Interview mit Wolfgang Bergmann

Förder-Wut und Förder-Wahn

Die Aufforderung, Kinder optimal zu fördern, erlebt in der Werbung und in Elternratgebern einen ungeheuren Boom. urbia sprach mit dem inzwischen verstorbenen, renommierten Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann über Sinn und Unsinn der aktuellen Förder-Begeisterung.

Autor: Petra Fleckenstein

Ein ungeheurer Vergleichswettbewerb

Kind Lehrerin Korrektur
Foto: © panthermedia.net/ Artur Gabrysiak

Das Wörtchen "Fördern" hat in der Werbung für Spielzeug, private Bildungseinrichtungen und in der Ratgeberliteratur eine rasante Verbreitung gefunden. Sein Kind "optimal zu fördern", es "punktgenau" zu unterstützen, seine Begabungen zu entwickeln scheint heute besonders bedeutsam geworden zu sein. Schon sprechen Experten wie z.B. der Schweizer Professor für Kinderheilkunde und Bestsellerautor Remo Largo ("Babyjahre") kritisch von einer "Förderwut". Der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther nannte in einem Stern-Interview den Förderboom eine "gigantische Hysterie", die dazu führe, dass "ohne Sinn und Verstand" gefördert würde. Auch Wolfgang Bergmann äußert sich in seinem Buch "Die Kunst der Elternliebe" kritisch zum Beispiel zu zweckgebundenem Lernspielzeug. Wir haben den renommierten Kinderpsychologen aus Hannover über Sinn und Unsinn der aktuellen Förderbegeisterung befragt.

Der Begriff Fördern hat zum Beispiel in der Werbung für Spielzeug eine geradezu inflationäre Verbreitung gefunden. Woran liegt das?

Wolfgang Bergmann: Im Marketing wurde schon vor 10 bis 15 Jahren versucht, ein Produkt mit dem Hinweis, dies und das sei "lernfördernd" interessant zu machen, aber in letzter Zeit gibt es tatsächlich einen enormen "Förder-Boom", Eltern springen unvergleichlich stark darauf an. Das liegt daran, dass sich Kinder heute bereits im Kindergarten oder noch früher in einem ungeheuren Vergleichswettbewerb und in einem Zustand permanenter Rivalisierung befinden. Da heißt es dann zum Beispiel, "Marga kann schon das B schreiben, warum kannst Du das nicht?" Dies radikalisiert sich dann später und in der Grundschule können Sie schon neun bis zehnjährige Kinder beobachten, die im Gespräch ununterbrochen miteinander rivalisieren und von dauernden Vergleichsängsten getrieben sind. Wenn Eltern sich heute so stark vom Fördergedanken angesprochen fühlen, steckt dahinter natürlich die Abstiegsangst der Eltern, die Angst, die Kinder könnten in unserer Leistungsgesellschaft nicht mithalten.

Eltern haben ihr Kind schon immer gefördert, was ist an der heutigen Förderwut anders?

Bergmann: Eltern sind heute narzistischer auf ihre Kinder bezogen und gleichzeitig sind Partnerschaften und Familien heute häufiger vom Auseinanderbrechen bedroht. Da wollen Eltern sich oft selbst durch ihre Kinder beweisen. Ihre Kinder sollen also durch ihre beeindruckenden Begabungen und Leistungen Zeugnis dafür ablegen, dass es sich hier um eine tolle, heile Familie handelt. Daher überwachen Eltern auch jeden Schritt ihres Kindes peinlich genau und greifen massiver ein, weil das Funktionieren der Kinder geradezu ein Aushängeschild für die Richtigkeit der Eltern darstellt.

Sie äußern sich in Ihrem Buch "Die Kunst der Elternliebe" kritisch zu einem pädagogischen Zweck unterworfenen Spielzeug. Warum?

