Vererbung: Das hat es von mir!
„Dem Papa wie aus dem Gesicht geschnitten!“, stellen Großeltern beim ersten Blick aufs Baby häufig fest. Aber wie weit fällt der Apfel wirklich vom Stamm? Geben wir die Augenfarbe, unsere Kontaktfreude, den Spaß am Jazz - oder auch Allergien oder unsere Schüchternheit an unsere Kinder weiter?
Familienähnlichkeit ist Glückssache
Wer nach Familienähnlichkeiten sucht, wird meist schnell fündig. So geht es auch mir: Meine Kinder Elina (11) und Marius (5) sahen als Säuglinge aus, wie ich selbst auf meinen alten Babyfotos: mit grau-schwarzen Augen und einem verwuschelten, dunklen Schopf. Nils (12), der Sohn von Freunden, sieht seinem Vater so ähnlich, als sei er ohne Umweg über die Zeugung direkt von ihm geklont worden, eigentlich fehlt nur der Bart. Und da gibt es auch Andrea, eine ehemalige Mitstudentin, die mir einmal ein Foto zeigte, auf dem sie selbst zu sehen war – allerdings mit einer seltsam altmodischen Frisur. Es stellte sich heraus: Die Frau auf dem Foto war ihre Großmutter. Es gibt sie also zweifellos: Große Ähnlichkeiten zwischen den Generationen oder auch unter Geschwistern. Diese Ähnlichkeiten treten dabei manchmal nur in bestimmten Altersstufen auf und können auch wechseln.
Fremde können Kinder meist kaum den Eltern zuordnen
Doch sehr zuverlässig ist die Sache mit der ererbten Ähnlichkeit nicht. Denn Nils hat Geschwister, die ihren Eltern optisch kaum ähneln. Mein Sohn Marius ist, anders als der Rest der Familie, inzwischen dunkelblond und hat hellgraue Augen. Die Behauptung, die meisten Kinder seien Mutter oder Vater zumindest etwas ähnlich, ist tatsächlich nicht zu halten, wie auch die Psychologen Emily Hill und Nicolas Christenfeld von der Universität San Diego (USA) herausfanden. Sie hatten mehr als 100 Versuchspersonen Bilder von Kindern verschiedener Altersstufen (bis 1, 10, 20 Jahre) vorgelegt. Sie sollten jeweils aus drei angebotenen Bildern den Vater oder die Mutter herausfinden. Die Trefferquote lag im Bereich des Zufalls. Nur bei den Einjährigen lag die Sache anders: Bei ihnen konnten die Teilnehmer etwa der Hälfte der Fälle eine Ähnlichkeit erkennen – und zwar fast immer mit dem Vater. Die Forscher glaubten, dies liege daran, dass der Vater auf diese Weise sicher sein könne, wirklich der Erzeuger des Kindes zu sein.
Die Natur lässt Väter lieber im Unklaren
Diese These steht aber auf tönernen Füßen, weil nur in 50 Prozent der Fälle überhaupt Ähnlichkeiten mit dem Papa gefunden wurden. Außerdem sahen Testpersonen anderer Studien bei Babys keine Ähnlichkeit zu den Eltern, oder – wenn überhaupt - eher eine mit den Müttern (Universität Montpellier, Frankreich). Dies deuteten die Forscher genau umgekehrt wie ihre amerikanischen Kollegen: Die Natur wolle gar nicht, dass der Vater erkennen kann, ob das Kind vielleicht nicht von ihm selbst ist. Nur so sei sichergestellt, dass er auf jeden Fall „Aufwand und Pflegebereitschaft in dieses Kind investiert“. Unterstützt wird diese These durch weitere Untersuchungen, wonach Väter selbst eher eine Ähnlichkeit zwischen sich und ihrem Nachwuchs zu sehen glauben als Außenstehende. Hier scheint also der Wunsch im wahrsten Wortsinn der Vater des Gedankens zu sein.
Vererbung – ein nur teilweise gelöstes Rätsel
Auch Studien sind jedoch mit Vorsicht zu genießen: Die gezeigten, leblosen Fotos geben Dreidimensionalität und lebendige Mimik eines echten Gesichts nicht wieder. Der gesunde Menschenverstand zieht aus eigener Beobachtung und den Ergebnissen der Studien den Schluss: Deutliche Ähnlichkeiten innerhalb der Familie kommen vor, müssen aber nicht sein. Was man vorher nur sehen, aber kaum begründen konnte, dafür fand Mitte des 19. Jahrhunderts Johann Gregor Mendel erste Regeln: Er stellte fest, dass es überhaupt eine Vererbung von bestimmten Merkmalen auf die Nachkommen gibt, dass diese Merkmale voneinander unabhängig vererbt werden können und bei den Nachkommen nicht immer wirksam werden. Denn es gibt dominante (beherrschende) und rezessive (schwächere) Anlagen. Auch solche rezessiven Merkmale können aber manifest werden, wenn beide Eltern sie aufweisen.
