine Ausbildung. Eine Studie in Berlin zeigte 2005: zwei Drittel der förderbedürftigen Schüler in den Integrationsklassen erreichen einen Schulabschluss und bekommen einen Ausbildungsplatz. In den Förderschulen ist es nur jeweils die Hälfte. 

Mit viel Engagement kann Inklusion gelingen

Doch wie kann eine gelungene Inklusion aussehen? "Auch wir haben nur sehr wenig Vorbereitung auf die Kinder mit besonderen Bedürfnissen gehabt und mussten uns da erst mal einarbeiten", erzählt eine Lehrerin, die ihren Namen nicht nennen möchte. "Aber etliche unserer Stunden sind mit zwei Lehrern besetzt (davon ein Sonderpädagoge), so dass Differenzierungsstunden möglich sind. Die Sonderpädagogen arbeiten supergut, sie machen uns auch Vorschläge zur Verbesserung, was Sitzpläne, Arbeitsmethoden oder -material angeht." Was I-Kindern sehr helfe, sei zum Beispiel eine starke, übersichtliche Strukturierung. "Ich schreibe jeden Tag den Tagesablauf an die Tafel. Es gibt für jedes Fach eine Farbe, und die taucht auf der Tafel sowie bei den Mappen und auch Materialien auf." Es gebe außerdem auch zusätzliche Ausrüstung wie Kopfhörer, damit Kinder mit Konzentrationsproblemen sich zeitweilig von Umgebungsgeräuschen befreien könnten. Außerdem seien die Sonderpädagogen mit den Eltern der Kinder in engem Gesprächskontakt.

Auch eine Revolution braucht Zeit

Langfristig keine oder kaum noch Förderschulen zu brauchen - das kommt einer Revolution des Schulsystems gleich. Doch die braucht Zeit. Experten empfehlen: Anstatt die Inklusion an möglichst vielen Schulen, aber mit zu wenig Geld und Personal einführen zu wollen, solle man es umgekehrt machen: "Die Schulbehörden sollten mit wenigen Schulen anfangen, die sie richtig gut ausstatten. Dann kann Inklusion Schritt für Schritt ausgebaut werden, ohne dass die Kinder ihrem Schicksal überlassen werden", schlägt Norbert Grewe vor, Psychologieprofessor an der Universität Hildesheim und Leiter der Beratungslehrerausbildung in Niedersachsen.

Auf dem Wunschzettel von Eltern und Lehrern stehen dabei vor allem kleine Klassen, möglichst viele Stunden, in denen ein weiterer (Sonder-)Pädagoge anwesend ist, sowie zusätzliche Förderstunden für betroffene Kinder. Außerdem ist ein umfangreiches Fortbildungsprogramm für Lehrer nötig, es muss aber auch Betreuer für Kinder geben, die nicht allein auf die Toilette gehen können. Last but not least brauchen I-Kinder ein Klima an ihrer Schule, bei dem sie keine Furcht vor Hänseleien oder Mobbing haben müssen.