Bergmann: Kennen Sie folgendes Experiment? Man hat für eine Studie zwei Gruppen Ratten beobachtet. Die einen wurden durch bestimmte Signale sozusagen trainiert, die andere Gruppe durfte sich ohne besonders Eingriffe einfach frei entwickeln. Dann hat man diese Tiere getötet und ihre Gehirne untersucht. Es stellte sich heraus, dass die Gehirne der nicht "trainierten" Ratten besser entwickelt waren als die der Vergleichsgruppe. Auf das pädagogische Spielzeug bezogen heißt das: Es bringt nichts, Kinder durch Lernspielzeug programmieren zu wollen. Die Dinge kennenlernen, sie erfassen und lernen, wie sie genannt werden, bedeutet weit mehr, als die richtigen Laute zu formulieren. Kinder müssen Zeit und Raum haben, um auf ihre Weise einen Gegenstand empfinden zu lernen, eine emotionale Beziehung zu ihm aufzubauen, ein Körpergefühl zu entwickeln und dies eingebunden in den dazugehörigen Sprachlaut. Versuche ich aber einfach, einem Kind einen Gegenstand zu zeigen, nur um ihm beizubringen, wie er genannt wird oder ihn nur auf seine Funktion zu reduzieren, dann beschneide ich die komplexe Entfaltung des Kindes, anstatt sie zu "fördern". Ein Beispiel ist das Würzburger Programm zur Sprachförderung. Da wird versucht, Kindern Sprache durch bewusstes Lautieren einzuhämmern. Diese Kinder können dann eine hochbewusste Sprache sprechen, aber das ist keine Gefühlssprache. Vielleicht hierzu noch ein schönes Beispiel. Ein Tennisspieler bittet den anderen, ihm einmal zu erklären, wie ihm immer diese tollen Aufschläge gelingen. Der sagt zunächst, keine Ahnung, ich haue einfach so drauf. Dann aber versucht er sich bewusst zu werden, wie er das macht: "Also ich hebe den Arm genau bis dahin, dann gehe ich etwa 20 cm in die Knie usw.". Und plötzlich gelingen sie ihm nicht mehr. Der Spieler hat nun den körperlichen Ablauf verstanden, aber das Gefühl dafür verloren.

Die Rede von den 'Zeitfenstern' setzt Eltern unter Druck

Heute ist oft die Rede von "Zeitfenstern", also den Zeiten, in denen bestimmte Fähigkeiten besonders leicht erworben werden können.

Bergmann: Zeitfenster sind nicht mehr als neurobiologische Spekulationen. Heute wird dieses entdeckt, morgen das, aber es bleibt doch die Tatsache: Nichts Genaues weiß man nicht. Also ich sage Eltern meist, nicht Perfektion ist es, was Kinder brauchen oder was sie im späteren Leben beliebt oder besonders erfolgreich macht. Sie brauchen nichts anderes als, dass die Eltern sie lieb haben, beschützen und ihnen eine gutes Vorbild sind. Das reicht. Einen Bereich eines Kindes schon früh ganz besonders zu fördern, nützt dem Kind nicht, im Gegenteil, es reduziert seine Vielseitigkeit. Und diese Reduzierung wird durch Förderung nicht ausgeglichen.

Haben Eltern heute ein notorisch schlechtes Gewissen?

Bergmann: Ja, vor allem Mütter haben das, aber vielleicht neigten sie auch immer schon eher dazu. Ihre Beziehung zu den Kindern, in besonderem Maße, wenn sie allein erziehend sind, ist von einer Dichte und Intensität, da kommt leichter dieses Gefühl auf, nichts versäumen zu dürfen. Und dann werden sie auch noch durch viele halbgare Informationen in den Medien verunsichert. Ich erzähle immer wieder, dass ich mit zweieindreiviertel Jahren noch kein Wort sprechen wollte und heute müssen Sie mich, wenn ich erst mal angefangen habe zu reden, fast gewaltsam bremsen. Also lässt man Kindern ihre Zeit und Ruhe, um sich im für sie richtigen Tempo (und jedes Kind ist da anders) zu entwickeln, finden sie ihre Mitte von selbst.

Ist diese permanente Betonung der Förderung vielleicht eher Ausdruck eines bestehenden Mangels? Also erhalten Kinder heute vielleicht in Wahrheit zu wenig Zuwendung und gute Anregungen?

Bergmann: Ja, die Fördermanie ist natürlich auch einfach die Folge einer umfassenden Verarmung gegenüber früher. Wir auf dem Land hatten damals eine so spannende, autonome Kindheit, die so viel Freiheit und Erlebnisspielraum ließ. Natürlich können wir dies unseren Kindern heute nicht mehr bieten, aber die Förderwut ist die falsche Antwort auf diesen Mangel.

Und wie sieht denn die richtige Antwort aus?

Bergmann: Nicht diese instrumentale Herangehensweise an das Leben und die Dinge, sondern: Gemeinsam Quatsch machen, Spaß haben, ohne Sinn und Zweck, lustige Spiele betreiben, ohne darüber nachzudenken, was mein Kind dabei lernt, und vor allem anderen: Mein Kind mit liebevollem und vertrauensvollem Blick betrachten und begleiten. Dann entsteht ein wohliges Selbst- und Körpergefühl und damit ein umfassendes Entwicklungspotential, das niemals durch Förderkurse oder -spielsachen zu erreichen ist.