Jedes Kind ist einzigartig
Heute wissen wir noch viel mehr: etwa 25.000 Gene besitzt jeder Mensch, das sogenannte Genom. Gene hocken als kleine Funktions-Abschnitte auf den Chromosomen, langen Ketten aus DNA (Desoxyribonucleinsäure), die mit Aminosäuren (Eiweiße) verbunden sind. Je 23 Chromosomen bekommt jeder Mensch von seinem Vater und von seiner Mutter mit. Bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gehen die Chromosomen dabei eine Allianz ein. Es kommt beim neuen, doppelten Chromosomensatz zu Überkreuzungen und Vertauschungen von Genen. Es sind zudem die Gene aller vorhergehenden Generationen, die zum Tragen kommen können. Dies alles bedeutet: Ein Kind ist niemals nur die Summe der Gene von Mutter und Vater, sondern mit jedem Kind entsteht etwas völlig Neues.
Vererbungslehre beim Menschen – wie wird unser Kind aussehen?
Das Genom des Menschen wurde zwar in den letzten Jahren „entschlüsselt“. Diese optimistische Vokabel bedeutet jedoch keineswegs, dass man nun schon weitgehend wüsste, welche Gene für welche Merkmale zuständig sind. Gemeint ist lediglich, dass die Reihenfolge der Aminosäureverbindungen entlang der DNA auf den Chromosomen bekannt ist. Kann man aber dennoch schon ein wenig voraussagen, welches Aussehen oder welche Begabung das eigene Kind haben wird? Ein paar Hinweise dazu gibt es durchaus:
Augenfarbe – Braun häufig dominant
Die Augenfarbe wird durch mehrere Gene bestimmt. Die frühere Annahme, dass Braun über die helleren Farben dominiert, hat sich als falsch herausgestellt. Der Mechanismus ist komplizierter. Trotzdem setzt Braun sich nicht selten gegenüber helleren Farben durch, es dominiert oft vor Grün und Blau, das am schwächsten ist.
Haarfarbe – Rot, Braun und Schwarz haben mehr Gen-Power
Allgemein gilt zwar, dass die dunklere (oder auch die rote) Haarfarbe dominant vererbt wird und sich gegenüber der rezessiven helleren Haarfarbe durchsetzt. Doch das stimmt nicht immer, da auch hier gleich mehrere Gene für verschiedene Pigmentvarianten zuständig sind. Dunkles oder rötliches Haar hat aber eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich durchzusetzen. Übrigens: Die Neigung zur späteren männlichen Glatze wird nicht vom eigenen Vater, sondern vom Großvater mütterlicherseits vererbt.
Körpergröße – Gene bestimmen Obergrenze
Wie groß das eigene Kind eines Tage sein wird, dafür gibt es eine Faustformel: Die Größen beider Eltern werden addiert, dann halbiert. Danach werden für Jungen noch sechs Zentimeter hinzugefügt und für Mädchen sechs Zentimeter abgezogen. Die tatsächlich erreichte Größe kann jedoch bis zu 8,5 Zentimeter von diesem Rechenwert abweichen. Sie hängt zusätzlich von der Qualität der Ernährung ab, vor allem der reichlichen Zufuhr von Eiweiß. Die Gene der Eltern begrenzen aber die maximal erreichbare Größe.
Gutes Aussehen – Töchter oft im Vorteil
Forscher der schottischen Universität St. Andrews fanden heraus, dass die Söhne gut aussehender Väter sich keineswegs darauf verlassen können, einmal ähnlich attraktiv auszusehen. Ihre Schwestern hingegen schon eher, denn es gilt: Schöne Väter bekommen gehäuft gut aussehende Töchter. Söhne hingegen bekommen von ihren Vätern meist nur die markanten Gesichtszüge vererbt. Die Schönheit der Mütter spielt offenbar ebenfalls vor allem bei Mädchen eine Rolle, bei Söhnen ist sie weniger wirksam.
Mimik: Wer sauer ist, ähnelt seinen Eltern mehr
Wenn Elina leicht angesäuert ist, bekommt sie diesen ganz speziellen Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Konsterniertheit und Skepsis. Genauso schaut ihr Vater in der gleichen Gefühlslage auch. Dass die ganz individuelle Mimik eines Kindes zu einem großen Teil vererbt (und nicht etwa abgeguckt) wird, fanden Forscher der israelischen Universität Haifa heraus. Sie verglichen die Mimik Blinder mit derjenigen ihrer Angehörigen und mit der von Fremden. Sie hatte deutlich mehr Gemeinsamkeiten mit denen ihrer Familien. Besonders gut wurde diese Ähnlichkeit bei den negativen Gefühlen sichtbar, für die komplexere Gesichtsbewegungen nötig sind.
Gewicht – Gene sind kein Schicksal
Wie groß die „Schuld“ der Gene am Übergewicht vieler Kinder ist, ist unklar. Die Schätzungen reichen von 30 bis 70 Prozent. Dass äußere Einflüsse hier aber wichtiger sind als die Veranlagung, zeigt der große Anstieg zu dicker Kinder in den Industrienationen. Denn dieser verlief parallel zu einer Veränderung des Lebensstils: Kinder essen zu oft und zu viel, sitzen zu lange vor dem Bildschirm, bewegen sich zu wenig. Selbst wenn ein Kind eine Veranlagung zu vielen Kilos hat, kann es schlank bleiben, wenn es gesund isst und sich genug bewegt.
Persönlichkeit – nur zum Teil eine Frage der Gene
Viele Kinder sehen ihren Eltern äußerlich nicht ähnlich, haben aber ein ähnliches Temperament, sind vielleicht genauso optimistisch oder auch so zurückhaltend wie ein Elternteil. Wie das eigene Kind sich hier entwickeln wird, ist aber schwer vorherzusagen: Je komplexer die Eigenschaft, um deren Vererbung es geht, desto unbestimmter sind die Antworten der Wissenschaftler. Es ist in Sachen Charakter und Persönlichkeit heute noch oft unklar, welche Gene zusammenwirken. "Es gibt hier kein bestimmtes Gen für irgend etwas", betont der amerikanische Molekularbiologe Dean Hamer. Die Gene erhöhten lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Träger eine bestimmte Eigenschaft ausbilde.
Gene bieten dabei eine Art Bauplan für die Persönlichkeit. Wie sich ein Kind innerhalb dieser Eckpunkte entwickelt, hängt von Umweltfaktoren, wie Erziehung, Ausbildung, sozialem Umfeld oder Erfahrungen ab. Etwa „halbe-halbe“ machen Gene und Umwelteinflüsse, wenn es um die Individualität eines Menschen geht, darin sind sich die meisten Genetiker einig. Die Anlage zu Gelassenheit, fröhlicher Grundstimmung, aber auch zu Ängstlichkeit oder Schüchternheit spielt also eine Rolle, doch äußere Einflüsse (und auch die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit) können solche Anlagen verstärken oder nur schwach zum Tragen kommen lassen.
Intelligenz schlummert als Möglichkeit in den Genen
Dasselbe gilt auch für bestimmte Talente. Ein Kind, das ohne musikalische Begabung auf die Welt kommt, wird sich zwar nicht zu einem großen Solisten entwickeln. Umgekehrt nützt auch die größte musikalische Begabung nur etwas, wenn sie frühzeitig erkannt und ausgelebt wird. Der berühmte Pianist Arthur Rubinstein sagte: „Erfolg hat immer das gleiche Prinzip: Fleiß, Ausdauer, Begabung und Glück.“ Dies gilt auch in anderen Bereichen künstlerischer, technischer und intellektueller Fähigkeiten – und auch bei bestimmten Schwächen, wie zum Beispiel der Legasthenie oder dem ADHS. Zwar kann eine Anlage zur Lese-Rechtschreib-Schwäche vererbt werden. Auch ein solches Kind aber kann aber – zum Beispiel durch frühes, häufiges Vorlesen der Eltern - ein Bücherwurm werden und mit Förderung passable Deutschnoten erreichen. Bei etwa 50 Prozent der ADHS-Kinder gibt es zwar eine genetisch bedingte Besonderheit der Signalverarbeitung im Gehirn. Vor kurzem wurde überdies eine Art „Draufgänger-Gen“ (D4DR) gefunden, das auch bei Hyperaktivität eine Rolle spielen soll. Dies heißt aber nicht, so Forscher, dass die Schwäche auch wirklich auftritt. Manchmal können günstige Faktoren (ausreichende Bewegung, wenig Bildschirmkonsum, ein günstiges Familienklima) hier vorbeugen.
Ob mit oder ohne besondere Talente – wie sieht es mit der Klugheit generell aus? Je nach Studie unterscheiden sich die Schätzungen, wie wichtig der Einfluss der Gene auf die Intelligenz eines Kindes ist. Bis zu 70 Prozent glauben die Zwillingsforscher (die getrennt aufgewachsene, eineiige Zwillinge verglichen), andere gehen von etwa 50 Prozent aus, manche sogar nur von 40 Prozent. Unstrittig ist aber, dass die Familie und das Umfeld des Kindes einen erheblichen Anteil an der Klugheit haben (das gilt sogar bei der Hochbegabung). Eine Studie an Adoptivkindern ergab, dass Kinder, die in der neuen Familie wenig Interesse und Lernangebote bekamen, durchschnittlich weniger intelligent sind als adoptierte Kinder, die in einer Familie aufwuchsen, die das Lernen durch vielfältige Angebote und Aufmerksamkeit begünstigte.
Schaltergene - Auch die Lebensweise wird vererbt
Bis vor kurzem dachten Wissenschaftler, dass äußere Einflüsse keine Auswirkungen auf die Gene eines Menschen haben. Heute gilt aber als sicher, dass sich unsere Lebensweise auch über die Gene auf unsere Nachkommen auswirkt. Denn manche Gene haben eine Art molekularen „Schalter“, der bei bestimmten äußeren Einflüssen umgelegt und in dieser Stellung weitervererbt wird. Zuviel Alkohol oder Nikotin, Bewegungsmangel oder eine schlechte Ernährung können bestimmte „Schutzgene“ mit positiver Wirkung auf das Immunsystem abschalten. Ungünstige Gene dagegen, die zum Beispiel die Entstehung von Krebs begünstigen, können aktiviert werden. Das schadet nicht nur uns selbst, sondern auch noch unseren Kindern und Kindeskindern. Ähnliches vermuten die Wissenschaftler auch in Bezug auf die Erfahrungen und Emotionen, die in unserem Leben vorherrschen. „Soziale und psychische Faktoren verändern uns, und diese Veränderungen geben wir auch an die nächste Generation weiter“, so Prof. Peter Nawroth von der Uniklinik Heidelberg.
"Du bist wie dein Vater!" – riskante Programmierungen
„Das hat er von mir“, erklärt der Ingenieur in meinem Mann gern, wenn unser Sohn ein besonders kompliziertes Raumschiff aus Lego konstruiert hat. Und ich blicke gelegentlich nicht ganz ohne Erzeugerinnenstolz auf meine Tochter, die ihre guten Noten in Englisch doch bestimmt irgendeinem von mir vererbten Gen für Sprachbegabung zu verdanken hat. Manchmal kommt es zwar sicher vor, dass ein Kind eine bestimmte Stärke geerbt hat. Trotzdem sollten wir Eltern bei solchen Aussagen vorsichtig sein. Denn wie heikel sie sind, wird schnell klar, sobald wir an unserem Kind Seiten entdecken, die wir an uns selbst nicht sonderlich mögen (oder Eigenschaften, die unsere eigenen Eltern an uns als Kind nicht gemocht haben). Problematisch wird es auch, wenn ein Kind uns an einen Menschen erinnert, der bei uns ungute Gefühle auslöst: Wenn zum Beispiel der momentan zur Trägheit neigende Sohn die alleinerziehende Mutter allzu sehr an ihren geschiedenen Mann gemahnt, der sich oft nur schwer zu etwas aufraffen konnte. Schnell fällt dann ein böser Satz, wie: „Du bist schon genauso faul wie dein Vater!“
Solche Schubladen aber sind gefährlich. Sie missachten, dass sich Kinder ständig verändern und Vieles eben nicht von den Genen diktiert wird. Die Persönlichkeit sei die ganze Kindheit und Jugendzeit hindurch in Bewegung, betont auch der Berliner Psychologe und Persönlichkeitsforscher Jens Asendorp, erst danach verfestige sie sich langsam. Einem kleinen Menschen eine Eigenschaft zuzuweisen, kann dazu führen, dass wir ihm weniger unvoreingenommen begegnen – und er schließlich selbst glaubt, was wir sagen. Solche Programmierungen aber schränken die Entwicklungsmöglichkeiten ein und belasten. Der Verhaltensgenetiker Robert Plomin empfiehlt: Eltern sollten sich eher als „Manager der Ressourcen“ ihres Nachwuchses fühlen. Wir sollten also unser Kind dort abholen, wo es gerade steht, seine Schwächen nicht betonen (und sie gelassen sehen), seine Stärken fördern.